In
Friedrichsfelde gibt es ein Ehrengrab für Emil Fuchs und Familienangehörige mit
der Inschrift
„Wir
haben uns den Weg nicht so schwer gedacht.
Aber wir würden ihn doch wieder wählen.“
In
zwei kurzen Sätzen viel Auszulotendes.
Da
wurde ein Weg nicht einfach beschritten. Er war bedacht, und bedacht war auch,
ihn gehen zu wollen.
In
diesem Denken gab es Irrtümer – das wird eingestanden. Auch Klage ist in dem
ersten Satz, Bekenntnis von menschlicher Schwäche.
Die
Quintessenz des zweiten Satzes (der ja z.B. auch lauten könnte: „Er hat sich
als Irrweg erwiesen.“) hebt den Inhalt des ersten dialektisch auf: Trotz der Abirrungen,
trotz der Beschwerlichkeiten ist dieser Weg gangbar: Er führt in Richtung des
Ziels. Und er ist Wert, gegangen zu werden.
Darin
liegt auch Aufforderung: Schließt Euch an, diesen Weg zu gehen.
Wir
– der Teil der Ostdeutschen, der 45 Jahre bewußt die
DDR aufgebaut und weitergebaut hat –
meinten, auf dem letzten Stück des Weges zum Ziel der gerechten
Gesellschaftsordnung zu sein. Gesetzmäßig werde der Sieg unser sein, bekamen
wir gelehrt und lehrten es die Jüngeren. Und hatten wenig Verständnis für die,
die das Wunderbare nicht begreifen wollten, die nicht oder nur mit halber Kraft
mittaten, um die für alle beste denkbare Ordnung des menschlichen Lebens
endlich herbeizuführen.
Mittlerweile
ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit wir unsere Niederlage erleben mußten. Eine umfassende und tiefgehende Niederlage, keine
örtlich begrenzte und kurzzeitig wettzumachende. Schmerzlich vor allem auch,
weil wir nicht ehrenvoll unterlagen, von einem stärkeren Feind besiegt, aber vom Volke betrauert, sondern
abgetreten angesichts offenkundigen Willens einer sich aufraffenden Mehrheit,
die von uns genug hatte. Unsere Versprechen, die unsere eigene Hoffnung ebenso
waren wie die Hoffnung vieler, haben wir nicht eingelöst.
Warum
fällt uns nach wie vor so schwer, mit dieser Niederlage umzugehen, eigenes
Versagen als ihre wesentliche Ursache zu erkennen und zu akzeptieren
? ( Daß Feinde dabei
kräftig mittaten, kann nicht überraschen.)
Über
Jahrtausende menschlicher Geschichte haben die nach Brot und Gerechtigkeit
Hungernden immer wieder Versuche unternommen, Bedrückung abzuschütteln. Örtlich
begrenzte und schnell gescheiterte Anstrengungen zumeist, später auch
kraftvollere, die größere Territorien erfaßten,
hartnäckiger der Reaktion widerstanden. Doch am Ende stand immer die
Niederlage.
Der
Versuch im 20.Jahrhundert, dessen Beteiligte wir waren, begann 1917 in Rußland,
behauptete sich gegen Konterrevolution und imperialistische Intervention, gegen
den Generalangriff ab 1941 und schien nach über 30 Jahren, als unsere
Großeltern und Eltern die DDR gründeten, stärker und perspektivreicher denn je.
Er erfaßte große Teile Europas und Asiens, gewann Brückenköpfe in Afrika und Lateinamerika, wirkte als
Geburtshelfer von Nationalstaaten mit einer Milliardenbevölkerung in den
ehemaligen Kolonien der alten Welt. Das stützte unser Denken und Gefühl, in
einem unaufhalt-samen Voranschreiten begriffen zu
sein.
Wir
haben erfahren müssen, daß nicht nur theoretischer Irrtum, sondern auch
Ignoranz in der Doktrin vom gesetzmäßigen Sieg lag. Friedrich Schorlemmer
zitierte im ND kürzlich Rosa Luxemburg:
„Die
proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf
dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrung, durch Niederlagen und Siege zu
voller Klarheit und Reife durchringen.“
Da wir verlernt oder nicht gelernt hatten, die Geschichte als offenen Prozeß zu sehen, traf uns die schließliche Niederlage unvorbereitet. Deren reale Möglichkeit und Konsequenzen waren auf unserer Seite weder geschichtsphilosophisch vorgedacht noch bezüglich notwendiger praktischer Schritte. Zwangsläufige Folge: Konfusion in Theorie und Praxis. Während wir vermessen meinten, wir seien schon bei Klarheit und Reife angelangt, waren und sind wir auf dem Golgathaweg.
Ein
mit dem Vorgenannten verflochtener Aspekt ist der, daß
es zwei höchst verschiedene Anforderungen sind, über
weit Zurückliegendes nachzusinnen oder sich mit dem eigenen Wirken
auseinanderzusetzen.
Wir
haben wortreich vermocht, über die Ursachen und Bedingungen zu reden, warum
revolutionäre Versuche in fernerer Vergangenheit scheiterten, ja nur scheitern
konnten: die noch nicht herangereiften objektiven
Bedingungen, Mangel an wissenschaftlicher Erkenntnis
über Ziel und Weg, Fehler der Aufständischen, meist auch Uneinigkeit usw. usf.
Mit Akribie sezierten wir die Abläufe und formulierten Lehren daraus. Daß es uns nicht so recht gelingen will, mit der jetzt
selbst erlebten Niederlage ebenso wissenschaftlich umzugehen, hängt wohl damit
zusammen, daß wir selbst Beteiligte der
geschichtlichen Ereignisse sind, die verarbeitet werden müssen. Es ist unser
Leben, es sind unsere Anstrengungen, Versäumnisse und Verirrungen, Taten und
Untaten. Und es ist vielleicht theoretisch möglich, aber nicht praktisch
realisierbar, die Erforschung und Aneignung jüngster Geschichte quasi anonym zu
betreiben. Es geht nicht ohne Konkretheit, die die
Benennung handelnder Kräfte – Institutionen und Personen – einschließt. Somit
sind Darstellungen und Wertungen unvermeidlich beeinflußt
von Interessen.
Weiter
kommt hinzu: Die Sieger des Kalten Krieges verfügen über die gesetzgeberische, adminstrative und justizielle
Macht, und haben überdies die Beeinflussung der öffentlichen Meinung nahezu
monopolisiert. Indem sie Engagement für die DDR kriminalisieren –
einschließlich öffentlicher Vorverurteilung der jeweils für eine „Enthüllungs“-Kampagne Ausgewählten – lassen sie Betroffenen
und potentiell Betroffenen kaum Raum für eine andere Haltung als die der
Verteidigung.
Die
Besorgnis, ggf. den Arbeitsplatz zu verlieren oder vor Gericht zu landen, ist
erwiesenermaßen begründet. Solange nicht Schluß
gemacht wird mit politischer Verfolgung und Maßregelung von Amtsträgern und
anderen Bürgern der DDR wegen gesetzeskonformen Handelns für ihren Staat, bleibt
der Ruf nach dem Bekennen von Verantwortung für schon vorab kriminalisierte
Vorgänge Heuchelei. Mittlerweile kann als erwiesen gelten, daß
dies keine fatale Folge rechtsstaatlicher Erfordernisse ist, sondern wohlkalkulierte Wirkung: Uns soll der Weg verbaut werden zu
Erkenntnis und Bekenntnis, die scheinheilig eingefordert werden.
Mit
diesem Problem umzugehen bereitet uns große Schwierigkeit. Jeder Betroffene hat
ein Interesse für sich, seine Familie und seine Mitkämpfer, nicht staatlicher
Verfolgung ausgesetzt zu werden. Und er hat Anspruch gegenüber dem „Nebenmann“,
dieses Interesse zu achten und zu beachten.
Aber
wie zugleich dem Erfordernis gerecht werden, uns über unsere theoretischen,
strukturellen und individuellen Fehlleistungen nicht nur „im stillen
Kämmerlein“ klar zu werden? Wie mit
unserem Wissen und unserem Handeln dazu beitragen, daß
die Geschichtsschreibung über die DDR nicht denen überlassen bleibt, die sie
als Unrechtsstaat ins Bewußtsein der
Folgegenerationen einprägen wollen? Wie unter den hier und heute herrschenden
Bedingungen mitwirken, geschichtliche Wahrheit
in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit ans Licht zu bringen? Anders
können wir unseren Urenkeln nicht übermitteln, was aus unserem Sozialismusversuch
als Erfahrung bewahrenswert bleibt und welche Irrwege, die wir gegangen sind,
künftig besser gemieden bleiben.
Diese
Fragen schlüssig beantworten zu können, maße ich mir nicht an. Aber ich meine, daß sich Eckpunkte des Feldes benennen lassen, in dem die
Antworten zu suchen sind.
Den
„anderen“ das Feld zu überlassen ist ganz sicher falsch.
Unkritisch
mit unserer Vergangenheit umzugehen, etwa nach dem Muster, daß
alles gut und richtig war, da wir ja Gutes für das Volk im Sinne hatten, oder
nach dem Muster, was im Rahmen der Gesetze u.a.
Rechtsvorschriften blieb ( die wir uns selbst geschaffen hatten ), sei damit
fraglos in Ordnung gewesen, wird kontraproduktiv bleiben.
Zu offenkundig sind beispielsweise Defizite in
der DDR bei Menschen- und Bürgerrechten sowie Mißachtung
der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen. Dies leugnen zu wollen, würde
unsere Glaubwürdigkeit auch dann fraglich erscheinen lassen, wenn wir
Zutreffendes aussagen.
Das
Motto auszugeben “Die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit!“ klingt
höchst ehrenwert, ist aber aus o.a. Gründen
lebensfremd. Es kann im konkreten Fall zum Verrat an Genossen führen.
Uns
wird nichts anderes möglich bleiben, als so viel Ungeschminktheit und
Genauigkeit in der Tatsachendarstellung anzustreben, wie bei dem jeweiligen
Sachverhalt angesichts evtl. zu besorgender staatlicher und anderer
öffentlicher Repressionen vertretbar ist, um keinem Mitmenschen und keiner
Gruppe von Mitmenschen Schaden zuzufügen – auch nicht fahrlässig. Oft wird
nichts anderes möglich sein, als im Allgemeinen zu bleiben. Wenn das Allgemeine
treffend herausgearbeitet wird, ist dies der Wahrheit nicht abträglich.
Daß
die Suche nach Wahrheit nicht durch Verdunkelung von Fakten und durch
absichtsvolle Lügen erfolglos bleibt, ist unser eigenes Interesse: was im
Dunkel ungeklärter Hergänge liegt, kann uns am
leichtesten verleumderisch angehängt werden.
Kritik
an SED und DDR, deren Doktrinen und Maßnahmen, muß
durch uns vom sozialistischen Standpunkt aus geübt werden. Das Establishment in
diesem Land verteufelt die DDR und deren Politik, weil sie eine
nichtkapitalistische, eine antikapitalistische Alternative versucht hat. Wir
müssen an ihr kritisieren, was diesem Wollen nicht entsprach. Da die
verurteilten Erscheinungen nicht selten die gleichen sein werden ( zumal die
Herrschenden und deren Apologeten die Gründe und Ziele ihrer „Kritik“ an der
DDR zu verschleiern suchen ), bleibt
es schwierig, diese Gegensätzlichkeit
in Motiven und Zielen der Kritik deutlich zu machen. Gerade deshalb ist um so wichtiger, dies explizit zu tun. Deshalb verbietet
sich auch gemeinsames Agieren für linke Kritiker mit rechten Verleumdern.
Nicht
erforderlich scheint mir, daß wir unbedingt zu den
Tatsachen und deren Analyse auch noch die Schlüsse „mitliefern“. Mit etwas mehr
Zeitabstand werden die uns Nachfolgenden das nicht nur besser können, sondern
eher geneigt sein, selbst gezogenen Lehren zu folgen, als von den gescheiterten
„Alten“ servierten. Aber Kenntnis der Tatsachen müssen wir als Akteure und
Zeitzeugen der DDR-Geschichte mindestens übermitteln, ehe – unvermeidlich –
immer mehr von uns ihr Erleben und Wissen nicht mehr vermitteln können. Gerade
die Ältesten unter uns, die schon die schweren Anfangsjahre bewußt
erfaßt und mitgestaltet haben, sollten dokumentieren,
was ihnen erinnerlich ist.
Die
Dringlichkeit der Bewahrung von Zeitzeugnissen bedeutet nicht, gering zu
schätzen, daß wir über die Materialsammlung hinaus
eigene Analyse und Bewertung versuchen. Den Ursachen nachzuspüren, die zu
unserer Niederlage führten, ob und wie sie vermeidbar war, ist schon deshalb unumgänglich, weil
diese Fragen in uns bohren. Und wir kommen auch nicht umhin, uns dem
gesellschaftlichen Diskurs zu stellen. Es wird nach unseren Antworten heute
gefragt, mögen sie auch vorläufige sein.
Je
größer die Schar der Mitstreiter, die sich an den Debatten der Sozialisten über
unsere Geschichte, Gegenwart und Zukunft beteiligen, desto größer die Chance
für vorwärts weisende Erkenntnisse.
PS.:
Gegenstand
dieser Überlegungen ist – in bewußter Beschränkung -
unser Umgang mit dem eigenen geschichtlichlichen
Agieren. Die unumgängliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit darf uns nicht
den Blick verstellen für Notwendigkeiten, die sich aus den aktuellen
Lebensbedingungen ergeben. Z. B. bleibt von uns
Engagement gefordert, der staatlich betriebenen Verschlechterung der
Lebensverhältnisse für die in der Gesellschaft ohnehin Benachteiligten
entgegenzuwirken. Fernbleiben unsererseits von politischer Aktivität, von
Teilnahme am Widerstand gegen Demokratie- und Sozialabbau
sowie gegen neofaschistische Aktivitäten wäre ein Sieg für diejenigen, die uns
gesellschaftlich auszugrenzen suchen.
Januar
2005
*****