Horst
Schneider
Prof.
em. Dr. sc. Phil.
Dresden, 6. Januar 2013
In der Sächsischen Zeitung vom 5./6. Januar 2013 veröffentlichte Oliver Reinhard auf einer ganzen Seite den Artikel „Der nette Doktor von nebenan“. Der „nette Doktor“ entpuppt sich – dank Reinhard – als KZ-Arzt von Auschwitz Horst Fischer. Ich kenne die Reaktion vieler empörter Dresdner auf diesen Artikel, will mich aber auf Fragen beschränken.
Erstens: Ist die „Würdigung“ des „netten
Doktors“ mit dessen 100. Geburtstag und der Tatsache zu begründen, dass Horst
Fischer Dresdner war, oder ist zu erwarten, dass Personen dieser Qualität bei
runden Geburtstagen bevorzugt „gewürdigt“ werden? Sollte Horst Fischer eine
Ausnahme sein, wäre die Frage nach den Gründen unabdingbar.
Zweitens: Könnte es sein, dass die
„Würdigung“ Horst Fischers Teil der verordneten Verteufelungskampagne gegen die
DDR-Geschichte ist? Der „nette Doktor“ hatte bis zu seiner Verhaftung 1965
unerkannt und unbehelligt als angesehener Arzt in Spreenhagen in der Nähe
Berlins gelebt. Ist den Staatsorganen der DDR etwas vorzuwerfen?
(In der BRD praktizierten „Mörder in
Weiß“ nach 1945 ungehindert, auch wenn ihre Verbrechen aus der Nazizeit den
Behörden bekannt waren.)
Drittens: Reinhard behauptet, der Prozess sei
eine „Schau-Veranstaltung“ gewesen: „Dieser Auschwitz-Prozess war ein Lehrstück
des Umgangs mit NS-Verbrechern im Kalten Krieg.“ „Lehrstück“ – für wen? War der
„kalte Krieg“ für die Nazi-Verbrechen und deren Sühne verantwortlich?
Viertens: Reinhard urteilt für die sechziger
Jahre: „Zu jener Zeit war die DDR in Sachen NS-Aufarbeitung gegenüber der BRD
ins Hintertreffen geraten. Nach zahlreichen Verfahren gegen wahre und
vermeintliche (?) NS-Verbrecher in den unmittelbaren Nachkriegsjahren hatte man
sich hüben wie drüben zunehmend auf die Integration mutmaßlich geläuterter
Ex-Nazis in die neue, sich konsequent antifaschistisch gebende Gesellschaft
verlegt.“ Das Maß der Geschichtsklitterung wird unerträglich. „Hüben wie
drüben“ gab es eine Gesellschaft, die sich antifaschistisch „gab“? Hat Reinhard
nie etwas von der 68er Bewegung gehört? Hat er nie die Nachkriegs-Eliten in
beiden deutschen Staaten verglichen? In der DDR standen an der Spitze
Widerstandskämpfer, Exilanten, KZ-Überlebende. Im SED-Politbüro saßen u. a.
Juden wie Hermann Axen, Albert Norden (Sohn eines
Rabbis), Horst Sindermann.
Adenauers Gehilfen waren frühere
führende Nazi-Verbrecher wie Globke, Gehlen,
Heusinger, Oberländer usw. Gerade jetzt sind (65 Jahre nach Kriegsende)
Dokumentationen erschienen, in denen das Fortleben der Nazi-Elite im Bonner
Außenministerium, im Gehlen-Geheimdienst, in der Justiz und der Polizei, im
Filmwesen und anderswo nachgewiesen werden. Ob die SZ solche Arbeiten gebührend
zur Kenntnis nimmt, mag der kundige Leser beurteilen.
Fünftens: Reinhard tadelt die „Schauprozesse“
und „Kampagnen“ der DDR gegen „West-Politiker mit braunen Westen“. Was ist
daran zu tadeln? Entscheidend ist doch, ob die DDR-Publizisten die Wahrheit ans
Licht brachten. Nie hat jemand Albert Norden und seine Mitarbeiter eine
Unlauterkeit nachweisen können. Das gilt bis heute. Selbst Reinhard vermerkt:
„Nur selten mussten die Beweise manipuliert oder gefälscht werden.“
Welche „selten“ gefälschten oder
manipulierten Beweise hat denn Reinhard entdeckt? Er würde gut honoriert und
berühmt werden, wenn er etwas von seinen Erkenntnissen mitteilt.
Sechstens: Reinhard sieht einen Zusammenhang
zwischen dem Prozess gegen Fischer 1966 und dem Antrag der DDR auf Aufnahme in
die Vereinten Nationen. Interessant: Mit einem Prozess gegen einen Nazimörder
konnte die DDR – laut Reinhard – die Staatengemeinschaft positiv beeinflussen.
Die Wirklichkeit war anders.
Der Aufnahmeantrag mit der
Unterschrift Walter Ulbrichts lag bei Prozessbeginn schon vier Jahre in New
York. Wenn die Aufnahme beider deutscher Staaten im gleichen Verfahren erst
1973 erfolgte, hat das einen ganz simplen Grund: Erst musste die BRD auf die
Hallstein-Doktrin verzichten und selbst einen Antrag stellen. Die Redakteure
der SZ kannten diese Zusammenhänge 1966 sehr wohl, wie ich von ihnen selbst
(als damaliger Autor) weiß.
Reinhard weiter: „Obendrein sollte
als wahrer Hintermann der NS-Untaten der Kapitalismus hingestellt werden, in
Gestalt des Industriekonglomerats IG Farben.
Genauer: In Gestalt von dessen
ehemaligen Führungspersonen, von denen etliche ihre Karrieren ebenfalls in
Westdeutschland hatten fortsetzen können. In dieser Situation kam der Fall
Fischer wie gerufen. Endlich, nach zwei Verfahren in Frankfurt am Main, hatte
auch die DDR ihren Auschwitz-Prozess.“
Jetzt wird das Bildungsniveau
Reinhards kriminell. Die DDR brauchte einen Auschwitz-Prozess, um die
„NS-Untaten der IG-Farben zu entlarven“? Hatte das nicht schon der Nürnberger
Prozess getan? Ist der DEFA-Film „Rat der Götter“ (der in der BRD verboten war)
nicht schon 1950 in die Kinos der DDR gekommen? Was stand denn in den
Geschichtsbüchern der DDR? Hat Reinhard kein Exemplar mehr?
Siebentens: Reinhard entdeckte auch
Erfreuliches: „Während des Prozesses erweckte Horst Fischer mitnichten den
Eindruck eines grausamen Tieres.“ Wer hat wohl bisher geglaubt, dass die
Himmler, Heydrich und Göring wie „grausame Tiere“ ausgesehen haben? Übrigens:
Ähnliches wie Reinhard bei Fischer entdeckte Hannah Arendt beim Prozess gegen
Eichmann in Tel Aviv. Sie entwickelte in ihren Büchern aus ihren Beobachtungen
eine ganze Philosophie über die „Banalität des Bösen“. Lässt sich da nichts
lernen?
Achtens: In der BRD war bei der „Causa
Fischer“ „Gegen-Häme“ zu beobachten, wie uns Reinhard mitteilt. Hätten sich
nicht die Wortführer in der BRD lieber an die eigene Nase fassen sollen? Und
die Patienten des „netten Doktors“? Ist es nicht verständlich, dass manche den
Vorwürfen misstrauten? War nicht die Aufklärungsarbeit der Mitarbeiter des MfS
eine ganz normale Angelegenheit? Wozu die Passagen über die „Empörung“ in
Spreenhagen – weswegen, wogegen? Wie ist die Freude Reinhards zu werten: „Die
Hauptschuld des Kapitalismus in Gestalt der IG-Farben konnte ... nicht belegt
werden.“ War das Aufgabe dieses Prozesses
gewesen?
Neuntens: Reinhard resümierte: „Man mag die
Strafe angesichts der Schwere von Fischers Verbrechen und unter den damaligen
Rechtsumständen als gerechtfertigt betrachten. Über die Rechtmäßigkeit des
Prozesses, der weniger strafrechtlichen als ideologischen Vorgaben des
DDR-Geheimdienstes und politischen Zielen der SED folgte, sagt dies allerdings
nichts aus.“ Von welchen ideologischen Zielen spricht Reinhard? Wer bestimmt
über die „Rechtmäßigkeit eines Prozesses“? Oliver Reinhard? Oder Leute, dessen
Feder er führt?
Kommen wir zum Schluss: Wenn ein
Ereignis wie der Prozess gegen den Nazi-Verbrecher Horst Fischer 1966 zum
Baustein der (sächsischen) Erinnerungskultur – Wer legt das fest? – wird, dann
könnte es dafür einen guten Grund geben: Der Prozess beweist, wie konsequent
und juristisch tadelsfrei die DDR und ihre Sicherheitsorgane die in den
Nürnberger Prozessen festgelegten Normen für den Schutz der Menschenrechte
durchsetzten, während in der BRD das Gegenteil praktiziert wurde.
Das Urteil belegt nicht die
böswillige These vom „Unrechtsstaat DDR“, sondern die Treue zu kodifizierten
Völkerrechtsnormen.
Reinhard hat auch einen wahren Satz
geschrieben, aber das ist ein Zitat aus der „alten“ SZ aus dem Jahre 1966:
„Zwei Staaten, zwei grundverschiedene Gerichte. Das machte dieser Prozess in
der DDR-Hauptstadt deutlich.“
Oder kennt Reinhard einen analogen
Prozess aus der BRD?
(Einen BRD-Film aus dem Jahre 1959
gibt es, Kurt Hoffmanns „Arzt ohne Gewissen“.)