Henry Leide und die aufgespürten NS-Verbrecher der DDR
(Detlef Joseph)
Man hatte und hat es nicht leicht mit
der Aufarbeitung des „Unrechtsstaats DDR.“ Der Antifaschismus, der vor dem
Zusammenbruch des deutschen Sozialismus permanenter bundesdeutscher Verfluchung
und Diffamierung unterlag, kann nunmehr mit dem möglichen Zugang zu bisher
verschlossenen Archiven voll unter Beschuss genommen werden. Und zwar ohne
Hemmungen und ohne Rücksichtnahme auf die Wahrheit, wie sich versteht. Otto von
Habsburg schrieb 1981 im Vorwort des gegen die DDR-Publikation „Braunbuch
Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin“
gerichteten „Braunbuch DDR“, dass diese Dokumentation ein „brauchbare Waffe“
gegen jene sei, die „Deutschland – gemeint war die BRD - diskreditieren wollen“. Man werde zeigen,
dass „die sogenannte DDR und nicht die Bundesrepublik das geistige Erbe Hitlers
übernommen hat.“ [1] Und dann waren die Namen
ehemaliger Angehöriger der NSDAP oder anderer nazistische Organisationsformen
und Institutionen aufgelistet, die in der DDR verschiedenste Tätigkeit
ausübten. Eine konkrete verbrecherische Handlung wurde den Genannten weder
vorgeworfen noch nachgewiesen, weil dies de facto auch nicht möglich war. Vor
diesem „Braunbuch DDR“ wurden Broschüren
mit den Namen von DDR-Bürgern publiziert, denen insbesondere eine
Mitgliedschaft in der NSDAP angelastet wurde.[2] Leide
schreibt dazu, diese Auflistungen hätten die „zeitgenössische Grundlage“ für
die ab 1958 „aufgelegten einschlägigen Schriften westdeutscher Organisationen“
gebildet, „die der DDR ihre unablässige Propaganda gegen die angebliche
Refaschisierung der Bundesrepublik heimzahlen wollten.“ [3]
Zweifelsohne waren die Materialien der DDR über die Braunen in der BRD von
Sachkunde getragen und mit Beweisen unterlegt. Auf Vermutungen ließ man sich
nicht ein. Bei den Westpublikationen reichte als Vorwurf die Mitgliedschaft in
der NSDAP, um eine Belastung zu behaupten.
Wenn Leide meint, die DDR-Propaganda habe sich gegen eine „angebliche
Refaschisierung der Bundesrepublik“ gerichtet, dann übersieht er, dass die
tatsächliche Stoßrichtung sich sowohl gegen jene wandte, die als altnazistische
Antikommunisten willkommene „Mitstreiter“ der bundesdeutschen
antikommunistischen Staatsdoktrin waren, als auch gegen jene, die aus ihrer
antikommunistischen Grundstruktur heraus keine Skrupel hatten, diese Nazis ohne
weiteres zu integrieren. Wodurch das Anti-DDR-Potential zweifelsohne gestärkt
wurde. Es sei dahingestellt, dass die Fülle neonazistischer Aktivitäten und
antikommunistisch manipulierender Publikationen in der BRD für die DDR
Veranlassung war, eine Refaschisierung zu befürchten.
Nach dem Untergang der DDR ging es dann in die Vollen. Simon Wiesenthal redete
1990 von Hunderten von Nazis, die die DDR versteckt gehalten habe und er werde
dem Bundesjustizministerium eine namentlich Liste unterbreiten. Die Zeitungen
verbreiten das genüsslich. Ging es doch darum, dem Auftrag des damaligen
Bundesjustizministers Klaus Kinkel an die Deutsche Justiz umfassend Folge zu
leisten, nämlich die DDR zu delegitimieren. Und da zu deren Legitimität auch
der von der DDR ernstgenommene Antifaschismus gehörte, wurde auch dieser zur
erklärten Zielscheibe. Zwar wurde die angekündigte Liste Wiesenthals nie
vorgelegt – Frau Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin teilte mir auf meine
Anfrage schriftlich mit, dass eine solche Liste im Bundesjustizministerium
nicht aufzufinden sei -, aber das tat den
Bemühungen keinen Abbruch, die DDR umfassend zu diffamieren. [4] Was lag näher, als insbesondere das MfS, dem
zum Bösewicht der Nation erklärten Schutzorgan der DDR, näher zu durchleuchten.
Und siehe da: nach einer Anzahl andeutender Veröffentlichungen liegt nun eine
Monographie vor, die konkrete Angaben über Nazis mittelt, die das MfS für
geheimdienstliche Zwecke angeworben haben soll. Nun ist der hauptberufliche
Mitarbeiter der „Birthler-Behörde“ Henry Leide an der Reihe. Das Bild des
konsequent antifaschistischen deutschen Staates, das sich noch bei manchem
halte, werde von Henry Leide mit seinem Buch zertrümmert, so triumphiert ein
Rezensent. [5] „Was
bleibt von der bis heute verbreiteten These von der systematischen und
weitgehenden Verfolgung von NS-Verbrechern? Nicht viel“, so erklärt Leide und behauptet: „Alle Aktivitäten zur Aufarbeitung
und Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen hatten sich strikt an den
aktuellen Interessenlagen der DDR auszurichten.“ [6] Er
attackiert in seinem Buch die in seinen Augen besonders fluchwürdige Tatsache,
dass das MfS, in seiner Verfolgung nazistischer Verbrecher, ebenso verstehbar
als ein Synonym des Eintretens der DDR für den Antifaschismus, offenbar auch
Nazis für seine geheimdienstlichen Zwecke genutzt hat. Was dem MfS von ihm so
vehement angelastet wird, ist an sich aber augenfällig keine Besonderheit der
DDR, wie zahlreiche Publikationen zur deutsch-deutschen Geschichte zeigen.
Erstmals habe ein Wissenschaftler, „die
Instrumentalisierung von Alt-Nazis durch die Stasi umfassend untersucht“ so
verkündete ARD Kulturreport. [7] Nun
ist „Instrumentalisierung“ eine negativ belegte Phrase; die nicht danach fragt,
welchen Charakters der Zweck ist, der mit einer bestimmten, vielleicht auch
ritualisierten Verhaltensweise verfolgt wird. „Den Opfern des Faschismus und
Militarismus“ war die Gedenkstätte „Neue Wache“ in Berlin zu DDR-Zeiten
gewidmet. Daraus machten die bundesdeutschen Politiker 1993 die zentrale
Gedenkstädte für die „Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft“, eine „vage
Formulierung (die) starken Widerspruch hervorrief.“ [8] In der „Neutralität“ der bundesdeutschen
Phrase und in der Parteilichkeit des DDR-Denkspruchs liegt dem Wesen nach auch
der Unterschied bei der Anwerbung ehemaliger Nazis für eine geheimdienstliche
Tätigkeit. Ein Bestandteil der klandestinen Tätigkeit des MfS war die Aufdeckung
der gegen die antifaschistische DDR gerichteten Aktionen. Die Integration von
Nazis in das bundesdeutsche System war die „Bereicherung“ des
antikommunistischen Potentials um die „Erfahrung“ der nazistischen Kommunismusvernichter.
Es fällt auf, dass Leide seine an diversen Stellen untergebrachten
moralisierenden Bewertungen der DDR nicht allein aus den ihm vorliegenden Akten
schlussfolgert, sondern sich regelmäßig auf Annette Weinke bezieht und diese
zitiert. Weinke hat sich in der Tat „Verdienste“ bei der grundsätzlich
negativ-diffamierenden Beurteilung der DDR im allgemeinen und des MfS im
besonderen erworben. Das von Leide beigezogene Buch Weinkes enthält allerdings auch die für unser
Thema interessante Anmerkung, 1960 sei eine entscheidende Wende in den
(bundes)deutsch-israelischen Beziehungen eingetreten. Die zwischen Adenauer und
Ben Gurion vereinbarten Waffenlieferungen hätten den Auftakt gebildet für eine
langjährige Sicherheitspartnerschaft zwischen BND und Mossad, „die wegen
Gehlens Vorliebe für hochrangige, teilweise schwerbelastete SS- und SD-Leute
von besonderer politischer Brisanz war. Der israelische Geheimdienst nutzte die
guten Beziehungen des BND zu den
arabischen Staaten nicht nur dazu, sich über inoffizielle BND-Mitarbeiter wie dem früheren
SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny wichtige Informationen aus dem Nahen Osten
zu beschaffen, sondern bediente sich dieser Personen auch, um die
Verstecke hochrangiger Nazis aufzuspüren.“ [9] Die
Versuche der Autorin, sich für ihre Analyse der Verfolgung von NS-Tätern in
beiden Teilen Deutschlands auch im westdeutschen Gehheimdienst sachkundig zu
machen, stießen an Mauern. Sie konstatiert: „In beiden Teilen Deutschlands
wurden im Laufe der fünfziger Jahre eine Reihe hochrangiger RSHA-Mitarbeiter
für geheimdienstliche Spionage- und Abwehrtätigkeiten angeworben: Obwohl diese
wie andere potentielle NS-Täter laut Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) als
Personen der Zeitgeschichte gelten, steht dennoch ein bestimmter Teil von
Unterlagen, den das MfS zu diesem Personenkreis angelegt hat, der historischen
Forschung nicht ohne weiteres zur
Verfügung. Konkret betrifft dies eine Gruppe von RSHA-Mitarbeitern, die als
Doppelagenten zugleich für den KGB und die Organisation Gehlen, dem Vorläufer
des BND, tätig waren. Während operative und strafrechtliche Ermittlungsvorgänge
gegen in der DDR lebende und arbeitende NS-Verdächtige uneingeschränkt für
wissenschaftliche Zwecke genutzt werden können, bedarf es einer
Sondergenehmigung durch den beim BStU tätigen Sicherheitsbeauftragten des
Bundesministeriums des Innern, um Akten einsehen zu können, die das MfS über
die Tätigkeit von NS-Verdächtigen im Dienste des BND angelegt hat.
Personenbezogenen Unterlagen wurden der Verfasserin daher nur insoweit vorgelegt, als sie nicht
deren BND-Tätigkeit betraf. Die Gesetzeslage spiegelt damit die bestehende
Asymmetrie von Geheimdienstakten ost- und westdeutscher Provenienz wider, die
dazu führt, dass die Zusammenhänge zwischen der gezielten Rekrutierung von
NS-Eliten für Geheimdienstzwecke und der Amnestiepolitik nach 1949 für die
westliche Seite bis auf weiteres nicht untersucht werden können.“ [10]
Dieses Untersuchungsverbot spricht Bände! Es entwertet radikal die „sensationellen Forschungen“ Leides. Es wäre schon interessant zu erfahren, wie „hochrangig“ die in der BRD angeworbenen Nazis waren und welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht hatten, die eigentlich zur Verurteilung hätten führen müssen. Und es wäre interessant zu erfahren, welche Agenten mit Nazivergangenheit nicht nur gegen den KGB sondern auch gegen die DDR und das MfS eingesetzt waren. Die Ungleichheit der „Vergangenheitsaufarbeitung“ verwundert selbstredend nicht. Man erinnere sich daran, dass altbundesdeutsche Kundschafter, die für das MfS tätig waren, nach dem Untergang der DDR strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. BRD-Agenten gegen die DDR wurden für ihre Feindtätigkeit keineswegs strafrechtlich verfolgt. Sie mutierten zu „Helden“. Die bisher bemerkenswerteste Ausrede, um den mangelnden Zugang zu geheimen Westarchiven zu begründen, kann man in der „Welt“ lesen, wo verkündet wird: „Im Gegensatz zu den Stasi-Unterlagen enthält das BDS (Berlin Document Center) keine Opfer-Akten. Deshalb gibt es auch kein allgemeines Einsichtsrecht.“ [11] Ein wichtiges Instrument, um die Unterschiedlichkeit der Gründe für die „Integration“ selbst von belasteten Nazis in geheimdienstliche Aktionen zu erkennen und zu vergleichen, wäre nun allerdings die Öffnung der entsprechenden Archive.
Das Grundproblem ist jedoch die Ausgangsposition für die Beurteilung des
Umgangs mit ehemaligen Nazis im Falle der Einbeziehung in geheimdienstliche
Aufgaben. Dem Anschein nach ist das dasselbe in West wie Ost gewesen. Eine
scheinbare Gleichartigkeit. Tatsächlich aber stand Kapitalismus gegen
Sozialismus. Die Apologeten des von der Verteidigung der kapitalistischen
Gesellschaftsverhältnisse determinierten
Verständnisses gesellschaftlicher Vorgänge sind bei der Beantwortung dieser
Frage vom Unverständnis für die
gravierenden theoretischen und praktischen Unterschiede geprägt, die den Umgang
mit Nazis nach dem Untergang des faschistischen Staates anbetreffen. Die
Sympathie bürgerlicher Kreise für den Faschismus als Faktor der Macherhaltung
des Kapitalismus bestimmt auch die Sympathie für jene Menschen, die für den
Erhalt und die Stabilisierung des Nazifaschismus verantwortlich zeichneten und
die von ihrer antikommunistischen Haltung nach der Zerschlagung des Faschismus
nicht Abstand nahmen.
„Nazis“ in der DDR waren im Grundsätzlichen Menschen, die zum Verständnis der
Ursachen des Faschismus gelangt waren und ihre Teilnahme am Aufbau einer
sozialistischen Gesellschaft als entscheidende Grundlage der Beseitigung von
Faschismus und Form ihrer Wiedergutmachung ansahen. Ein Nazi in der BRD stärkte
und verteidigte Kapitalismus. Ein „Nazi“ in der DDR stärkte und verteidigte den
Sozialismus, sofern er für sich dem Nazismus abgeschworen hatte. Ein
Gleichheitszeichen von der Art: „Nennst du meine Nazis, nenn ich deine Nazis!“
verbot und verbietet sich aus inhaltlichen Gründen. Das trifft generell auch in
den Fällen zu, die Leide als Beispiele der Anwerbung für das MfS benennt. Nun
sind, wie das vorgelegte Buch Leides deutlich macht, vom DDR-Geheimdienst in
der Tat auch Menschen angeworben worden, die eine nazistische verbrecherische
Belastung zu verantworten haben.
Man kann natürlich darüber streiten, ob es in der Tat dringend notwendig war,
sich bei der Abwehr der Störversuche und –handlungen gegen die DDR auch
belasteter Nazis zu bedienen. Aber zweifelsohne hat die geballte Kraft
antikommunistischer und verbrecherischer Aktivität gegen die DDR Veranlassung
gegeben, auch den Einsatz von belasteten Nazis zu erwägen und zu praktizieren.
Und es konnte ja erwartet werden, dass bei der Fülle von Nazis, die ihre
Wiederverwendung in bundesdeutschen Amtsstuben erlebt hatten, ein
Neuzugereister – wenn er zudem noch dem „terroristischen Kommunismus“ entkommen
war, mit offenen Armen empfangen wurde, wenn er sich als „Gleichgesinnter“
erweisen konnte. In Komplexe der BRD einzudringen, in denen Nazis eine nicht
unwesentliche Rolle spielten, konnte für die DDR mithin ertragreich sein. Wie
anders hätte man wohl sonst in manche Bereiche eindringen können, in denen
ehemalige Nazis schalteten und walteten. Es ging weniger darum, einen Anschluss
an offen neonazistische Gruppierungen und Anhängerschaften zu finden, als
darum, in einflussreiche Positionen zu gelangen, die die DDR nach allen Regeln
der Kunst und auf allen Ebenen zu bekämpfen und zu schädigen suchten. Im übrigen
reflektieren die Akten des MfS auch die
Bedenken für einen Einsatz ehemaliger Nazis für die Verteidigung der
sozialistischen Gesellschaft. Neben den verfügbaren Akten, die zur Entlarvung
der praktizierenden nazistischen Antikommunisten in der BRD genutzt werden
konnten, war das Aufspüren geheimer
Aktivitäten gegen die DDR von existentieller Bedeutung.
Die Darstellung der Integration ehemaliger Mitglieder der NSDAP in das
gesellschaftliche Leben der DDR füllt inzwischen Bände. Das ist auch kein
Kunststück, denn die Materialien sind in der DDR ausgearbeitet worden und
liegen nun für jeden verfügbar in den Archiven
des untergegangenen Staates. Aber das ist nur das eine. Zugleich
reflektierten die Zahlen das Maß an Integration von Menschen, die sich ehemals nazistisch
verhielten bzw. der nazistischen Ideologie anhingen. Dass 8 Millionen ehemalige
NSDAP-Mitglieder in Deutschland nach der Zerschlagung des Faschismus nicht von
der Erdoberfläche verschwunden waren, wusste man im Westen wie im Osten. Und
der Osten machte dem Westen auch nicht deshalb Vorwürfe. Die Ostvorwürfe
betrafen die antikommunistische Ausrichtung der Westzonen/BRD, die bewirkte,
dass selbst NS-Verbrecher sukzessive mit offenen Armen empfangen und in auch
verantwortlichen Positionen etabliert und platziert wurden. Die Materialien der
DDR benannten in der BRD NS-Verbrecher, nicht einfache Parteimitglieder: Die
Materialien der BRD benannten DDR-Bürger als Anhänger des Nazismus, die sich in
aller Regel keiner Verbrechen schuldig gemacht hatten.
Leide behauptet in seinem Generalangriff gegen den Antifaschismus der DDR, es
habe in der DDR mehr NS-Täter gegeben als „öffentlich eingestanden werden
konnte, ohne die Selbstlegitimation als Staat der Opfer und Widerstandskämpfer
infrage zu stellen.“ [12] Selbst
wenn es so gewesen wäre: Diese „Nichteingestandenen“ hätten keinerlei Einfluss
auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, die
eindeutig antifaschistisch waren, ausüben können, zumindest beim Gegenteiligen
in der Gefahr, entdeckt zu werden. Was im allgemeinen nicht bedacht wird, das
ist die Besorgnis der Partei- und Staatsführung, die hinter den zu
verschiedenen Zeiten geforderten Informationen z.B. über Konzentrationspunkte
ehemaliger Angehöriger der NSDAP stand. Man wollte schon wissen, wo sich
„Ehemalige“ zusammengezogen beziehungsweise angesammelt hatten und ob z.B. der
17. Juni 1953 tatsächlich aus der Unzufriedenheit der Arbeiter erklärbar war
oder ob gezielt antisozialistische Kräfte dahinter standen. Man wusste sehr
wohl von der nazistischen Belastung der Deutschen auch in der SBZ/DDR. Sonst
hätte es auf diesem Gebiet wohl kaum die existierende Wachsamkeit und Besorgnis
gegeben.
Bemerkenswert ist der von Weinke wie von
Leide gebrauchte unterschiedliche Tonfall bei der Beurteilung der
Integration von Nazis einerseits in das bundesdeutsche System und andererseits
in die sozialistische Gesellschaft. Diese „Eingemeindung“ selbst mit Verbrechen
Belasteter in das bundesdeutsche Herrschaftssystem wird mit zurückhaltend
kritisch-freundlichen und verniedlichenden Worten bewertet, nicht aber
verurteilt. So schreibt Leide, „Beamte mit unschöner Vergangenheit tummelten“
sich im Personal der (West)Polizei. [13] Und
für Weinke mutiert die zurückhaltende Behandlung der Nazis in der BRD lediglich zu einem „legitimatorischen Problem“: “Weil
sich der bundesdeutsche Gesetzgeber langfristig unfähig zeigte, die
schwerwiegenden legitimatorischen
Probleme zu lösen, die sich aus der nahezu en bloc erfolgten Übernahme des schwer verstrickten Berufsstandes
ergaben, entwickelte sich das Thema der ‚unbewältigten Justizvergangenheit’ in
den folgenden zwölf Jahren zu einem
Dauerstreitpunkt der vergangenheitspolitischen Systemkonfrontation. Zugleich
sollte es die Achillesferse aller bundesdeutschen Bemühungen zur Ahndung von
NS- und Kriegsverbrechen bleiben, stellte doch das Weiterwirken NS-belasteter
Richter und Staatsanwälte in der Strafjustiz eine Hypothek dar, die die
Effektivität und Akzeptanz des
strafrechtlichen Aufarbeitungsprozesses erheblich belastete. Das
KPD-Verbot des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 – aus Sicht der
ostdeutschen Parteiideologen der wohl greifbarste Nachweis für das Fortleben
der nationalsozialistischen Ideologie in der westdeutschen Strafjustiz –
bildete lediglich den Auslöser für die ‚Großaktion gegen die wesdeutsche
Justiz.’“ [14]
Ganz anders ist die verbale Diktion, wenn es um den Antifaschismus der DDR
geht. Dann wird scharf geschossen und das Vokabelreservoir des Antikommunismus
eingesetzt. So wird der Versuch der DDR, sich beim Eichmann-Prozess in Israel
einzubringen, als „politischer(n) Missbrauchsversuch“ diffamiert. [15] So
wird das Ansinnen, die Beziehungen zwischen der BRD und der DDR auch in Sachen
Rechtshilfe auf den Stand souveräner und gleichberechtigter staatlicher
Beziehungen zu bringen als Versuch gewertet, sich „in geradezu grotesker
Weise um staatliche Anerkennung“ zu
mühen. [16] So
wird, wenn Prozesse seitens der DDR durchgeführt wurden, behauptet, das seien
„Vorzeigeprozesse, in denen die Strafverfolgung effektvoll inszeniert wurde.“
Fanden keine Prozesse statt, dann waren das für Leide systematische
„Bemühungen, belastete DDR-Bürger aus der öffentlichen Schusslinie zu halten.“ [17] Leide kritisiert, dass 80 ostdeutsche und 310 westdeutsche Mitglieder
der „Leopoldina“ [18] Nazis gewesen waren und
in der DDR unverfolgt leben bzw. wirken konnten. [19] Man
stelle sich die westdeutsche Empörung vor, wenn die DDR rigoros gegen
Mitglieder einer der wenigen noch „gesamtdeutschen“ wissenschaftlichen
Vereinigungen vorgegangen wäre. Die Liste der pausenlos behaupteten
rechtsstaatswidrigen Verfolgungen Deutscher durch die DDR wäre noch um einiges
länger.
Welche Bedeutung der bundesdeutsche antikommunistische Zeitgeist der
Diffamierung des DDR-Antifaschismus beimisst, lässt sich auch aus der Tatsache
ablesen, dass, man muss schon sagen: weltweit, über das Erscheinen des Buches
von Leide berichtet wird. Die teilweise
wortwörtliche Darlegung diverser Meldungen lässt auf ein gezieltes
Vorgehen schließen. [20] Unisono berichten ausländische Medien über
drei bis vier der von Leide genannten Fälle, [21]
wobei die die DDR beleidigenden Begleitworte unisono diffamierend sind. Es ist nicht zu übersehen, dass die
Meldungen insgesamt den Vorgaben der BRD-Medien mehr oder weniger sklavisch
folgen. Man darf bei dieser Sachlage gespannt sein auf die Untersuchungsakten
der bundesdeutschen Amtsstellen und
Geheimdienste, die Nazis einerseits für den Kampf gegen den Sozialismus in der
DDR und andererseits für die „Verteidigung der Freiheit“ der BRD gegen die „kommunistische
Unterwanderung“ nach 1945 „gewannen“ und einsetzten. Das Öffnen der
bundesdeutschen Archive als Pendant zur Öffnung der DDR-Archive wird in der
freiesten Freiheit allerdings wohl noch auf sich warten lassen.
Die „Zubereitung“ der Integration antikommunistisch geprägter Nazis in die
Institutionen des bundesdeutschen Herrschaftssystems erfolgte auf verschiedene
Weise. Wie schrieb doch Norbert Frei: „Betrachtet man die Intransigenz der
Beamtenlobby und führt man sich vor Augen, mit welchen Tricks und
Täuschungsmanövern am Ende sogar die Mehrzahl der Gestapoleute in ihre alten
Beamtenrechte eingesetzt wurde, so wird man von einem vergangenheitspolitischen
Dammbruch sprechen müssen.“ Und in einer Anmerkung zu dieser Passage heißt es,
dass es damals wohl „entgangen“ sei, dass der Passus des 131er-Gesetzes über
die Ausschließung der Gestapobeamten im Anfangsteil des umfangreichen Gesetzes
nicht in Verbindung mit einer Schlussbestimmung gelesen wurde, die diejenigen
ausdrücklich einbezog, die ‚von Amts wegen’ zur Gestapo versetzt worden waren.
Das aber waren, da es sich eine eilends
aus den Reihen der Kriminalpolizei aufgebaute Behörde handelte, gerade die dort
leitenden älteren Kräfte.“ [22] Und
Leide bezeichnet die bundesdeutsche Gesetzesnovellierung vom Oktober 1968, mit
der NS-Verbrechen kaum noch verfolgbar waren, weil eigentliche Mittäter zu
bloßen Gehilfen erklärt wurden, denen niedrige Beweggründe regelmäßig nicht
angelastet wurden, als „erneute Blamage des westdeutschen Konkurrenten“. [23] Tatsächlich war diese Gesetzesänderung
wohlbedachte Absicht. Mit der Neufassung des § 50 Abs. 2 StGB (heute § 28) vom Oktober 1968 an einer versteckten Stelle
des Ordnungswidrigkeitsgesetz wurden Naziverbrecher faktisch amnestiert. [24] Der
§ 50 (jetzt § 28 StGB) war kein “Fehler“ und keine „Blamage“ sondern eine
gezielte und beabsichtigte Entlastung von Naziverbrechern.
[1] Olaf Kappelt: Braunbuch DDR – Nazis in der DDR, Berlin 1981, S. 10
[2] Z.B. Ehemalige Nationalsozialisten in Pankows Diensten, 5., ergänzte Auflage. Zusammengestellt und herausgegeben vom Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen, Berlin 1965
[3] Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005, S. 51
[4] Vgl. Detlef Joseph: Nazis in der DDR, Berlin 2002, S. 215 ff
[5] Ralf Georg Reuth: Aufwendige Kampagnen. In: Welt am Sonntag v. 04. 12.2005
[6] Leide: ....., S.414
[7] ARD Kulturreport 16.10.2005 – „Brisante Enthüllungen“
[8] www.bim.de/cgi-bin/sehenswertes.pl?id=13352
[9] Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn-München-Wien-Zürich 2002, S. 408, Anm. 38
[10] Weinke, ...., S. 21
[11] Die Welt v. 01. Juli 1994
[12] Leide: ...., S.124
[13] Leide..., S. 79
[14] Weinke, ..., S. 76
[15] Leide, ..., S. 81, Anm. 302
[16] Leide ..., S. 94
[17] Leide ..., S. 358
[18] „Leopoldina“ hieß die nach Kaiser Leopold I (1640-1705) benannte und von ihm mit Rechten und Privilegien ausgestattete älteste Deutsche Akademie der Naturforscher., die 1986 rund 1000 Mitglieder hatte. Ihr Sitz befasnd sich in Halle/DDR und sie war „gesamtdeutscher“ Natur.
[19] Leide, ... S. 71
[20] Jeweils 2005: Berliner Morgenpost v. 17.10.; Der Spiegel Nr. 42 v. 17.10.; Die Welt v. 18.10.; Medienmodul v. 23.10.; Terra brasil v. 27.10.; AFP/Berlin v. 31.10.; Lifestyle News v. 31.10.; Europa-Press 31.10.; News Telegraph v. ß1.11.; Deutsche Welle (engl.) v. 31.10.; The Rhin river v. 31.10.; Daily Telegraph (London) v. 01.11.; Deutschlandradio Kultur v. 07.11.; El Mundo v. 20.11.
[21] Es handelt sich um die Fälle Hans Sommer, Josef Settnik, Willy Läritz und Harald Heyns
[22] Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 19 u. Anm. 27, S. 20
[23] Leide, ..., S.
[24] Jörg Friedrich: Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main 1988, S.411