junge Welt vom
08.08.2003
Warnung vor
Datenmißbrauch
Die Rosenholz-Kartei:
jW dokumentiert Brief
von Hans Modrow an Bundestagspräsident Wolfgang Thierse
Sehr geehrter Herr
Bundestagspräsident,
der amerikanische Geheimdienst
CIA hat der Regierung der Bundesrepublik eine Aktenkartei der HVA des
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR übergeben. Es handelt sich um einen
international einmaligen Akt in der Geschichte der Geheimdienste, um einen
Vorgang der Piraterie und des Verrats.
Ob sich dieser in der
HVA selbst oder im KGB in Moskau vollzogen hat, ist für mich dabei nicht ohne
Bedeutung.
Es war die Absicht jener
Entscheidung über die Vernichtung der HVA-Akten, wofür ich als damaliger
Ministerpräsident der DDR letztlich die Verantwortung trage, die Menschen zu
schützen, die unter den Bedingungen des Kalten Krieges durch ihre
Aufklärungsarbeit mitgeholfen haben, einen großen militärischen, möglicherweise
atomaren Konflikt zu verhindern, was für beide Seiten gilt. Ich war mir darin
einig mit Vertretern des Zentralen Runden Tisches. Auch die Regierung, die aus
den Wahlen vom 18. März 1990 hervorging, hat an dieser Entscheidung nichts
geändert. Und als die Volkskammer der DDR ein Gesetz über den Umgang mit den
Akten des MfS beschloß, wurde der Tatbestand der Vernichtung der Akten der HVA
ebenfalls respektiert.
Während die BRD-Seite,
die sich als Sieger sah, ihre Kräfte vor juristischer Verfolgung bewahrte,
wurden viele hundert Prozesse gegen Bürger der BRD und anfangs auch der DDR
durchgeführt, bis schließlich das Bundesverfassungsgericht die DDR-Bürger als
geschützt erklärte. Bekanntlich stellte es in seinem Urteil vom 15. Mai 1995
fest: »Die Angehörigen der Geheimdienste der DDR hatten - wie die Geheimdienste
aller Staaten der Welt - eine nach dem Recht ihres Staates erlaubte
und von ihm sogar verlangte Tätigkeit ausgeübt.«
Nach der Übergabe der
»Rosenholz-Kartei« besteht jetzt die Gefahr, daß die Öffentlichkeit in
unverantwortlicher Weise mit zweifelhaften Informationen überschüttet wird.
Denn niemand weiß, wie selektiv der US-Geheimdienst mit seiner Beute des
Verrats umgegangen ist.
Eine neue Welle von Überprüfungen und in bestimmten Fällen eventuell auch von
Prozessen entspräche nicht den Bemühungen um gegenseitige Achtung und
Versöhnung, die es unter politischen Kräften im Frühjahr 1990 in beiden deutschen Staaten gab.
Natürlich kann niemand etwas dagegen haben, wenn Kapitalverbrechen entdeckt und
verfolgt werden. Aber die gab es nicht.
Ich sehe mich - auch bei
dem inzwischen entstandenen großen Zeitabstand - in einer Obhutspflicht
gegenüber den Betroffenen. Deshalb möchte ich Sie, Herr Bundestagspräsident,
bitten, alle Ihre Möglichkeiten dafür einzusetzen, daß der Tatbestand der Vernichtung
der HVA-Akten wieder Achtung erfährt und die »Rosenholz-Kartei« - entgegen der
erklärten Absicht von Frau Birthler - nicht gegen Personen genutzt werden darf. In allen
Staaten werden Menschen, die für die Aufklärung tätig waren oder sind, sowohl
geschützt als auch geachtet. Ein solches Recht sollte nun viele Jahre nach der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch jenen zuteil werden, die für die
untergegangene DDR tätig waren. Auch gegenüber der internationalen
Öffentlichkeit wird eine solche Haltung von Bedeutung sein.
Hochachtungsvoll
Hans Modrow, MdEP und
Ministerpräsident a.D.