Erklärung zur Wahl des Bundespräsidenten
Freiheit, die wir meinen
Joachim Gauck wird der nächste Bundespräsident sein.
Die Kompetenz, seine Glaubwürdigkeit und persönliche Integrität, die ihm dafür
zugesprochen werden, beziehen sich auf sein Leben in der DDR. Dass Joachim
Gauck anscheinend nicht zur politischen Klasse gehört, erhöht zusätzlich die
Erwartungen an ihn. Wer kritische Einwände gegen den Präsidentschafts-Kandidaten
vorbringt, muss mit empörten Reaktionen rechnen.
Der Glanz des Unpolitischen, der den Kandidaten
umgibt, seine Rolle als moralische Anstalt, die mit seinem Amt als Pfarrer in
der DDR begründet wird, verdecken, dass Gauck seit
1990 eminent politische Positionen übernommen hat.
Wenn die Kritik an seinem Wirken als Politiker und
öffentliche Person regelmäßig mit dem Argument seiner Diktaturerfahrung
abgewehrt wird, entlässt man ihn aus der Verantwortung, die er trägt.
Wir sind wie Joachim Gauck durch diese
Diktaturerfahrung gegangen. Uns hat, anders als ihn, nicht der Mangel an
Freiheit am stärksten geprägt, sondern unser Kampf, unser Bemühen um ihre
Durchsetzung in der DDR. Unser Freiheitsbegriff ist mehr als eine persönliche
Selbstbehauptung, die am Ende nur zu einer Freiheit für Privilegierte führt.
Wenn wir in der DDR in unseren Freiheits-Texten von Frieden, Gerechtigkeit und
der Bewahrung der Schöpfung sprachen, haben wir damit auch eine grundsätzliche
Kritik an der modernen Industriegesellschaft verbunden.
Gaucks Denken über Freiheit ist von dem Begriff
individueller „Selbstermächtigung“ bestimmt. Uns geht es um die aktive
gesellschaftliche Öffnung und um die Freiheit aller. Es kommt nicht nur auf
eine Haltung der Freiheit an, sondern auf eine Verfassung der Freiheit.
Anpassung war für uns in der DDR keine Option. Wir haben Bevormundungen
widersprochen, Freiräume mit anderen und für andere geschaffen und
gesellschaftliche Veränderungen eingefordert. Diese Erfahrungen aus der DDR
ermutigen uns, kritische Bürger im vereinten, demokratischen Deutschland zu
bleiben.
Joachim Gauck hat die Erwartungen derjenigen
beflügelt, die durch die Beschwörung des Antikommunismus die Freiheit
verteidigen wollen. Die dringend erforderliche Kompetenz des künftigen
Bundespräsidenten kommt aber nicht aus der Beschwörung der Vergangenheit,
sondern aus der Fähigkeit, drängende Fragen der Zukunft zu thematisieren:
Wie schaffen wir es, den Angriff der Finanzmärkte auf
die Demokratie, unsere Lebensform der Freiheit, abzuwehren, den Skandal
wachsender Verarmung vieler bei explodierendem Reichtum weniger nicht länger
hinzunehmen, den Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen zu beenden, das
Zusammenleben der Menschen in kultureller und religiöser Vielfalt zu
ermöglichen und neue Konflikte friedlich zu lösen?
Diesen Bundespräsidenten werden wir daran messen, ob
und wie er sich die Freiheit nimmt, die Politik angesichts dieser fundamentalen
Herausforderungen in die Verantwortung zu nehmen.
Berlin, am 8. März 2010
Unterzeichner:
D. Dr. Heino Falcke, Erfurt; Almuth Berger, Berlin;
Joachim Garstecki, Magdeburg; Wolfram Hülsemann, Berlin; Heiko Lietz, Schwerin; Ruth Misselwitz,
Berlin, Dr. Sebastian Pflugbeil, Berlin, Dr. Edelbert Richter, Weimar; Dr. h.c.
Friedrich Schorlemmer, Wittenberg; Hans-Jochen Tschiche, Satuelle;
Dr. h.c. Christof Ziemer, Berlin