Ungekürzte Fassung eines am 06.02.2010 in der "jungen Welt" (Wochenendbeilage) veröffentlichten Interviews
Am 8. Februar vor 60 Jahren
wurde das Ministerium für Staatssicherheit gegründet. Nicht ganz zufällig erscheint dieser Tage in der
edition ost ein 400-Seiten-Buch mit dem Titel »Fragen an das MfS. Auskünfte
über eine Behörde«. Herausgegeben wird es von Generaloberst a. D. Werner Großmann und
Generalleutnant a. D. Dr. Wolfgang Schwanitz, den beiden letzten lebenden – für
spezielle Bereiche verantwortlichen - Stellvertretern des letzten Ministers für
Staatssicherheit.
Eine in Berlin erscheinende
Boulevard-Zeitung kündigte dieser Tage ganzseitig die Publikation mit der
Bemerkung an: »Es sind Fragen, die von mehreren Fachautoren
selbstkritisch beantwortet werden.« Das klingt doch ganz vernünftig?
Großmann: Naja, die Häme folgt doch
auf dem Fuße: »Was Großmann unter
›selbstkritisch‹ versteht, macht er im Vorwort klar, wo er sich über die
öffentliche Ächtung des MfS und dessen Mitarbeiter beschwert.« Unter normalen
Verhältnissen wäre diese Feststellung sachlich völlig korrekt, wenn auch in der
Sache unnötig. Aber wir haben keine »normalen Verhältnisse«. Selbst durchaus
Richtiges wird zur Denunziation, wenn man es unter die Überschrift stellt:
»Mielkes graue Krieger. Frühere Spitzel-Chefs verklären die Arbeit des MfS.«
Schwanitz:
Ich sehe es mehr dialektisch: Das ist gleichzeitig auch Werbung.
Ohne die auch Autoren nicht auskommen. Es gibt nicht
wenige Mitmenschen, die in der Informationsflut ertrinken, sich vom Mainstream
gleichsam treiben lassen. Insbesondere jene, die nichts anderes kennen als die
bürgerliche Propaganda, die ihnen im Fernsehen, in den Printmedien und im
Rundfunk 24 Stunden täglich an sieben Tagen in der Woche auf die Sinne
trommelt.
Schwanitz:
Darum haben wir ja auch dieses Buch auf den Weg gebracht. Es wendet sich
vornehmlich an Menschen, insbesondere junge, die einerseits nur solche
Darstellungen über das MfS kennen, andererseits zunehmend skeptisch diese
offenkundig tendenziösen und hysterischen Darbietung rezipieren.
Großmann:
Die Fragen wurden auf Foren, bei Lesungen oder anderen Begegnungen gestellt,
sind also von der Art, daß mancher von uns den Kopf schüttelte, weil man sich
sagte: Das weiß man doch, oder: Das sollte man doch wissen! Nein, wer heute
unter 35 ist, kann es nicht mehr wissen, wie die DDR und das MfS verfaßt waren.
Positiv an dem Vorgang jedoch ist: Wer fragt, gibt sich mit den bisherigen
Auskünften offensichtlich nicht zufrieden. Er zweifelt. Wir sagen: mit Recht!
Also sollten Zeitzeugen, die es besser wissen als die Lohnempfänger der
Erinnerungsindustrie, welche die politisch verordnete, paranoide Hetze gegen
die DDR und dessen MfS betreiben, offen und ehrlich Mitteilung machen, so lange
sie dazu noch in der Lage sind. Wir müssen den Zeitgeist sichtbar machen und
entlarven.
In dieser Hinsicht überraschen in der Tat die rund
zweihundert Fragen. Die meisten scheinen nämlich vom Zeitgeist durchzogen. »Es
heißt, die Stasi sei von alten Nazis gegründet, dort seien viele alte Kameraden
beschäftigt worden?« Oder: »Die Stasi hat das Postgeheimnis verletzt. Warum?«
Oder: »War jedes Mittel recht, um an Informationen zu kommen?« Oder: »Hat die
Stasi gefoltert?« So etwas hätten Sie doch gewiss vor Jahren als Provokation
betrachtet?
Großmann:
Ich reklamiere für mich und Wolfgang, schon immer auf jede Frage sachlich
reagiert zu haben.
Schwanitz:
Zugegeben, solche Fragen klingen in manchen Ohren ein wenig schrill. Nicht,
weil sie so direkt sind, sondern weil sie auf Unterstellungen und Unwahrheiten
fußen. Es ist, wenn man so will, das Resultat von zwanzig Jahren Meinungsmache
und kollektiver Verdummung.
Und wie reagieren Sie und die anderen zwei Dutzend
Autoren auf solche Fragen?
Schwanitz:
Kurz, sachlich und verständlich. Und überzeugend, wie ich hoffe. Wir lassen
kein Thema aus.
Nehmen wir doch beispielsweise die Frage nach den Wurzeln
des MfS.
Schwanitz:
Nach Möglichkeit beziehen sich die Autoren auf nachprüfbare Quellen von
außerhalb, so auch hier. Auf eine entsprechende Frage der FDP-Fraktion
antwortete die Bundesregierung am 29. Januar 2008: »Nach den
Einstellungsrichtlinien der Volkspolizei und des MfS war die Einstellung von
NSDAP-Mitgliedern nicht gestattet. Nach einer Stichprobenanalyse für den
Mitgliederbestand des Jahres 1953 konnten keine NSDAP-Mitglieder festgestellt
werden.
Frage: Wie viele Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes
der DDR waren Angehörige des Geheimdienstes, Militär- oder Polizeiapparates des
nationalsozialistischen Terror-Regimes?
Antwort der Bundesregierung:
Die Beschäftigung von Polizisten und Geheimdienstmitarbeitern des Dritten
Reiches als hauptamtliche Mitarbeiter widersprach den Einstellungsrichtlinien
des MfS. Daran hat sich die DDR-Staatssicherheit prinzipiell gehalten. [...] Die in der älteren Forschungsliteratur genannten Gegenbeispiele
sind anhand der BStU-Akten durchweg falsifiziert (als Fälschungen erkannt – d. Hrsg.) worden.« Es hat nicht einmal
ehemalige Offiziere der Wehrmacht im MfS gegeben.
Bei der Lektüre der Auskünfte ist die Souveränität
auffällig, mit der selbst über Problematisches berichtet wird. Das ist in der
Tat ein qualitativer Fortschritt zu früheren Darstellungen, etwa zum Zweibänder
von 2002 »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS«.
Großmann:
Ich war seinerzeit nicht an dieser Arbeit beteiligt, es war ein Projekt der Abwehr, nicht der Aufklärung. Dennoch
stand und stehe ich dazu. Darin wurde Grundsätzliches über das MfS ausgesagt.
Und wer seither zum Thema wissenschaftlich oder seriös publizistisch arbeitet,
kommt an diesem Standardwerk nicht vorbei. Aber genau aus diesem Grunde wäre
eine Wiederholung, selbst eine modifizierte, überflüssig gewesen. Gemeinsam
haben ehemalige Mitarbeiter der Abwehr und der Aufklärung nach einem anderen,
neuen Zugang zur Materie gesucht, der das öffentliche Wissen oder Nichtwissen
anno 2010 in Rechnung stellt. Ich meine,
dass wir ihn gefunden haben. Ob daß die Leser auch so empfinden, werden wir
bald sehen und hören.
Ich will noch einmal auf die Gründung des MfS vor 60
Jahren zurückkommen. Mußte es gleich ein ganzes Ministerium sein? Hätte diese
Aufgaben nicht, wie auch im Buch gefragt wird, die Polizei übernehmen können?
Schwanitz:
Wenn man diese Frage mit Ja beantwortete, müßte man sofort die nächste stellen:
Warum gibt es dann noch den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für
Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst, den Staatsschutz und
zivile Sicherheitsdienste? Es gibt doch die Polizei. Offenkundig fühlt sich der
Staat, in welchem wir heute leben, von inneren und äußeren Feinden bedroht. Um
wie vieles mehr traf dies während der Zeit des Kalten Krieges und der
Blockkonfrontation zu. Die DDR, seit dem ersten Tag ihrer Existenz nachweislich
bedroht, handelte damals logisch und zwingend, wenn sie sich ebenfalls Schutz-
und Sicherheitsorgane gab.
Und warum handelten die so geheim, also konspirativ?
Großmann:
Im August 1949, im ersten Bundestagswahlkampf, wurde der CDU-Vorsitzende in den
Westzonen, Konrad Adenauer, später Bundeskanzler, gefragt: »Wie wollen Sie die
Wiedervereinigung erreichen?« Er antwortete: »Mit konspirativen Mitteln.« Nach heute gängiger Lesart – ich zitiere die
Internet-Enzyklopädie Wikipedia – »verbindet sich mit dem Begriff der
Konspiration durch die Stasi besonders der heimtückische Versuch, das
Selbstvertrauen einer Person zu zerstören, indem Personen ihres Freundeskreises
oder der Ehepartner für Spitzeltätigkeit angeworben und gezielt berufliche
Mißerfolge hergestellt wurden«. Das ist natürlich hanebüchener Unsinn in jeder
Hinsicht. Jegliche geheimdienstliche Tätigkeit, das sagt bereits ihr Name,
erfolgt gedeckt und nicht öffentlich. Auch westliche (»demokratische«)
Nachrichtendienste arbeiteten und arbeiten konspirativ.
Und deren Auftrag war, zumindest bis 1989, auch klar
benannt. Man konnte es am 20. Juni 1952 im »Rheinischen Merkur« nachlesen.
Bundeskanzler Adenauer erklärte dort apodiktisch: »Es gibt nur ein Deutschland,
das deutsche Bundesrepublik heißt, und was östlich von Elbe und Werra liegt,
sind unerlöste Provinzen.« Die Aufgabe heiße nicht Wiedervereinigung, »sondern
Befreiung des Verlorenen«.
Schwanitz:
Und »Befreiung« hieß Angriff. Dagegen setzten wir uns in der DDR zur Wehr. In
diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, daß es einen solchen Auftrag in
der DDR nie gegeben hat! Zu keiner Zeit wurde von einer »Befreiung« der
Bundesrepublik geträumt oder gar geredet. Niemand dachte in der DDR daran, an
der europäischen Nachkriegsordnung zu rütteln. Der Status quo wurde anerkannt.
Die Grenzen galten als unverletzlich. Der Auftrag der bewaffneten Organe
inklusive MfS lautete: Schutz des friedlichen Aufbauwerkes und Sicherung der
Errungenschaften. Dies erfolgte auch mit den spezifischen Mitteln eines
Geheimdienstes. Personalbestand und Struktur des MfS wurden im Laufe der Jahre
den politischen Lagebedingungen angepaßt. Ob dabei stets die richtigen
Entscheidungen getroffen wurden, steht auf einem anderen Blatt.
Das aber ist der Punkt. War das legitime
Sicherheitsbedürfnis nicht überzogen? Und wozu mußte das MfS zur Repression der
eigenen Bevölkerung eingesetzt werden?
Großmann:
Ich meine nicht, dass unser Sicherheitsbedürfnis überzogen war. Es war
angesichts der realen Bedrohung begründet. Überzogen war die Neigung, den
Sicherheitsapparat aufzublähen und diesen mit der Lösung innenpolitischer
Probleme zu beauftragen. Gesellschaftliche Konflikte hätten durch die
politische Führung des Landes und nicht durch das MfS bearbeitet und gelöst
werden müssen. Die Menschen wollten die DDR doch nicht wegen ihrer Sicherheits-
oder Friedenspolitik verlassen, sondern aus anderen Gründen. Diese hatten wenig
bis nichts mit dem MfS zu tun und konnten folglich auch nicht durch uns behoben
werden. Die DDR ist – auch wenn man dies seither suggeriert – nicht am MfS
zugrundegangen. Oder weil es versagt hat. Das MfS hat am 17. Juni 1953 so wenig
versagt wie im Herbst 1989. Das sage ich an die Adresse der Kritiker in allen
Lagern. Wir waren nicht Staat im Staate, sondern handelten im Auftrag der SED-
und Staatsführung.
Schwanitz:
Nicht als hirnlose Marionetten! Die Mehrheit der hauptamtlichen wie der
inoffiziellen Mitarbeiter des MfS handelte aus politischer Überzeugung. Wir
waren nicht nur von der Notwendigkeit des Schutzes des Sozialismus überzeugt,
sondern auch davon, daß die sozialistische Gesellschaft in der DDR nichts
Statisches war und sich entwickelte. Trotz vieler Unfertigkeiten, Irrtümer und
Fehler stellte sie objektiv einen Fortschritt gegenüber dem kapitalistischen
System dar. Fehler und Irrtümer lassen sich aber nur beheben, wenn man dazu
Gelegenheit hat. Wenn der Kopf ab ist, muß man sich über die Frisur keine
Gedanken mehr machen, lautete ein sarkastischer Spruch. Wir wollten mit unserer
Arbeit dazu beitragen, daß der Kopf oben blieb. Die meisten MfS-Angehörigen
wollten einen anderen, einen besseren Sozialismus als den, den wir hatten. Aber
das setzte voraus, dass der Sozialismus, den wir bereits geschaffen hatten,
weiter existierte. Ein neuer Anlauf unter den jetzigen Bedingungen wird
ungleich schwerer. Die alte Ordnung wird sich nicht so friedlich aus der
Geschichte verabschieden wie wir. Selbst in unserer Niederlage offenbarte sich
der humanistische Charakter der sozialistischen Gesellschaft.
Da wird jeder zustimmen. Doch dann kommt: Aber warum
wurde dann jeder Kritiker als Feind betrachtet und auch so behandelt?
Schwanitz:
Nicht jeder, aber zu viele. Wir räumen selbstkritisch ein, daß wir durch dieses
Mißtrauen auch Feinde schufen. Wir gingen bei der Feststellung von Gegnern
prinzipiell vor. Und Prinzipien führen mitunter zur Vereinfachung. Etwa bei der
Klärung der Frage: Wer ist Freund, wer Feind? Das führte zuweilen zum falschen
Schluß, daß einer, der nicht für uns,
also für die DDR, war, objektiv gegen uns
stand. Das war natürlich überzogen und darum falsch.
Nicht jeder DDR-Bürger, um
das deutlich zu sagen, stand unter Generalverdacht. Aber zu viele wurden
verdächtigt, nicht hundertprozentig hinter der DDR zu stehen. Dieses Mißtrauen
war einer der Sargnägel der DDR. Ich meine ohnehin, daß sich die Aufgaben des MfS auf die
Spionage- und die Terrorabwehr sowie die Bekämpfung verfassungswidriger
Aktivitäten hätten beschränken sollen. Das kleine Häuflein Oppositioneller
gefährdeten doch nicht die Sicherheit unseres Staates.
Späte Einsicht.
Schwanitz:
Ja. Das MfS wurde zum Vollstrecker einer verfehlten Sicherheitspolitik gemacht.
Es hat objektiv dazu beigetragen, die Entfaltung der sozialistischen Demokratie
und konstruktiver Kritik zu behindern. Dadurch wurde eine notwendige
Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ursachen, weshalb Menschen
opponierten oder ausreisten, verhindert. Und da wir schon bei unseren
grundsätzlichen Fehlentwicklungen sind: Mit der Konzentration von Aufgaben, die
in anderen Staaten von verschiedenen speziellen eigenständigen Organen ausgeübt
werden, wuchs auch die Machtfülle des MfS. Was hatte beispielsweise die
Militärabwehr, die Außensicherung von Botschaften, die Passkontrolle, das
Chiffrier- und Nachrichtenwesen und das Wachregiment mit der geheimdienstlichen
Arbeit des MfS zu tun? Nichts! Auch die HV A hätte ein eigenständiges Organ
sein können.
Und dann die Sache mit den IM.
Das war zu breit angelegt,
auch wenn sich die operative Arbeit auf Schwerpunkte konzentrierte. Es gab
mitunter Überreaktionen beim Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern und
operativen Hilfsmitteln. Oft war das auch noch dumm: Mancher Oppositionelle
wurde erst durch uns berühmt. Und wenn wir schon über unsere Schwachpunkte
reden: Die mangelnde demokratische Kontrolle des MfS und die fehlende
Öffentlichkeitsarbeit in den Medien gehören auch dazu.
Und damit sind wir auch schon bei der »flächendeckenden
Überwachung“ und dem »Unrechtsstaat“.
Schwanitz:
Seit 1990 wird die Mär verbreitet, aus Angst vor dem Volke habe das MfS
praktisch alles über alle DDR-Bürger ermittelt, ausgewertet und gespeichert. Zu
einer Bespitzelung des ganzen Volkes, um das mal ganz nüchtern festzustellen,
fehlten uns Technik und Personal. Und wozu auch? Wir haben nicht
flächendeckend, sondern schwerpunktmäßig gearbeitet. Die BStU räumt ein, dass
85 Prozent der IM zur vorbeugenden Sicherung von Schwerpunktbereichen
eingesetzt wurden, d. h. zur Abwehr von Gefahren und Schäden in Kombinaten,
Betrieben und anderen volkswirtschaftlich bedeutsamen Bereichen. Also eben
nicht, wie es immer heißt, zur »Bespitzelung« von Personen.
Großmann:
»Flächendeckende Überwachung« ist und bleibt ein ideologischer Kampfbegriff zur
Diffamierung des MfS. Wie eben auch diese unsinnige Vokabel vom
»Unrechtsstaat«. In der Süddeutschen
Zeitung ist am 26. April 2009 der britische Historiker Tony Judt mit der
Bemerkung zitiert worden, die DDR habe sich nicht vom mörderischen
Hitlerfaschismus unterschieden, die Bezeichnung »Unrechtsregime« sei
»verharmlosend«. Die Staatssicherheit habe »nicht nur die Funktion und Praxis
der Gestapo, sondern viele ehemalige Gestapoleute und Informanten übernommen«,
so Judt. »Politische Opfer des neuen Regimes (womit die DDR gemeint ist – d. Hrsg.) wurden von Ex-Polizisten
verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und
Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von
ehemaligen KZ-Wärtern bewacht.« Und so ein Schwachsinn wird in einer als seriös
geltenden Zeitung verbreitet.
Das Besondere an den »Verbrechen der Stasi« besteht
darin, daß sie nicht konkret benannt werden. Es geht meist nebulös von
»Untaten« die Rede, die unbedingt aufgeklärt werden müßten.
Schwanitz:
Genau. Darum hatte Rechtsanwalt Friedrich Wolff 2007 in einer Petition an den
Bundestag gefordert, das nach 1990 von der BRD-Justiz festgestellte
»DDR-Unrecht« doch endlich einmal öffentlich zu machen, konkret zu benennen und
aufzulisten. Ihm wurde geantwortet, daß so etwas den »Opfern« nicht zuzumuten
sei. So kann also weiter jeder behaupten, daß es solche Verbrechen gegeben
habe, ohne aber dafür Beweise zu erbringen. Viele dieser Behauptungen haben
sich überdies als reine Erfindungen
herausgestellt (Auftragskiller, Folter, Kannibalismus,
Kinderpornografie, Unterstützung von Osama bin Laden und Saddam Hussein,
Zwangseinweisungen in die Psychiatrie aus politischen Gründen etc.).
Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, einst Leiter der Abteilung I der zur Verfolgung von sogenanntem
DDR-Unrecht geschaffenen Sonderstaatsanwaltschaft II Berlin, erklärte
folgerichtig: »Nach dem Stand der Ermittlungen ist eine Bewertung des MfS als
kriminelle Organisation nicht mehr zu halten.« Die Summe von »Exzessen« sei
nicht auffallend und nicht größer als in vergleichbaren Behörden der
Bundesrepublik. Dennoch behauptete 2009 beispielsweise der langjährige
SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel in einem Film des NDR über Erich Honecker,
daß dieser völlig zurecht angeklagt worden sei, schließlich sei er »für die Exzesse der Stasi
verantwortlich«.
Großmann:
Der letzte Vizepremier der DDR, Rechtsanwalt Dr. Peter-Michael Diestel, sah
nach Erklärungen wie der von Brocher das MfS »juristisch rehabilitiert«.
Diestels Auffassung wird offenkundig nicht von allen
hierzulande geteilt. Der erwähnte Vogel, welcher in den 80er Jahren mindestens
einmal im Jahr freundschaftlich mit Honecker in der DDR parlierte, ist nur
einer, der das heute ganz anders sieht. Zwanzig Jahre nach dem »Fall der Mauer«
forderte Walter Momper, Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, in einem
ND-Interview, »es müssen die Taten offengelegt und darüber gesprochen werden«.
Schwanitz:
Da holpert nicht nur das Deutsch, sondern vor allem die Logik. Seit zwanzig
Jahren wird nunmehr »offengelegt« und darüber gesprochen. Der/die seit 1992
tätige »Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik« bekommt dafür jährlich an die 100
Millionen Euro Steuermittel. Es existiert ein Netzwerk von Forschungsverbünden
und »Gedenkstätten«, die nichts anderes machen als fortgesetzt »Taten«
offenzulegen. Die Blätter füllen ihre Spalten seit Jahrzehnten, kein
Fernsehsender ohne »Enthüllungen« und mehrteilige Dramoletten. Die Justiz hat
intensiv ermittelt, gegen über 100.000 Ostdeutsche – darunter auch Angehörige
des MfS – wurden Verfahren eingeleitet. Am Ende wurden 289 Personen verurteilt,
davon 19 mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Unter diesen Verurteilten
waren ganze 20 beim MfS. Zwölf erhielten eine Geldstrafe, acht eine
Freiheitsstrafe, wovon sieben zur Bewährung ausgesetzt wurden. Es gab nicht
einen einzigen nachweisbaren Fall von Mord, Folter, Zwangsadaption oder
Einweisung in die Psychiatrie – also kriminelle Vorfälle, von denen fortgesetzt
behauptet wird, es habe sie gegeben.
Großmann:
Auf dieses Argument wird mit der Bemerkung reagiert, so sei eben der
Rechtsstaat: Er könne nur beweisen, was beweisbar ist, im Zweifelsfalle
entscheide er zugunsten des Angeklagten. Das behauptete erst unlängst wieder
Vera Lengsfeld lautstark auf einer Veranstaltung in der jW-Ladengalerie, als
Gotthold Schramm und Herbert Kierstein ihr Buch »Freischützen des Rechtsstaats«
vorstellte.
Mit solchen Ausflüchten wie
auch nebulösen Forderungen nach »Offenlegung der Taten« wird suggeriert, dass
»da« noch etwas wäre, was bislang verborgen und vertuscht worden sei. Und weil
auch das ins Leere läuft, fügt man den Erfindungen an: Es hätte ja sein können!
Es gibt keinen Abschnitt der
Weltgeschichte, der derart intensiv durchforscht wurde wie die 40 Jahre DDR und
ihre Institutionen. Alle Archive sind seit Jahrzehnten offen. Da kommt nichts
mehr. Aber warum wohl tut man so, als wäre da insbesondere beim MfS noch viel
zu enthüllen und zu entdecken?
Diese Frage ist rhetorisch, sie kann sich jeder selbst
beantworten. Mir scheint, daß die Rufe »Haltet den Stasi-Dieb!« immer lauter
werden, je offensichtlicher die Defizite dieser bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft werden.
Schwanitz:
Ja. Da überrascht es denn auch kaum, wenn die Bundesregierung Ende 2009 auf
Anfrage beispielsweise einräumt, daß auf der Basis der
Interzonenüberwachungsverordnung vom 9. Juli 1951, die bis zum 31. Dezember
1991 (!) galt, »Postsendungen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland bis
zur Wiedervereinigung am 3. Oktober kontrolliert wurden«.
Nach Hochrechnungen des
Freiburger Historikers Josef Foschepoth sind allein bis 1968 etwa 250 bis 300
Millionen Sendungen durch westdeutsche und amerikanische Stellen »zensiert, oft
sogar vernichtet worden«. Zensur bedeutete damals Kontrolle. Postkontrolle gab
es jedoch nur bei der »Stasi«. Man
erinnere sich des Oscar-geehrten Films »Das Leben der Anderen«. Auf den wird im
Buch natürlich auch eingegangen.
Das MfS wurde keine 40 Jahre alt. Seit zwanzig Jahren ist
es Geschichte. Ist es auch tot?
Schwanitz: Mausetot
als Institution. Als Thema aber lebendiger denn je, wie mir scheint.
Großmann:
Was nicht nur an den Geschichtsverfälschern und Lügenverbreitern liegt. Indem
wir ihnen öffentlich widersprechen, müssen sie sich damit auseinandersetzen.
Mit Häme auf dem Boulevard allein ist es nicht getan.