Willkommen in der DDR

im Jahre 34 der Annexion durch die BRD

Rede von Egon Krenz zum 70. Jahrestag der DDR

Nicht das DDR-Erbe, sondern Nazis und Neonazis sind eine Gefahr für Deutschland

Liebe Freunde,

lieber Vertreter der Botschaft der Russischen Föderation,
über Ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung freue ich mich besonders. Vierzig Jahre DDR wären ohne die Sowjetunion undenkbar gewesen. Übermitteln Sie bitte Präsident Putin, dass die heute hier Versammelten und mit ihnen Millionen Ostdeutsche nie vergessen, dass 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben auch für unsere Freiheit und die Freiheit Europas vom Faschismus gegeben haben.

Liebe Anwesende,
es gibt ein wunderbares Kinderlied, das wohl jeden DDR-Bürger begleitete. Von frühester Kindheit bis zum Lebensende. Erinnert sei an jene Augenblicke, als der gut in der DDR integrierte Kanadier Perry Friedmann mit seinem Banjo auf der Bühne stand und leise anstimmte: „Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land“, und endete mit der Aufforderung: Kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück“.

Sie kam nicht mehr zurück, die Friedenstaube. Das Lied ward nur noch selten gesungen seit es die DDR nicht mehr gibt. Und sie mochte wohl auch nicht zurück kommen in ein deutsches Land, das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten.

In 40 DDR-Jahren hat nicht ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee wie jener der Bundeswehr in Afghanistan einen Befehl hätte geben können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150 Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr befördert wurde.

„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ Dieser Schwur von Buchenwald war das Fundament, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet wurde.

Niemand kann die Wahrheit aus der Welt schaffen: Die DDR ist in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Allein das rechtfertigt, sich ihrer mit größtem Respekt zu erinnern. Dazu haben wir uns hier und heute verabredet. Auch wenn Soldschreiber das verhindern wollten.

Wir - das sind sehr unterschiedliche Menschen, die sich ihr gelebtes Leben nicht von jenen erklären lassen möchten, die schon immer Schwierigkeiten mit der Wahrheit hatten oder die hier nie zu Hause waren – wir erinnern uns nicht als Nostalgiker, auch nicht als „Osttalgiker“, einem Modewort, das nur benutzt wird, um unsere Erinnerung und Besinnung an Werte der DDR zu denunzieren.

Wir sind auch keine Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass auch seit 1990 viel geleistet wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind wache Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR wirklich war und was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet.

Unter dem Strich war die DDR nach der Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war.

Zu ihrem Gründungsmotiv gehörte auch die deutsche Einheit. Es hätte die DDR nie gegeben, wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden wäre. „Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land“, hatte sich Bert Brecht gewünscht. Und Bechers Text „Deutschland, einig Vaterland“ war der beste Gegenentwurf zu „Deutschland, Deutschland über alles.“

Dass es damals nicht zu einem einheitlichen Deutschland kam, liegt nicht nur, aber wesentlich an der alten Bundesrepublik. Als ihr Grundgesetz vorbereitet wurde, verkündete einer seiner Väter, „alles deutsche Gebiet außerhalb der Bundesrepublik ist als Irredenta“[1], also als Gebiet unter Fremdherrschaft anzusehen, „deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben wäre." Und: Wer sich dem nicht unterwerfe, hieß es, sei „als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen"[2].

Das Szenario also für den Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen stammt schon aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all die Untaten, die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht haben konnte. Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR war und bleibt der Antikommunismus, den Thomas Mann schon im vergangenen Jahrhundert eine Grundtorheit genannt hatte.

Es war Konrad Adenauer, der erklärte: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.“[3]

Was hängte man der DDR nicht alles an? „Russenknechte“ waren wir, „Vollstrecker Stalins Willen in Deutschland“, auch „Zonenheinis“ nannte man uns. Für Adenauer begann an Elbe und Werra Sibirien. Soviel Unsinn ließ sich dann nicht mehr aufrecht erhalten, als die UNO beide deutsche Staaten als gleichberechtigt anerkannte und 134 Länder mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnahmen.

Da kam es dann schon einmal vor, dass beispielsweise der Vize-Chef der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, schwärmte: Ein Gespräch mit Honecker sei „angenehmer und konstruktiver als ein Gespräch mit der britischen Regierungschefin“.
Oder hochrangige bundesdeutsche Politiker aller Couleur ein Foto mit dem SED Generalsekretär als Hilfe für ihren Wahlkampf wünschten. Schließlich war es Helmut Kohl, der Honecker einen „zuverlässigen Partner“ nannte und sein Nachfolger Gerhard Schröder sich vom DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt zeigte. In dieser Zeit schloss man dann auch völkerrechtlich bindende Verträge und empfing 1987 gar das DDR Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen diplomatischen Ehren.

Doch dann1990: Man kehrte zurück zum irren Geschichtsbild der fünfziger Jahre, das nun immer noch gilt und die politische Atmosphäre vergiftet.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung wiederholte in seinem Regierungsbericht eigentlich nur, was seit 29 Jahren Standard ist:
An allem, was in der Bundesrepublik nicht funktioniert, ist die „marode“ DDR Schuld, die angeblich nur Verbrechen und Schulden in die Einheit mitgebracht hätte.

Dieser Mann war 1989 gerade einmal 13 Jahre alt. Dennoch erinnert er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das Pech gehabt hätten, „40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden“ zu haben. Dieses Nachplappern geistloser Stereotype aus den Jahren des kalten Krieges stimmt nun aber keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr vieler Bürger aus der DDR überein. Wenn inzwischen nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57 Prozent sich gar als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, müssten sich doch die Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen liegen.

Als Gregor Gysi noch DDR-Bürger war, hat er in jener schicksalhaften Nacht als in der damaligen Volkskammer der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik deklariert wurde, den Abgeordneten zugerufen: « Ich bedauere, dass die Beschlussfassung im Hauruckverfahren … geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR … war für jeden von uns – mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen – das bisherige Leben. So wie wir alle geworden sind, sind wie hier geworden, und ich bedauere, dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert ist.»

Dieser grundlegende Mangel macht sich bis heute bemerkbar.
Respekt will Angela Merkel laut ihrer Rede zum Einheitsjubiläum jenen entgegenbringen, die «Opfer des SED – Regimes» waren und die gegen das Regime gekämpft hätten. Soweit so gut, wenn es sich um tatsächliche und nicht vermeintliche Opfer handelt. Das bedeutet aber in der Praxis eine weitere Ausgrenzung von Millionen Bürgern, denen die DDR Herzenssache war und die sich für ihren Staat ein Leben lang engagierten.

Frau Merkel ist offensichtlich entgangen: DDR-Bürger hatten nicht nur die Trümmer des Zweiten Weltkrieges beseitigt, Städte und Dörfer wieder bewohnbar gemacht, wertvolle kulturhistorische Bauten wieder errichtet, sondern auch zahlreiche neue Betriebe, Straßen, Stadtteile und Städte mit modernen Wohnungen, Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, Ambulatorien, Krankenhäusern Sport- und Kulturstätten geschaffen. Es gab 1945 nichts, aber auch gar nichts, was die DDR hätte runter wirtschaften können

Es ist doch ein großer Irrtum, anzunehmen, die DDR sei vierzig Jahre gegen das Volk regiert worden. Es gab Jahre großer Zustimmung - wie beispielsweise beim Volksentscheid 1968 über die DDR-Verfassung, die nach gründlicher Volksausprache von 94,5 % der Bevölkerung bestätigt wurde. Eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung wurde 1990 gesetzwidrig ohne Volksentscheid aufgehoben.

Die Wahrheit ist doch: Es haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine hat den anderen übernommen und bestimmt die Regeln. DDR-Bürger wurden nie befragt, ob sie das auch wollten. So etwas hat Langzeitfolgen. Was ich da im Zusammenhang mit dem 9. Oktober 1989 in den letzten Tagen in den Medien gelesen, gehört oder gesehen habe, zeigt: Je weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so märchenhafter, wirklichkeitsfremder und boshafter werden die offiziellen Ausfälle gegen sie. Geht es nach den Meinungsführern des Politikgeschäfts, dann sind die früheren DDR- Bürger nur noch ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer schrottreifen Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff und „Spitzeln“ der Staatssicherheit.

Heiner Müller, bestimmt kein unkritischer DDR-Bürger, hat dies sehr frühzeitig mit seinem Urteil entlarvt: „Der historische Blick auf die DDR“, schreibt er, „ ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken der eigenen moralischen Totalität zu schließen.“[4]

Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die Brunnenvergifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht das Erbe der DDR. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

In der DDR -Verfassung heißt es dazu im Artikel 6: „Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet“.[5]
Es gibt sehr viele Gründe für Enttäuschungen bei nicht wenigen Ostdeutschen. Einer davon ist: So - wie die DDR heute darstellt wird - so war sie einfach nicht. Für eine große Mehrheit der DDR-Bürger war ihr Staat kein „Unrechtsstaat“. Die aufgewärmte Debatte darüber ist weiter nichts als eine Ablenkung von den Gebrechen der heutigen Gesellschaft. Wer über DDR-Unrecht spricht, braucht sich nicht zu rechtfertigen, warum die Regierenden heute mit den vielen ernsthaften Problem nicht fertig werden, der kann ablenken von Niedriglöhnen, drohender Alters- und Kindesarmut, auch davon, wie rücksichtslos mit DDR-Biografien umgegangen wird.

 

Beim Werden und Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und Enttäuschung - leider auch Opfer. So sehr ich diese bedauere, bleibt doch wahr: Die Geschichte der DDR ist keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die Geschichte eines
  • Ausbruchs aus dem ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines
  • Aufbruchs für eine tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, einer
  • Absage an Faschismus und Rassenhass, Antisemitismus und Russenphobie.

Und weil sehr viele DDR-Bürger dem verbunden waren, ist die Degradierung der DDR zu einem „Unrechtsstaat“ in vielerlei Hinsicht auch eine Beleidigung derer, die sich zur DDR bekannten. Die DDR wollte nie sein wie die alte Bundesrepublik. Es ist daher auch dumm, sie nach den Maßstäben der Bundesrepublik zu bewerten.

Vor zehn Jahren hielt Bundespräsident Köhler auf einer Veranstaltung zum 9. Oktober 1989 die Rede, in der er unter anderem ausführte:
«… Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt».

Wie gruselig, wie furchteinflößend und welch ein Zeichen von Unmenschlichkeit der DDR!
Die Sache hat nur den Haken: So etwas hat es nie gegeben.
Fritz Streletz, der langjährige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, und ich haben den Bundespräsidenten in Vorbereitung seiner Rede zum 30. Jahrestag der Leipziger Ereignisse in einem Brief gebeten, diese Unwahrheit richtig zu stellen. Aus eigenem Wissen und auf der Grundlage von geltenden Beschlüssen und Befehlen teilten wir mit: «In oder vor der Stadt gab es keine Panzer, auch existierte zu keiner Zeit ein Befehl zum Schießen. Weder wurden Herzchirurgen zur Behandlung von Schusswaffen eingewiesen noch Leichensäcke bereitgelegt.»

Leider nutzte der Bundespräsident die Gelegenheit nicht, die immer noch verbreitete Lüge aus der Welt zu schaffen. An einer Stelle seiner Rede sagte er, die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte nicht Gorbatschow die SED - Führung zur Zurückhaltung gemahnt. Es wäre gut gewesen, der Herr Bundespräsident hätte die Quelle für diese Behauptung benannt. Aus eigenem Wissen kann ich nämlich sagen: Eine solche Mahnung hat es nie gegeben. Sie war auch nicht notwendig. Selbst Gorbatschow schreibt in seinen «Erinnerungen», dass die DDR-Führung «über hinreichend Vernunft und Mut verfügte, um keinen Versuch zu unternehmen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Blut zu ersticken.»[6]

Eine Mahnung Gorbatschows gab es am 10. November 1989. Sie war nicht an die DDR, sondern an Bundeskanzler Kohl gerichtet, alle nationalistischen Töne zu unterlassen, «Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz zweiter deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen, können kein anderes Ziel verfolgen, als die Lage in der DDR zu destabilisieren und die sich dort entwickelnden Prozesse der Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben“[7].

Es ist irre, die DDR nur von ihrem Ende her zu beurteilen. Es ist zudem eine Geschichtsfälschung, so zu tun, als wären die Leute im Herbst 89 schon für die Einheit Deutschlands auf die Straße gegangen.

Im Aufruf der Leipziger Sechs unter Leitung von Generalmusikdirektor Masur, der interessanter Weise kaum noch erwähnt wird, lautet der Kernsatz:
„Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“.[8]

Einer, der kürzlich für seinen Beitrag zur deutschen Einheit vom Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde, Pfarrer Eppelmann, schrieb mir noch am 24. Oktober 1989 in einem persönlichen Brief, den auch Pfarrer Schorlemmer unterzeichnet hatte – Zitat - :
„Uns geht es um die Entwicklung von Demokratie und Sozialismus in unserem Land.“[9].

Ja, es gab natürlich auch die anderen, die sich nicht wohlfühlten in der DDR, die leider weg gingen oder sich selbst aus der Gesellschaft ausschlossen. Oder jene, die angeblich schon immer wussten, dass es nichts werden könne mit dem Sozialismus auf deutschem Boden. Oder auch jene, die damals besonders laut „Hurra“ riefen und nun mit Übereifer die vermeintlichen Vorzüge der neue Macht beschreiben.

Ihnen und vor allen den Medien, auch dem Bundespräsidenten, müsste bei etwas mehr Realismus doch klar sein: Sie können nicht für alle Ostdeutschen sprechen. Wer sich für die DDR engagierte, tat dies doch in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen, hat seinem Staat viel von seiner Lebenskraft gegeben und hat ein Recht, dafür auch in der Bundesrepublik respektiert zu werden.

Wir haben 1989 eine Niederlage erlitten, eine bittere, die schmerzt – das ist wohl wahr. Aber wir sind nicht aus der Geschichte ausgestiegen. So wie sie heute ist, diese Welt, wird sie nicht bleiben. Der Kapitalismus wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein.

Und dann werden wir sehen, wer am Ende auf der richtigen Seite steht. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr erleben, aber spätesten seit Thomas Münzer gilt: Die Enkel fechten‘s besser aus. Diesen historischen Optimismus möchte ich mir gerne erhalten. Auch deshalb, weil es da noch weit im Osten ein Land gibt, das gerade den 70. Jahrestag seiner Volksrepublik gefeiert hat.

Unabhängig davon ist es aktueller denn je, endlich die Lebensleistungen der DDR-Bürger anzuerkennen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen, gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen zu geben, die Strafrenten abzuschaffen und für alle Kinder und Jugendlichen Chancengleichheit zu schaffen. Der Artikel Eins des Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist unantastbar – muss für alle Deutschen gelten, auch für diejenigen, die für die DDR arbeiteten, einschließlich der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Ohne dies wird es noch Jahrzehnte dauern, bis die deutsche Einheit vollendet wird.

Wir sind nicht die ewig Gestrigen, für die man uns hält. Wir sind eher die ewig Morgigen. Wir möchten, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel auf einem gesunden Planeten eine friedliche Zukunft haben. Deshalb gehen wir mit dem DDR - Erbe durchaus selbstkritisch um, aber vor allem selbstbewusst und nicht mit gebeugtem Rücken.

Gerade deswegen fragen wir uns auch, was die DDR geschichtlich auf deutschem Boden einmalig macht.

Als in den Nachkriegsjahren im Westen wieder alte Nazis Lehrer, Juristen oder Beamte sein durften, fand im Osten eine antifaschistisch - demokratische Umwälzung statt, die 1949 die DDR zum antifaschistischen deutschen Staat werden ließ.

In Vorbereitung darauf wurden 7136 Großgrundbesitzer und 4142 Nazi- und Kriegsverbrecher entschädigungslos enteignet.
520 000 ehemalige Nazis wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt.
Am 30. Juni 1946 stimmten mehr als 72,00 % der Bürger Sachsens in einem Volksentscheid für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher ab.[10]

In Ostdeutschland kam Junkerland tatsächlich in Bauernhand;

  • Kein Nazi durfte Lehrer sein.
  • In Schnellverfahren wurden 43 000 Frauen und Männer zu Neulehrern ausgebildet, die zwar manchmal – wie es damals hieß - nicht genau wussten, ob man Blume mit oder ohne „h“ schreibt - dafür aber Mut hatten, dem Ruf eines FDJ - Liedes zu folgen: „Um uns selber müssen wir uns selber kümmern, und heraus gegen uns, wer sich traut“.
  • Nazis durften kein Recht sprechen, Volksrichter wurden gewählt,
  • Fakultäten entstanden, die dafür sorgten, dass Arbeiter und Bauern auf die Hochschulen kamen. Schon 1952 waren über die Hälfte der Studenten Kinder von Arbeitern und Bauern. So etwas hatte es in Deutschland zuvor nie gegeben und es gibt es lauch nach dem Ende der DDR nicht mehr.

Das Kriminelle an diesem Fakt ist:
40 Jahre nach Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten wurden viele ihrer Absolventen, die inzwischen in der DDR hervorragende Wissenschaftler, Ingenieure, Mediziner, Juristen, Lehrer und anderes geworden waren, nicht selten gegen zweit- und drittklassige aus dem Westen ausgetauscht. Wer kritisiert, dass heutzutage so wenig Ostdeutsche in Ostdeutschland etwas zu sagen haben, der darf nicht vergessen, was 1990 mit der ostdeutschen Elite gemacht wurde. Allerdings ein Begriff, den wir in der DDR kaum gebrauchten, weil wir die Gesellschaft nicht in Elite und gemeines Volk einteilten.

Es ist zu billig zu sagen, die Ostdeutschen hätten den Elitenaustausch gewollt. Ja, manche, die meinten, sie seien zu kurz gekommen, schon. Ich erinnere mich aber an ein Urteil eines nicht unbekannten westdeutschen Wissenschaftlers. Die DDR habe »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, schrieb ein Arnulf Baring 1991.
Und weiter:
»Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar […] Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nutzen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiterverwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen können,«

Meines Wissens hat niemand aus der Bundesregierung solcher Dummheit widersprochen. Wie auch dem Slogan nicht „Leben wie bei Kohl und arbeiten wie bei Honecker“, was die Ostdeutschen quasi zu Schmarotzern erklärte oder dem Urteil, Ursache für rechtes Gedankengut im Osten sei das „Zwangstopfen“ in den Kinderkrippen der DDR. Nicht vergessen auch die Kampagne gegen die Roten Socken, in dessen Folge nicht wenige DDR – Bürger durch Selbstmord aus dem Leben schieden. Obwohl dies nicht wenige waren, gibt es darüber in der Bundesrepublik nicht einmal eine Statistik.

Man kann sich bei diesen Verleumdungen nicht darauf zurückziehen, dass es sich um freie private Meinungsäußerungen handle. Was hatte doch Justizminister Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln gesagt?

Ich zitiere: »Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte … eine ganz besondere Aufgabe ...: mit dem fertigzuwerden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. ... Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat …»[11]

Was bedeutete das?
Die Deindustrialisierung der DDR ging einher mit tiefen Kränkungen von DDR-Bürgern. Solche Kränkungen lassen sich schwer aus dem Gedächtnis streichen, auch an der Wahlurne nicht.

Herr Gauck, der oft von sich nur in der dritten Person spricht, rühmte die Auswechselung der Eliten gar mit den Worten: »Wir konnten nicht zulassen, dass die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben«.

Dies war eine empörende Gleichsetzung von Tausenden entlassenen Lehrern und Wissenschaftlern, Juristen und Angestellten der DDR mit dem Mitautor des Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen. Schlimm genug, dass dieser Mann in der Bundesrepublik zum wichtigsten Politiker hinter Konrad Adenauer aufstieg. Wie weit aber muss jemand von geschichtlicher Wahrheit und Anständigkeit entfernt sein, der Globke heranzieht, um zu begründen, warum 1990 die Eliten der DDR ausgetauscht wurden?
Nach vorliegenden Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten des Deutschen Reiches aus. In Westdeutschland wurden 1945 lediglich dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale Aus

Als Herr Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde, bekannte er schon im zweiten Satz seiner Rede: „Wir …, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften. ... “

Gauck wirft 12 Jahre Hitler – Barbarei, 4 Jahre sowjetisch besetzte Zone und 40 DDR-Jahre in einen Topf. Faktisch werden die Ostdeutschen zu Menschen erniedrigt, die 1945 nur von braun zu rot gewechselt sind und kritiklos Diktatoren folgten. Dabei wird jede antifaschistische Gesinnung außer Acht gelassen.
Jedes Gleichheitszeichen zwischen dem Nazireich und der DDR verbietet sich schon angesichts von Auschwitz von selbst, angesichts des Blutzolls, den unter allen Parteien Kommunisten und Sozialdemokraten am höchsten entrichtet haben, angesichts von mehr als 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges.
Man bezeichnet hierzulande den deutschen Faschismus ja bis heute irreführend und verharmlosend als Nationalsozialismus. Dabei sollte inzwischen jeder einigermaßen gebildete Mensch wissen, dass der weder national noch sozialistisch war, sondern einmalig verbrecherisch und kapitalistisch.
Die schrittweise und durchaus widersprüchliche Überwindung der Naziideologie war eine der größten Leistungen der DDR, die wir uns von niemandem kleinreden lassen sollten.
Die DDR war die deutsche Heimstatt des Antifaschismus. Ein Globke, ein Filbinger, ein Oberländer oder auch ein Kissinger hätten in der DDR nie eine Chance auf ein Amt gehabt.
Ich habe mir oft die Frage gestellt:

Warum eigentlich gingen Geistesschaffende und Künstler wie Bert Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Stefan Hermlin, Friedrich Wolf, Max Lingner, Lea Grundig, Theo Balden, Wieland Herzfelde, Helene Weigel, Hanns Eisler, Bodo Uhse, Erich Weinert, Ernst Busch, Ludwig Renn, Wolfgang Langhoff, Eduard von Winterstein, Hedda Zinner, Gustav von Wangenheim und viele andere nicht nach Westdeutschland, sondern kamen in die Ostzone bzw. später in die DDR?

Haben sie sich nicht gerade deshalb für die DDR entschieden, weil sie hier die Möglichkeit sahen, Krieg und Faschismus endgültig aus dem Leben der Menschen zu verbannen?
Brecht hat sich dazu unmissverständlich ausgedrückt: „Ich habe keine Meinung, weil ich hier bin“, sagte er, „sondern ich bin hier, weil ich eine Meinung habe.“
Einzigartig an der DDR war auch:
Ein Drittel Deutschlands war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen. Das ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde der DDR, die niemals vergeben wird.

Nie mehr Bereicherung des einen durch die Arbeit des anderen - das war Verfassungsgrundsatz in der DDR. Niemandem war erlaubt, sich an der Arbeit des anderen zu bereichern. Der Mensch war nicht mehr des Menschen Wolf. Er war kein Marktfaktor, den man wie eine Schachfigur hin und her schieben konnte. Nicht der Ellenbogen regierte, nicht der Egoismus, nicht das Geld, sondern schrittweise, wenn auch durchaus widerspruchsvoll, das menschliche Miteinander.

Vor einigen Tagen saß ich in einem Caffè, ein Mann vom Nebentisch reichte mir eine Serviette, die an meinem Tisch fehlte. Ich sagte: „O, das ist aber aufmerksam“. „Ja“, antwortete mein Gegenüber, „die Aufmerksamkeit füreinander, das Miteinander, das wir zu DDR – Zeiten kannten, ist verloren gegangen. Das Menschliche ist weg, seit es die DDR nicht mehr gibt“.

Das hat mich stark aufgewühlt - wie auch ein Brief, den mir ein 56 - jähriger Mann schrieb, der 1990 eine Firma gegründet hatte und mir nun auf zwei Briefseiten beschrieb, wie gut es ihm geht in der neuen Bundesrepublik. „Es scheint alles Besten“, endete er sein Schreiben, „und doch bleibt tief im Herzen immer noch der Wunsch nach einer gerechten, friedlichen und vernünftigen Welt.“

Seit 1990 heißt es: „Aufbau Ost“. Sicher, es gab manches, was in der DDR im Argen lag. Wir investierten zu wenig im produktiven Bereich, manche Stadtzentren waren aus Mangel an Baumaterial und haltbarer Farbe ziemlich unansehnlich. Unsere Wünsche waren immer größer als unsere materiellen Möglichkeiten.

Die Ideale und die Realitäten klafften nicht selten auseinander. Die Bundesrepublik setzte ihre Ostbrüder und Ostschwestern Jahr für Jahr neu auf die Embargoliste, die uns vom wissenschaftlich - technischen Fortschritt in der kapitalistischen Welt ausschließen sollte. Unsere Startbedingungen waren alles andere als gut. Ganz Deutschland hatte den Krieg verloren. Die Ostdeutschen und später die DDR mussten allein dafür zahlen. Die DDR-Reparationsleistungen waren 25-mal höher als die der alten Bundesrepublik. Umgerechnet zahlte jeder DDR-Bürger 16 124 DM für Reparationen, jeder Bundesbürger dagegen gerade mal 126 DM. Die BRD bekam den Marschallplan - die DDR zahlte für den Krieg. Das war eine ungleiche Arbeitsteilung. Manchmal denke ich heute: Dass wir es trotzdem 40 Jahre durchgehalten haben, das ist das eigentliche Wunder.

Doch:
Die DDR war 1949 zwar auferstanden aus Ruinen, aber sie war 1990 keine Ruine, kein Pleitestaat mit maroder Wirtschaft. Bis zuletzt wurde jede Rechnung auf Heller und Pfennig bezahlt, auch, wenn die sich unwissend Stellenden und die Verleumder der DDR das immer wieder bestreiten.

Wie eine geheiligte Schrift behandeln sie permanent das vergilbte sogenannte „Schürer-Papier“, obwohl sie genau wissen, dass Gerhard Schürer und seine Mitautoren noch im November 1989 öffentlich die falschen Zahlen und ihre Irrtümer korrigiert hatten.

Es ist schwer zu verstehen, dass sie ihrem eigenen Geldinstitut, der Deutschen Bundesbank, misstrauen. Es gibt einen Bericht von ihr unter dem Titel – Zitat - „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989.“ Darin heißt es, dass Ende 1989, „die Nettoverschuldung der DDR betrug 19,9 Milliarden Valutamark« also umgerechnet in Euro nicht einmal zehn Milliarden. Von 10 Milliarden Euro geht kein Staat bankrott.

Indem man behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete: Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegstand von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.

Das wirkliche Problem war 1990 nicht eine vermeintlich marode Wirtschaft der DDR. Wir hatten sicher auch Marodes, aber wir hatten auch viel Modernes. Wir hatten auch Kombinate, die Weltniveau produzierten. Wer Letztes bestreitet, behauptet damit ja auch, dass uns bundesdeutsche Konzerne nur Schrott geliefert hätten, denn 40 % unserer Industrieanlagenimporte kamen aus der alten Bundesrepublik.

Der Kern des Problems 1990 war ein ganz anderer:
Alles in der Wirtschaft gab es nun zweimal in Deutschland.
Einmal musste sterben. Nicht nur, was eventuell marode war, sondern auch das Moderne. Das Sterben hat die Treuhand organisiert, aber nicht auf eigenen Antrieb. Es war politisch gewollt. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85% davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% ging ins Ausland und knappe 5 % blieben im Osten.

Die Bundesrepublik übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen, 40.000 Geschäfte und Gaststatten, 615 Polikliniken, 340 Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturguter, geistiges
Eigentum und manches mehr.[12] Zum Beispiel den Berliner Fernsehturm, der nur deshalb nicht abgerissen wurde, weil das bautechnisch nicht ging, aber inzwischen das Wahrzeichen Berlins ist
Und wo feiert die bundesdeutsche Elite heute ihre vermeintlichen Siege? Im Schauspielhaus Berlin, in der Semperoper Dresden und im Gewandhaus Leipzig – alles vom «maroden DDR – Staat» bezahlt.

Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich - ohne den Wert des Bodens und den
Besitz von Immobilien im Ausland gerechnet. Angesichts dieser Fakten mutet es wie ein schlechter Witz an, die Treuhand und ihre Anleiter in der Bundesregierung von der Schuld für die Deindustrialisierung der DDR freizusprechen.

In den Berichten zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit wird davon gesprochen, dass es gut sei – Zitat - „..., dass wir uns mit unserer jüngsten deutschen Geschichte auseinandersetzen“

Das ist jedoch nicht wahr. Allgegenwärtig ist nur die DDR- Geschichte. Es wird aber höchste Zeit, sich im Kontext damit auch kritisch mit der Entstehung und Existenz der alten Bundesrepublik und ihrer Schuld an der deutschen Spaltung auseinanderzusetzen.

Die Jahre zwischen 1949 und 1990 waren doch nicht nur das „Wirtschaftswunder“ und das „Wunder von Bern“, nicht nur die DM und das eigene Auto, nicht nur die Italienreise und all die anderen Erfolgsgeschichten, die uns dieser Tage wieder aufgetischt werden.

Verdeckt wird, dass beispielsweise die separate Währungsreform 1948 das eigentliche Datum der deutschen Spaltung ist, wodurch die spätere DDR aus dem internationalen Wirtschaftsverkehr praktisch ausgeschlossen wurde.

Es gab doch in der alten Bundesrepublik nicht nur gewaltige Streiks, über die man heute kaum noch spricht, sondern auch tiefe gesellschaftliche Konflikte. Die KPD, die FDJ und andere fortschrittliche Organisationen wurden verboten, ihre Mitglieder gejagt, verurteilt und inhaftiert.

Am 11. Mai 1952 wurde das FDJ – Mitglied Philipp Müller auf einer Friedenskundgebung in Essen und am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Westberlin von der Polizei erschossen. Wie ein roter Faden zieht sich doch die Verfolgung Andersdenkender durch die ersten Jahre der Bundesrepublik. Notstandsgesetze wurden beschlossen und ein „Radikalenerlass“.

Wenn es also darum geht, auf welcher Seite der Geschichte jemand gestanden hat, habe ich als DDR-Bürger durchaus viele Fragen an die alte Bundesrepublik:

  • - Unterstützte sie nicht die schmutzigen Kriege, die Frankreich gegen Algerien und die USA in Indochina führten, die Vietnam in die „Steinzeit zurück bomben“ wollten?
  • - Machte sie nicht immer gute Geschäfte mit dem Apartheid –Regime in Südafrika, das Nelson Mandela verbannt hatte?
  • - Standen sie nicht immer an der Seite jener, die das Abenteuer in der Schweinebucht gegen das freiheitsliebende kubanische Volk oder auf Grenada unterstützten?
  • - Stand sie nicht immer an vorderster Stelle bei Waffenexporten in Krisenregionen?
  • - Hatte sie nicht exzellente Beziehungen zu den faschistischen Regimes in Spanien und Portugal?
  • - Gab es nicht ein heimliches Einverständnis mit den Putschisten in Griechenland 1967 und in Chile 1973?

Die DDR und die BRD standen über 40 Jahre in einem Bürgerkrieg, in einem kalten zwar, immer am Rande einer atomaren Katstrophe.

Als ich im Frühjahr 1990 noch unter dem frischen Eindruck der Herbstereignisse89 stand, habe ich mir viele Fragen gestellt:

  • Werden nun etwa neue Mauern errichtet?
  • Mauern gegenüber linken Andersdenkenden?
  • Mauern gegenüber jenen Werten, die aus der DDR in den Prozess der deutschen Vereinigung eingebracht werden könnten?
  • Mauern zwischen den Deutschen und ihren Nachbarvölkern, dessen Sicherheitsbedürfnisse zu respektieren sind?
  • Mauern zwischen Deutschland und dem sozialistischen Kuba, das von den sozialistischen Ländern Europas allein gelassen wurde und sich seither mutig wehrt?
  • Mauern zwischen der NATO und der damals noch existierenden Sowjetunion?

Wenn ich mir diese Fragen nun fast dreißig Jahren später wieder beantworte, komme ich zu keiner anderen Erkenntnis als jener, dass die neuen Mauern dazu geführt haben, das die Welt von heute so durcheinander geraten ist wie sie jetzt ist. Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion und ohne die DDR weder gerechter noch friedlicher geworden.

Heute geht es um alles – um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Dass man in dieser Zeit immer noch das Feindbild DDR braucht, zeigt, dass die herrschenden Politiker keine wirkliche Vorstellung von der deutschen Einheit haben.

Man kann die deutsche Einheit vielleicht herbeimoralisieren, indem man die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt.

Man kann sie – wie sich zeigt – schlecht herbeifinanzieren, weil es außer Geld auch noch andere Werte gibt.

Herbeikriminalisieren, indem man die DDR als Irrweg denunziert, kann man die Einheit auf keinen Fall. Mehr Respekt für alle früheren DDR-Bürger wird nicht gelingen, solange man den Staat, auf dessen Boden diese Leistungen möglich wurden, verteufelt.

Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland.

Sie ist folglich dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Am Vorabend des diesjährigen Tages der Einheit kam eine neue, eine sehr beunruhigende Meldung: „Die Nato plant für 2020 ein Manöver mit über 20.000 Soldaten. … geprobt werden soll dabei eine schnelle Verlegung von Truppen nach Polen und ins Baltikum. Das heißt wieder, ran an Russlands Grenzen. Dass Deutschland dabei eine zentrale Rolle einnehmen soll, ist für mich eine geschichtsvergessene Schande.

Das ist nun wahrlich nicht die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Dreißig Jahre nach der Öffnung der Grenzübergänge in Berlin sollte es heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen Ton anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber „Sanktionen“ und „Bestrafungen“ fördert.

Wie Euch wahrscheinlich aufgefallen ist, spreche ich nicht vom Scheitern des Sozialismus, sondern von einer bitteren Niederlage.

Ist das nur eine formale Frage? Für mich nicht. Scheitern hat etwas Endgültiges an sich, Niederlage ist eher etwas Zeitweiliges. Wenn der Sozialismus gescheitet wäre, könnte das ja auch bedeuten, dass er auch in Zukunft keine Chance mehr hätte und der Kapitalismus doch das Ende der Geschichte wäre. China beweist schon heute das Gegenteil.

Der erste Anlauf für eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, die Pariser Kommune, überdauerte 72 Tage, der zweite Anlauf, die Oktoberrevolution, hielt 72 Jahre und die DDR 40 Jahre. Der dritte Anlauf wird auch in Europa kommen. Wann und wie – das weiß heute niemand. Die Erfahrungen der DDR – die positiven wie negativen – werden dabei auf jeden Fall von Bedeutung sein.

Und deshalb sage ich: Wehren wir uns auch weiterhin dagegen, unser sinnvoll gelebtes Leben in den Schmutz ziehen zu lassen, tun wir auch weiterhin das uns Mögliche, damit nie wieder – wie es in der DDR – Nationalhymne heißt - eine Mutter ihren Sohn beweint.

Egon Krenz, 12. Oktober 2019

- Rede anläßlich der Festveranstaltung des DDR-Kabinett-Bochum e.V. im Freizeitforum Marzahn -

[1] Das Wort Irredenta steht auch für ein nicht befreites, unter Fremdherrschaft stehendes Gebiet. Siehe Manfred G. Schmidt „Wörterbuch zur Politik“, Alfred Kröner Verlag, 1995.
[2] Siehe: Verfassungskonvent vom Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. Protokolle der Sitzungen der Unterausschüsse, Unterausschuss I: Grundsatzfragen, Bundesarchiv (Koblenz).
[3] Konrad Adenauer, "Rheinischen Merkur" vom 20. Juli 1952.
[4] Vorwort von Heiner Müller, „Das Liebesleben der Hyänen“.
[5] Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968.
[6] Michael Gorbatschow, „Erinnerungen“, Seite 711.
[7] Mündliche Botschaft M.S. Gorbatschows an Bundeskanzler Kohl vom 10. November, die der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik unmittelbar vor der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin (West) am 10. November 1989 an Helmut Kohl übermittelte.
[8] Aufruf der Leipziger Sechs vom 9. Oktober 1989.
[9] Brief von Friedrich Schorlemmer und Rainer Eppelmann an Egon Krenz vom 24. Oktober 1989 im Archiv des Autors.
[10] Die Zahlen stammen aus den Büchern „ „Illustrierte Geschichte der DDR“, herausgegeben Dietz Verlag Berlin 1984 und „DDR“, herausgegeben 1989 im VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig.
[11] Justizminister Kinkel vor Staatsanwälten und Richtern auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln am 23. September 1991.
[12] Die Zahlen nennt Herbert Graf in „Ossietzky“ 16/2018. Zahlen zur Ökonomischen Situation der DDR stammen aus den Erinnerungen von Gerhard Schürer aus seinem Buch „Geagt und verloren.“

© Карстен Петрович Рихтер (Судья)