"junge Welt" 17.06.2021
»Es geht um
permanente Drohung«
Ab 17. Juni sind die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit im Bundesarchiv. Gespräch mit
Reinhard Grimmer, Karl Rehbaum und Wolfgang Schmidt
Robert Allertz
Der »Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen« und seine Behörde, BStU, sind ab dem 17. Juni 2021 Geschichte. Können wir
aufatmen?
Reinhard Grimmer: Dazu besteht nun wahrlich kein Grund. Der alte Wein wurde lediglich
in neue Schläuche gefüllt und der »Bundesbeauftragte« durch eine
»SED-Opferbeauftragte« ersetzt. Der Dienstauftrag zur Delegitimierung der DDR
und ihrer Einrichtungen ist keineswegs beendet oder außer Vollzug gesetzt.
Aber vielleicht erlahmt jetzt, nach dreißig Jahren, der Verfolgungszwang ein wenig? Alle Kämpfer werden mal müde, und die nachfolgende Generation ist vielleicht weniger bissig und ideologisch verblendet?
Karl Rehbaum: Von Ermüdungserscheinungen ist
nichts zu spüren. Zum Beispiel sei an den Fall des Fotografen Bernd Lammel erinnert, der Anfang 2021 Schlagzeilen machte. Er
hatte bei der BStU Einsicht in seine Akten beantragt
und bekam 16 Ordner präsentiert – die meisten Akten aber stammten nicht
von uns, sondern von der Behörde. Die war eigenständig sehr aktiv geworden,
nachdem 2015 Lammel als vermeintlicher IM Michael
»enttarnt« worden war und die Presse Witterung aufgenommen hatte. Denn: Lammel war Berliner Landesvorsitzender des Deutschen
Journalistenverbandes, DJV, und hatte sich um den Bundesvorsitz beworben. Die
Behörde recherchierte aktiv zu 164 Personen, die mit Lammel
irgendwann zu tun hatten, und reichte die Ergebnisse
an die Presse weiter, von der auch der Auftrag gekommen war. Der besaß
»ausforschenden Charakter« und war formal so unzulässig wie die Herausgabe von
über tausend Blatt Akten. Mithin: Die Behörde ist unverändert aktiv, also keineswegs
nur Verwalter und Hüter von Akten. Zudem ist der Verfolgungseifer gesetzlich
fixiert und gesellschaftlich institutionalisiert. Er existiert unabhängig
davon, ob nun die Amtsvorsteher Gauck, Birthler, Jahn oder Zupke
heißen.
Sie denken da an die im Mai 2019 verfügte Verlängerung der
»Stasi-Überprüfung«?
Wolfgang Schmidt: Zum Beispiel. Bekanntlich wurden mehrere Gesetze, darunter per
Kabinettsbeschluss auch das sogenannte Stasi-Unterlagengesetz, dahingehend
geändert, dass bis 2030 Mitarbeiter und Bewerber im öffentlichen Dienst auf
eine Tätigkeit fürs MfS überprüft werden. Vierzig Jahre nach dem Ende der DDR
und des MfS! Wenn es nicht so politisch und damit gefährlich wäre, könnte man
darüber nur lachen. Ein simples Rechenexempel: Der 19jährige, der sich 1989 als
Inoffizieller Mitarbeiter bei uns verpflichtet hat, ist 2030 bereits 60. Und
der bewirbt sich beim öffentlichen Dienst? Das ist einerseits absurd, aber
andererseits geht es doch nicht um den einzelnen, sondern um die permanente
Drohung und die Einschüchterung aller.
Und natürlich um die Aufrechterhaltung der These vom kriminellen
Unrechtsregime, dessen Bürger bis ans Ende ihrer Tage gezeichnet werden sollen.
Im Umgang mit dem terroristischen deutschen Nazistaat war man da weitaus zurückhaltender.
R. G.: Wahrlich. Die 1958 – also erst dreizehn Jahre nach dem Untergang
des Nazireichs – gegründete Zentralstelle zur Aufklärung von
Naziverbrechen in Ludwigsburg hatte nie mehr als 121 Mitarbeiter. Die
unmittelbar nach dem Ende der DDR gebildete BStU
beschäftigte zunächst 3.000 Mitarbeiter. Zuletzt waren es etwa 1.400, die für
111 Kilometer Akten zuständig waren – von denen jetzt natürlich niemand
entlassen wird.
Was hat das gekostet? Haben Sie Zahlen?
W. S.: Wir gehen von mehreren Milliarden Euro aus, die in den drei
Jahrzehnten verpulvert wurden: an Personalkosten, an Betriebskosten, an
technischen Aufwendungen – erinnert sei nur an die Rekonstruktion der
Papierschnipsel aus 16.000 Säcken, von denen man bisher gerade einmal 500 geschafft
hat –, an Ausgaben für Ausstellungen, Publikationen, Werbemitteln ...
Also für Propaganda?
K. R.: Ja. So sollte man es ruhig nennen. Nicht gerechnet die nun fällige
Schaffung und Ausstattung neuer Archivstandorte und die weitere Digitalisierung
der Akten. All diese Positionen lassen sich im Haushalt des Bundesarchivs
vermutlich gut verstecken.
Sie sind, wie ich Ihren Auskünften entnehme, skeptisch, dass mit dem
Wechsel der Zuständigkeit auch ein Wechsel im inhaltlichen Umgang mit den Akten
erfolgt?
K. R.: Ja. Eine Versachlichung erwarten wir nicht. Man wird weiter selektiv und
einseitig »auswerten« und die »Erkenntnisse« für die Anti-DDR-Propaganda
nutzen. So versucht man weiter den Deutschen weiszumachen, dass alle
MfS-Papiere »Opferakten« sind und die Bevölkerung der DDR ein Volk von
SED-Opfern war. Mehr als die Hälfte der Unterlagen waren allerdings die
Ergebnisse von Sicherheitsüberprüfungen, und mindestens zwanzig Prozent der
Papiere sind ohne jeden archivalischen Wert.
Reinhard Grimmer ist Oberst a. D., war von 1960 bis 1990 beim
Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bzw. Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) und leitet die »AG Sicherheit« in der »Gesellschaft
zur rechtlichen und humanitären Unterstützung« (GRH). Karl Rehbaum
ist Oberst a. D., war von 1955 bis 1990 beim MfS/AfNS
und leitet die »AG Aufklärer«. Wolfgang Schmidt ist Oberstleutnant a. D.,
war von 1957 bis 1990 beim MfS/AfNS und betreibt die
Internetplattform mfs-insider.de. Die drei Offiziere waren
in der Führungsebene des Ministeriums tätig