„Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS“
(edition ost Berlin 2002),
Band II, Seite 289 ff.:
„Im
Februar 1964 verhandelte das Oberste Gericht der DDR gegen Herbert Kühn, einen
Neofaschisten. Kühn galt international als erfahrener Sprengstoffexperte, hatte
Kenntnisse in der französischen Terrororganisation OAS
gesammelt
und war 1962 mit verantwortlich für die Sprengstoffanschläge auf die
norditalienischen Bahnhöfe Verona und Trient. Dabei waren 20 Personen z. T.
lebensgefährlich verletzt worden. Eine Person erlag den Verletzungen,
und
es entstand ein beträchtlicher Sachschaden. Ende April 1963, kurz vor Wahlen in
Italien, führte Kühn mit anderen Mitgliedern der OAS wiederum
Sprengstoffanschläge auf die Bahnhöfe von Mailand und Genua aus, wodurch zehn
Personen verletzt wurden und erheblicher Sachschaden entstand.
Sein
Wirken in der BRD Anfang der 60er Jahre, wo er eine rechtsradikale Untergrundgruppe
gegründet, ausgebildet und geführt hatte, stand unter Kontrolle des Bundesamtes
für Verfassungsschutz. Er wurde auch mehrmals in der Bundesrepublik
festgenommen, kam aber immer wieder schnell frei. Selbst das Auffinden ihm
gehörenden Sprengstoffes unmittelbar nach den Anschlägen 1962 in Italien führte
lediglich zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe wegen unbefugten
Waffenbesitzes.
1963
bereitete Kühn von Westberlin aus »politische Attentate« in der DDR vor, die er
als Taten von DDR-Bürgern erscheinen lassen wollte. Sie sollten »Fanale des
Widerstandes« sein. Darüber war die Dienststelle des Verfassungsschutzes in
Westberlin über einen V-Mann mündlich und schriftlich informiert.
Der
mit Kühn befreundete, damals ebenfalls an den terroristischen Anschlägen in
Italien beteiligte Fritz B., von Kühn mit der Beschaffung von Sprengstoff beauftragt,
hatte am 30. Dezember 1962 Sprengstoffanschläge auf das
Zentrale
Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft (DSF) und das Polizeipräsidium in
Berlin verübt. Dabei war im Haus der DSF ein Ausstellungsraum völlig zerstört
worden. Am Polizeipräsidium entstand kein nennenswerter Schaden, da die Ladung
nur von außen an den starken Mauern angebracht worden war.
Im
Juni 1963 schmuggelte Kühn aus Westberlin 5 Kilogramm Sprengstoff und
entsprechendes Zubehör in die DDR und bereitete für den 17. Juni (!) 1963
Sprengungen im Roten Rathaus, im Ministerium für Außenhandel und
im
Stadtgericht Littenstraße vor. Zwei Zeitzünderbomben
wurden entdeckt, die dritte, im Ministerium für Außenhandel, detonierte und richtete beträchtlichen Schaden an. Kühn war bei der
Ausführung seiner Tat mit einer Pistole
und
30 Schuß Munition bewaffnet.
Nach
Westberlin zurückgekehrt, informierte er westliche Nachrichtenagenturen über
diese Anschläge und stellte sie als Aktionen »OstberlinerWiderstandsgruppen«
dar. Es gab Schlagzeilen wie »Verzweiflungstat oder Ost-Provokation? «
und
»Sprengstoffanschlag in Ostberlin von der SED inszeniert«. Am 30. Juni 1963
wurde Kühn bei dem Versuch, eine Sprengladung am Gebäude des ZK der SED
anzubringen, auf frischer Tat festgenommen. Am 26. Februar 1964 wurde er durch
den 1. Strafsenat des Obersten Gerichtes der DDR zu lebenslangem Zuchthaus
verurteilt. In der Urteilsbegründung wurde festgestellt, »daß
die intellektuellen Urheber dieser Verbrechen in Westdeutschland sitzen und
ihre Maßnahmen der geistigen Vergiftung, der Hetze, des Kalten Krieges und der
Revanche in ihrer Wirksamkeit besonders auf solche unausgereiften und
ungefestigten Charaktere wie den Angeklagten abstimmen«.
Kühn wurde im Dezember 1974, nach elf Jahren Haft, zu 15 Jahren Freiheitsstrafe begnadigt und der weitere Vollzug zur Bewährung auf 5 Jahre ausgesetzt.
Kühns
Anschlag und seine Verurteilung vor 35 Jahren hatten im Frühjahr 1999 ein mehr
als nur fragwürdiges juristisches Nachspiel. Auf sein Betreiben (und auf
Betreiben der Sonderstaatsanwaltschaft II, zuständig für Verfahren gegen
DDR-Hoheitsträger) wurde sein ehemaliger Untersuchungsführer aus dem MfS wegen
»Aussageerpressung durch seelische Mißhandlung« vor
der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin angeklagt. Das Gericht
verurteilte den ehemaligen Mitarbeiter des MfS zu einer Freiheitsstrafe von
sechs Monaten auf Bewährung wegen Anwendung einer »vernehmungstaktischen
Variante«. Sie bestand darin, dem Kühn »eine bevorstehende, aber in
Wirklichkeit nicht beabsichtigte Auslieferung an Italien glaubhaft vermittelt
zu haben«. Das war aber keine »vernehmungstaktische Variante« – tatsächlich
hatte die DDR-Generalstaatsanwaltschaft aus prinzipiellen Rechtshilfeerwägungen
die Auslieferung Kühns wegen der Anschläge in Italien erwogen. Allerdings
unterließ es Rom – wohl mit Blick auf den NATO-Partner BRD – eine Auslieferung
des Attentäters zu beantragen. Anno 1999 folgte jedoch ein deutsches Gericht
einem überzeugten Terroristen und Neonazi und belangte einen ehemaligen
Mitarbeiter des MfS.“