Aus: UTOPIE kreativ, 157 * November 2003 – S. 1046 - 1053
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Wolfgang Hartmann – Jg. 1929, Chemielaborant, Diplomjurist; war seit 1964
bei der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des MfS tätig; Renter,
aktiv im Insiderkomitee zur Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte
des MfS. Zuletzt in UTOPIE kreativ: »Das Erbe Dzierzynskis«
– oder weshalb seine Nachdenklichkeit abhanden kam. Persönliche Reflexionen
und Fragen an meinesgleichen“, Heft 83 (September 1997). 1 - »Das Ministerium für Staatssicherheit – Alltag
einer Behörde«. Regie: Christian Klemke, Jan N. Lorenzen. Deutschland
2002, 90 Minuten, Uraufführung in Berlin am 15. Januar 2003. 2 - Vgl. Rezensionen: Neues Deutschland, 12. 2. 2003:
Der Schoß ist fruchtbar noch ... Geschichtsaufarbeitung im Dokumentarfilm –
mit nützlichen Lehren für Gegenwart und Zukunft, taz,
24. 2. 2003: »Horror-shop« von Barbara Schweizerrhof, Berliner Zeitung, 20. 2. 2003: »Prächtiges
Kollektiv« von Detlef Friedrich. 3 Anmerkung: Im Zusammenhang mit der Vorbereitung und
dem Ablauf des USA-Krieges gegen den Irak oder mit der Bekämpfung des
Terrorismus mittels eines ausgefeilten Überwachungssystems, der
Rasterfahndung u. dgl. erscheinen die operativen Praktiken des MfS eher noch
als von geringerem Radius und geringerer Effizienz. Man hat nicht den
Eindruck, als ob die Filmemacher über solche Zusammenhänge nachgedacht
hätten. 4 - Vgl. MEW, Band 1, S. 385. 5 - Auch die beiden Bände Die Sicherheit – Zur
Abwehrarbeit des MfS lassen vermuten, daß über Fragen der Vermittlung und der
psychologischen Wahrnehmungsregeln kaum nachgedacht wurde. 6 - IM = Inoffizieller Mitarbeiter, hier gemeint im westlichen Operationsgebiet. 7 Zur Haftproblematik will ich nur vergleichend
anmerken, wie meine beiden westdeutschen Partner in U-Haft behandelt wurden,
das könnte ein Maß sein: Sie wurden nicht als kafkaeske Nummer gedemütigt,
sie wurden korrekt mit »Herr XY« angesprochen, sie hatten eigenes Schreibzeug,
eigene Bücher, Telefonmöglichkeit (bis zum vorläufigen Abschluß der Ermittlungen
überwacht), Besuchsempfang (Ehefrauen), Radio in der eigenen Zelle und
Fernsehmöglichkeit. Sie waren nicht von anderen Mithäftlingen isoliert. Und
natürlich bestand nicht das idiotische und schikanöse Verbot, sich am Tage
auf die Zellenpritsche zu legen. 8 - »Die soziale Revolution ... kann ihre
Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie
kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die
Vergangenheit abgestreift hat. ... Proletarische Revolutionen ... kritisieren
beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf,
kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen,
verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten
ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er
neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder
aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit
ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr
unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus,
hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!« (Karl
Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte,
in: MEW, Bd. 8, S. 117/118) 9 »Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit,
freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen
Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige
Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend
Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus
dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend
hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit
zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen,
vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine
Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des
Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur
im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft.« Rosa Luxemburg:
Zur russischen Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd.4, Berlin 1974, S. 362 f. 10 - www.mfs-insider.de. 11 - Vgl. die
vom Insider-Komitee besorgte tabellarische »Übersicht für den Vergleich des Führungspersonals der
Geheimdienste der DDR und der BRD – nur Gründergeneration«.Die überarbeitete
und korrigierte Fassung in: »Duell im Dunkeln – Spionage und Gegenspionage im
geteilten Deutschland«; in: IK-Korr Spezial Nr. 3,
Berlin 1994, S. 26 f. 12 Brecht: »Dabei wissen wir doch:/Auch der Haß gegen
die Niedrigkeit/Verzerrt die Züge./Auch der Zorn über das Unrecht/ Macht die
Stimme heiser. Ach, wir, /Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit,
/Konnten selber nicht freundlich sein.« (Brecht: An die Nachgeborenen, in:
Gedichte, Bd. IV, Berlin 1961, S. 148) 13 Hg. Dieter Krüger, Armin Wagner, Ch. Links Verlag,
Berlin 2003 14 - Kurt Zeiseweis wird zitiert: Er kennzeichnet den
Unterschied, ja den Gegensatz im Auftreten Mielkes bei Arbeitern in Betrieben
und gegenüber seinen Kampfgenossen in der der Leitung des MfS. 15 - Vgl. in ebenda den Beitrag von Susanne Meinl: Friedrich Wilhelm Heinz (1899 – 1968), S. 61 f.,
hier insbesondere S. 63. |
Wolfgang Hartmann
»MfS
– Alltag einer Behörde« Nachdenken
anläßlich eines Films von
Christian Klemke und Jan Lorenzen Im
Januar 2003 kam in Berlin der Dokumentarfilm »MfS – Alltag einer Behörde« in
die Kinos.(1) Sofort erregte er Aufsehen und löste heftigen Streit aus. Der
Film wird unterschiedlich wahrgenommen; die Beurteilungen können
gegensätzlicher kaum sein.(2) Der
Film hat ein historisches Thema. Wie wird er der Geschichte und seinem
speziellen Thema – »Alltag« im Ministerium für Staatssicherheit – gerecht?
Wie weit oder wie eng ist sein Blickwinkel? Diese Fragen richten sich nicht
nur an die eigentlichen Filmemacher, an den Drehbuchautor und den Regisseur.
Nicht weniger richten sie sich an die Spender des Materials. Denn der Film
zehrt zu einem bestimmenden Teil von den Interviews früherer leitender
Mitarbeiter des MfS (genauer: nur des Abwehrbereichs). Sie sind Mitwirkende.
In Wort und Körpersprache werden sie ausgiebig zitiert, wenn auch in einer Auswahl
des von ihnen Gesagten: Etwa eine
Stunde von rund 15 Interviewstunden. Meine kritischen Überlegungen gehen in zwei Richtungen: an die Adresse
der Filmemacher und an die »eigene Adresse«, genauer: an die der
Interviewten. Zunächst zum Werk der FilmemacherErstens: Der Titel verspricht Aussagen über das MfS schlechthin – eine
Einschränkung wird nicht einmal angedeutet. Das MfS war bekanntlich ein
Konglomerat verschiedenster Dienste: Spionage und Gegenspionage,
Spionageabwehr, Terrorismusabwehr, Personen-, Objekt- und Geheimschutz,
Grenz- und Paßkontrollwesen, Schutz der
Volkswirtschaft, funkelektronische Aufklärung u. v. a. m. Über alle diese
Arbeitsrichtungen ist im Film nichts oder fast nichts zu sehen. Im Grunde
zeigt er nur etwas über den Staatsschutz, über Observationen, über den
Vollzug von Untersuchungshaft und über Vernehmungen. Allein diese Auswahl
ergibt – gewollt oder ungewollt – eine grobe Verfälschung. Sie provoziert
beim Zuschauer ein verzerrtes Bild über eine gar nicht gezeigte Gesamtheit.
Verzerrung und Selektion sind freilich keine taugliche Grundlage für Kritik. Zweitens: Der Filmtitel verspricht Aussagen über den Alltag. Ist vielleicht
diese Orientierung auf Alltag ein konzeptioneller Fehler des Films? Denn sie
begünstigt die Eliminierung von Zielen und Inhalten; sie verdrängt kritische
Analyse. »Alltag« heißt vor allem geheimdienstliches Handwerk. Dieses Manko will ich aber erst einmal vernachlässigen, denn selbst das
Thema Alltag könnte erkenntnisfördernd sein gegen
die Mystifizierung von Geheimdiensten und gegen irrige Urteile, die sich auf
Oberflächenwahrnehmungen stützen. Nämlich dann, wenn der Film sich um ein
immanentes Verstehen der Logik geheimdienstlichen Denkens und
geheimdienstlicher Praxis bemüht hätte. Viele Fehlurteile über Geheimdienste
– also nicht nur über das MfS – entstehen, weil unbeschadet ihrer kritischen
Verarbeitung die geheimdienstliche Eigenlogik nicht zur Kenntnis genommen
wird. Z. B. die »Sammelwut« der Dienste, die eine Bedingung ist, um bestimmte
geheime Vorgänge, insbesondere konspirativ geschützte, dennoch erkennen und
aufklären zu können. Das eigentliche Problem liegt nicht im Sammeln, sondern
in Bewertungsprozessen, die leicht einer Gegenkontrolle entraten und damit
subjektiven Kriterien ausgeliefert werden können. Dies berührt eine
grundsätzlich zu stellende Fragen: Die nach der Berechtigung von
Geheimdiensten, nach ihrem Sinn und nach den Konsequenzen, die es
zwangsläufig hat, wenn ein Staat (egal welcher) sich geheimdienstlicher
Mittel bedient. Dies mußte nicht unbedingt ein Thema des Filmes sein, aber es
hätte eines für die gedankliche Vorbereitung der Filmemacher sein müssen,
dann hätte es sich im Film widergespiegelt. Drittens: Gezeigt wird im Film – allenfalls – der Alltag eines winzigen
Bruchteils der Mitarbeiter des MfS. Angesichts mancher Passagen sowie einiger
Aussagen von Interviewten fragen sich viele von ihnen, ob sie sich darin
wiederfinden können. Und zwar sowohl in ihrer damaligen Arbeit als auch in
ihrer seither erworbenen kritischen Sicht. Diese Frage müssen viele
verneinen, ich ganz entschieden auch. Viele fühlen sich diskriminiert. Einige
peinliche Aussagen (und Erscheinungsweisen) von manchen Interviewten kann man
sicher nur mit Unwillen zur Kenntnis nehmen. Die von früheren Mitarbeitern
geübte Kritik an solchen Peinlichkeiten, Unwahrhaftigkeiten und
Oberflächlichkeit darf sich allerdings nicht durch eine korpsgeistähnliche
Loyalität behindern lassen. Den Filmemachern kann man nicht ankreiden, daß
sie dies zeigen – denn die Peinlichkeiten wurden ja tatsächlich vor Kamera
und Mikrofon gesagt. Es ist nicht ungeschehen zu machen. Ich würde nicht
sagen: »So waren wir«, aber doch: »So waren wir leider auch.« Man kann sich
in einem Gedankenexperiment vorstellen, es hätte keine Interviews mit Gerhard
Niebling, Horst Männchen, Willi Opitz, Siegfried Rataizik gegeben. Dann würde
im Film die nachdenkliche Sachlichkeit von Wolfgang Schmidt, Wolfgang
Schwanitz und Kurt Zeiseweis dominiert haben – der Film wäre ein anderer
geworden. Viertens:
Der Film verschweigt, daß Aussagen über die geheimdienstlichen Funktionen und
Arbeitsweisen innerhalb des MfS immer auch analoge Aussagen über die
professionelle Arbeit von Geheimdiensten überhaupt enthalten. Also auch über
die analoge Praxis im BND, im Verfassungsschutz, im Staatsschutz der Polizei
der Bundesrepublik, oder auch im FBI, in der CIA – beim Sammeln von Daten,
bei Observationen, bei der Einflußnahme auf als oppositionell betrachtete Gruppierungen
usw.(3) Gegen Mißverständnisse: Ich möchte keinen Schutzschild zur Recht-fertigung, welcher sich des Mottos bedient »cosi fan tutte«
– so machen’s eben alle. Was alle machen, ist wegen der historischen Wahrheit,
wegen der Wechselwirkungen und gegen die scheinheilige Heuchelei unbedingt zu thematisieren. Aber das MfS
muß sich an eigenen Maßstäben messen lassen – und auch gemessen werden. Die
Mitarbeiter des MfS können sich nicht einfach rechtfertigend darauf berufen,
was im bekämpften kapitalistischen System geschah oder geschieht. Wir wollten
Alternative sein. Die Maßstäbe können deshalb nur die eines wirklichen sozialistischen
Humanismus sein, wie Marx’ »kategorischer Imperativ für Kommunisten«, wonach
»alle Verhältnisse umzuwerfen (sind), in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ...« (4). Den Filmemachern muß man allerdings vorhalten, offenbar nicht hinterfragt
zu haben, ob es nicht schon damals in MfS-Kreisen entsprechende Positionen
gab und erst recht heute gibt und wie sie sich seinerzeit im Tun und im
Unterlassen spiegelten. Dazu gibt es veröffentlichte Quellen. Diese wären bei
der Vorbereitung des Films erschließbar gewesen. Fünftens – das ist die für mich wichtigste Frage: Der Hinweis auf analoge
Arbeitspraktiken anderer Geheimdienste, also denen z. B. der BRD, der USA,
Frankreichs, von MI 5 und MI 6 in England führt natürlich sofort zur
zentralen Frage: Worin unterscheiden sich die Dienste? Zwangsläufig werden
dann die vom Film faktisch ausgeblendeten inhaltlichen Orientierungen zum
Thema. Also: Welchen sozialen, politischen, militärischen, ökonomischen Interessen
(!) der Staaten und der Systeme dienen deren Dienste? Welches ist der
historische Kontext der Tätigkeit des MfS nach Zielen, Aufgaben und Methoden? Im Film erscheint davon so gut wie nichts. Das ist sein Grundmangel. Das MfS – besser: das, was von ihm gezeigt wird – wird »an sich«
betrachtet. Keine Rede davon, daß es im Kern um eine Jahrhundertauseinandersetzung
darüber ging, ob das »heilige« System des Kapitalismus und seine
Eigentumsverhältnisse angetastet werden durften oder nicht. Das war die
Grundfrage. Sie wird keinesfalls gegenstandslos, weil ein welthistorischer
Versuch gescheitert ist. Da sich das MfS als »Schild und Schwert«
betrachtete: Welcher Art war die Mitverantwortung des MfS für das Scheitern
dieses Versuches in Deutschland? Über die Aussagen der InterviewtenDamit komme ich zu der zweiten Gruppe von Mitwirkenden, nämlich auf die
interviewten Mitarbeiter des MfS. Natürlich ist schwer einzuschätzen, in
welchem inhaltlichen Verhältnis die für den Film ausgewählten Aussagen zu den
nicht benutzten stehen. Der Zuschauer des Films kann sich nur daran halten,
was er sieht und hört. Das ist eine Binsenweisheit, aber sie ist von Belang,
wenn man an einem solchen Filmprojekt teilnimmt. Und: Gesagt ist gesagt! Hinterher erschrocken sein über das Ergebnis – müßte es nicht ein
Erschrecken über die eigenen Fehler sein? Wenn wir den Film mit- begründet
kritisieren, dürfen wir zugleich nicht in Selbstgerechtigkeit verfallen. Ich kenne das Argument: »Nie wieder elektronische Medien«, weil nicht
beherrschbar. Da ist etwas dran. Wir wissen um die Manipulationsgelüste der
Medien. Ich sage »A ist nicht gleich B« und werde tatsächlich so zitiert, nur
das belanglose Wort »nicht« ist herausgenommen. Also muß man sich darauf
einstellen und vorbereiten. Ob die Filmemacher ein wirkliches Konzept gehabt haben – außer entweder
völliger Naivität und Spontaneität oder vielleicht sogar vorsätzlicher
Diskriminierung –, hat sich mir durch den Film nicht so recht erschlossen.
Aber mir ist das Eigene viel wichtiger: Welches inhaltliche und methodische
Konzept hatte denn die Gruppe der Interviewten? Hatten sie denn eines? Und
zwar eines, welches vorhandene Erfahrungen mit elektronischen und mit
Filmmedien verarbeitete? Zudem ein Konzept, das die seriösen wissenschaftlichen
Publikationen nicht ignorierte? Gab es ein Konzept für das eigene Verhalten,
welches berücksichtigt, daß ein Film nicht primär durch das gesprochene Wort
wirkt, sondern vom Bild bestimmt ist: von der Körpersprache, von der Gestik,
von unterlegten Bildern, Tönen und Musik? Und was das Wort selbst angeht, von
dessen schneller Unmittelbarkeit im Film? Ich vermute, es gab kein so
ausgefeiltes Konzept.(5) Und
sicherlich auch keinen angemessen intensiven Versuch, mit den Filmemachern
eine Verständigung zu finden. Erstens: Zunächst einmal defensiv: Was wäre denn
ein eigenes Konzept gegen Manipulation, aber auch gegen mögliches
Mißverstehen? Methodisch fast gleiche Aufgaben hatten wir doch bereits
zu bestehen und vielfach gut bewältigt, nämlich bei den strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren, bei Zeugenaussagen in Strafprozessen, bei eigenen
Vernehmungen. (Jedenfalls im HVA-Bereich, wo es Hunderte solcher Verfahren
gab.) Grundsätze waren: - Keine einzige Aussage darf geeignet sein, Mißverständnisse hervorzurufen,
zu verstärken oder zu begünstigen, die einen IM (6) belasten. - Keine Aussage darf (in Übereinstimmung mit § 55 StPO) geeignet sein,
sich selbst zu belasten (ausgenommen nur, wenn damit ein IM entlastet werden sollte). Selbstverständlich
ist ein Film nicht mit einem rechtlichen Verfahren und dessen Vorschriften
gleich zu setzen. Der Vergleich zielt auf das Methodische: Wenn wir gegenüber
den Medien – aus gutem Grund – »mißtrauisch« sein müssen, weil wir mit den
Gefahren der Manipulation oder des Mißverstehens
rechnen müssen, sowie damit, daß uns das Wort im Munde umgedreht werden kann,
dann muß das von uns analog bedacht werden, wie bei den Strafverfahren, und
zwar genau und vorher. Wichtiger zweitens: Es reicht keinesfalls zu, dem eigenen Selbstverständnis
zu genügen, aber nicht an Adressaten und an Wirkungen zu denken, darunter
auch an Reflexe und an andere Wahrnehmungsdispositionen. Konkrete Beispiele
aus dem Film: - Welche Wirkung darf man bei einem normalen Zuschauer erwarten, wenn
ein MfS-General nach Hinweis auf Doktorgrad und Professur eindimensional und
metaphorisch verkündet, wie er doch uneingeschränkt von seinen Enkeln verehrt
würde – als ob es in der DDRGesellschaft nicht ganz
andere Wahrnehmungen des MfS und ganz andere Verhaltensweisen gegenüber dem
MfS gegeben hätte. Und dies gewiß aus qualitativ sehr verschiedenen Gründen.
Kritik an DDR-Verhältnissen wird in salopper Sprache als – wie
entgegenkommend – Versuch einer »Liberalisierung des Sozialismus«
teilrehabilitiert, als Einforderung einer »gewissen liberalen Entwicklung,
gewissen Rechtsstaatlichkeit«. Aber war das vordem nicht »politisch-negativ«
und »feindlich-negativ«? Wäre nicht angebracht, ehrlich etwas über die
vormaligen eigenen Einschätzungsfehler zu sagen? – Fehlanzeige. - Welche oberflächliche Selbstzufriedenheit spricht aus der Begründung
eines anderen MfS-Generals, es sei im Jahre 1989 Waffengewalt gegen das Volk
(im Film-Interview ist vom Schießen die Rede) nicht eingesetzt worden (etwa
bei den Leipziger Ringdemonstrationen), weil erstens »die SED-Führung nicht
mehr hinter uns stand«, weil zweitens auf die Sowjetunion (Gorbatschow) »kein
Verlaß« mehr gewesen sei, weil drittens sonst ein »Tohuwabohu« ausgebrochen
wäre. Damit war gemeint, es könnte aus Westberlin und Westdeutschland eine
bewaffnete Einmischung erfolgen. Im Umkehrschluß heißt das, sonst hätte wohl
nach Ansicht dieses Generals die Bereitschaft zu einem »Platz des himmlischen
Friedens« bestanden. Die herrschende prinzipielle Position des MfS, sogar
beim damals amtierenden Minister, war dagegen, daß auf das Volk nicht
geschossen werde. Und einem Schießbefehl wäre mit Gewißheit der Gehorsam der
Mitarbeiter verweigert worden. - Oder: Äußerungen über das Haftregime erfolgen im Film auch heute noch
ohne Distanz und kritische Einsicht. Obendrein in der alten, kalten
bürokratischen Sprache: Vom »Verwahrraum« ist die Rede. Menschen werden
»verwahrt«! Unmöglich! »Verwahrraum« ist ein gängiger Terminus aus der
altdeutschen, aus der wilhelminischen Polizeisprache. Ohne irgendeine
erworbene Distanz erkennen zu lassen wird bestätigt, daß die Häftlinge keine
genaue Kenntnis hatten, an welchem Ort sie sich befanden. Sie hatten sich
nicht mit ihren Namen, sondern mit einer Nummer zu melden! Man kann eine
Sache verwahren, aber doch keinen Menschen. Aber in MfS-U-Haft wurde der
Mensch zu einer namenlosen Sache mit Nummer an einem ihm geheimen Ort
gemacht. Durfte das nach dem schon erwähnten »Kategorischen Imperativ für
Kommunisten« unsere Sprache und Praxis sein? Konnten wir Menschen zu Nummern
machen? Und kann man das heute noch unkritisch berichten? Und dann fallen in
diesem Film-Kontext Worte vom persönlichen Glücklichsein. Unfreiwilliger Zynismus.
Aber genau passend auf den Gestus des im Film original zitierten Erich
Mielke. An anderer Stelle werden
»Vergünstigungen« genannt: Papier und Bleistift konnten »beantragt« werden,
erweiterte Liegeerlaubnis konnte erteilt werden.(7) Drittens: Solche vordergründig eher noch taktischen Überlegungen sind aber längst kein eigentliches politisches Konzept. Historisch-kritische Analyse und Wertungen sind erforderlich – und zwar ausdrücklich von linker Seite. Wir früheren MfS-Mitarbeiter müssen die Souveränität des Lernens aufbringen und dazu beitragen. Leisten wir das nicht, werden auch angebrachte Richtigstellungen und Rechtfertigungen entwertet. Der Film ist leider so geraten, daß er sich eignet, jene sozialen und
politischen Interessen zu bedienen, die den Kapitalismus und seine heutigen
neoliberalen und neoimperialistischen Eigenschaften unangreifbar machen
sollen. Das aber haben nicht nur die Filmemacher zu verantworten. Für eine andere politische Wirkung fehlte den Interviewten als Gruppe ein viel weitergreifender Entwurf, ein nachdenklicher, der Selbstgerechtigkeit und Selbstverliebtheit ausschloß, ein souveräner (selbst-)kritischer und kein apologetischer. Vor allem aber ein wahrhaftiger, nämlich so, wie Marx im »Achtzehnten Brumaire« den Revolutionären Selbstkritik empfiehlt. (8) Und auch in Besinnung auf das, was Rosa Luxemburg als sozialistische Demokratie anstrebte. (9) Wie wenig dies Selbsterniedrigung wäre, wie viel es gewinnend und überzeugend ist, im Marxschen Geist die eigene Geschichte ehrlich und kritisch zu betrachten, zeigte zu DDR-Zeiten z. B. der Erfolg von Jürgen Kuczynskis »Dialog mit meinem Urenkel«. Zu einem solchen offensiven Konzept gehörte vor allem, sich den Widersprüchen
zu stellen: z. B. zwischen unseren Idealen und unseren Irrtümern sowie den
Entstellungen. So hätte eine Erklärung versucht werden müssen, weshalb wir
beim ersten Sozialismusversuch in Deutschland gescheitert sind: Das betrifft
eben nicht allein das Kräfteverhältnis, nicht allein die kräftigen Bemühungen
des Kapitalismus, jede sozialistische Regung erst »einzudämmen«, »zurück zu
rollen«, »tot zu rüsten«. Es betrifft auch den eigenen Anteil, die eigene Verantwortlichkeit.
Glaubte man einigen Interview-Aussagen, dann scheint es, als werde noch immer
die alte Position eingenommen, wonach alles Böse (oder das vormals subjektiv
als »politisch-negativ« und »feindlich-negativ« angesehene) nur von außen
gekommen oder inspiriert worden sei. Nachdem wir noch bis kurz vor dem Ende
der DDR vom »gesetzmäßigen Sieg« gesprochen hatten, ist es doch grotesk, das
Ausbleiben des Gesetzmäßigen nicht zu ergründen (etwa in den Aussagen, welche
die Schlußsequenzen des Films bilden). Das ist so zugespitzt sicherlich etwas ungerecht
verallgemeinert: Denn einige der Interviewten sind adäquat und überlegt
aufgetreten, ohne ein Stück Opportunismus – und sie werden auch so zitiert.
Sie wirken überzeugend mit ihrem Gestus der Nachdenklichkeit, sachlicher
Nachdenklichkeit, aufrichtig, ohne Rechtfertigungsreflex. Aber andere
konterkarieren dies durch unkontrollierte Selbstgefälligkeit und einen mich
erschreckenden Mangel an Sensibilität, im Wort und durch Körpersprache. Was
den Film angeht, so ist das Ergebnis vielleicht vorhersehbar gewesen. Das
vermag ich nicht zu beurteilen. Aber für solche tendenziös nutzbaren
Passagen, wie ich sie nannte, kann ich mich nur schämen – für uns! Und zwar
dreifach: Einmal für die unkritisch so bezeugten vergangenen Verhältnisse. Zweitens und besonders für den geringen Grad souveränen kritischen
Umgangs mit den höchst widerspruchsvollen und komplizierten, nicht selten
schwer durchschaubaren historischen Prozessen der Systemauseinandersetzung,
der deutsch-deutschen Konfrontation (und Kooperation), darunter die eigene Mitwirkung
des MfS. Und drittens, ganz bescheiden, bin ich beschämt darüber, daß es nach
nun vieljähriger Nachwendeerfahrung hier nicht gelang, umsichtig mit einem
Medium umzugehen. Dies wenigstens in dem Sinn, wie ich ihn mit meinem
Vergleich hinsichtlich des Auftretens und Verhaltens bei Strafverfahren
nannte. Das feit dann immer noch nicht völlig vor Mißbrauch oder
Mißverständnis, aber es mindert deutlich deren Möglichkeit. Zum SchlußEs ist das unbestreitbare Recht des Filmes, das MfS kritisch zu zeigen.
Aber es verlautet weder seitens der Filmemacher noch seitens der Interviewten
etwas über die linke, über die sozialistische – und sei es auch nur die
nachträgliche – konzeptionelle Kritik an der inneren Sicherheitspolitik der
DDR und des MfS. So, wie sie in vielen Veröffentlichungen, u. a. auf der Website des IK (10), zur Kenntnis genommen werden kann. Gewiß
hat ein Dokumentarfilm in eineinhalb Stunden nur eine arg begrenzte
Möglichkeit, der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit seines Themas gerecht zu
werden. Die im Filmtitel enthaltene Vorgabe, eine Totale zu besichtigen, ist
jedoch irreführend. Möglich konnte nur eine Auswahl sein, aber die hätte
ausgewiesen und begründet werden müssen. Dem Film fehlt ein Gestus, der
reflektiert, daß eine Auseinandersetzung der Filmemacher mit dem gesamten
historischen Kontext, mit den Interessen der kämpfenden Seiten, mit Erfolgen,
Irrtümern, Exzessen, tragischen Schicksalen bei vielen Agierenden stattgefunden
hat, ohne sie ausbuchstabiert zeigen zu müssen. Filmemacher wissen, welche
Möglichkeiten der Filmdramaturgie, der Schnitte, der Kommentare und
Einspielungen, der Geräusche und der Musik zur Verfügung stehen. Und die Interviewten? Sie hätten auf einer historischen Problematisierung
bestehen müssen. Mir scheint, nur mit Wahrhaftigkeit und Nachdenklichkeit
sowie mit linker Kritik an Erfolg und Mißerfolg des Sozialismusversuches,
darin als ein Teil die Rolle des MfS (in seinen verschiedenen,
unterschiedlichen Perioden), läßt sich unseren Urenkeln sagen, welche unserer
Fehler sie bei einem neuen Sozialismusversuch nicht mehr machen dürfen. Damit
sie die Freiheit zu ihren eigenen haben werden. Der Film ist vorerst eine
verschenkte Möglichkeit. Leider. Ein
Nachtrag Im
Film gibt es einen – leider nicht weiter verfolgten – winzigen Hinweis auf
einen Sachverhalt, der für Motivation und Psychologie vieler Mitarbeiter des
MfS, namentlich der älteren, wesentlich ist: Siegfried Rataizik erwähnt seine
antifaschistische Herkunft und daß seine Mutter von den Nazis ermordet wurde.
Zu diesen Prägungen setzt er seine MfS-Arbeit in ein Verhältnis. Die
Gründergeneration des MfS bestand ausnahmslos aus Menschen, die in den sozialen
und politischen Kämpfen der Weimarer Zeit und besonders im aktiven
antifaschistischen Kampf geformt wurden. Sie waren im KZ, in der Emigration,
in den Internationalen Brigaden in Spanien, sie waren bei den sowjetischen
und slowakischen Partisanen und in der Resistance.(11)
Sie erwarben die Eigenschaft, äußerst hart im Nehmen zu sein. Wer so geprägt
wird, neigt dazu, auch hart im Geben zu sein.(12) In diesem Zusammenhang sei ein Buch ausschließlich westdeutscher
Autoren empfohlen: »Konspiration als Beruf – Deutsche Geheimdienstchefs im
Kalten Krieg«.(13) Im Vergleich zu gängigen Betrachtungen zu deutschen
Geheimdienstfragen ist dieses Buch ein erheblicher Fortschritt. In einem
Buchdeckel sind in Gestalt ihrer ersten Chefs die Geheimdienste beider deutscher
Staaten versammelt, sogar in dieser Reihenfolge »vermischt«: Wilhelm Zaisser – Friedrich Wilhelm Heinz – Richard Stahlmann –
Fritz Tejessy – Karl Linke – Otto John – Ernst
Wollweber – Reinhard Gehlen – Erich Mielke – Gerhard Wessel – Markus Wolf. Die
Filmemacher hätten erkennen können, daß nichts, aber auch gar nichts
erklärbar und auch nicht darstellbar ist ohne die jeweilige Gegenseite. Und
um auf Siegfried Rataizik als ein personales Symbol zurückzukommen: Auf der
Gegenseite findet sich niemand seinesgleichen: Herkunft aus der
Arbeiterschaft und aus antifaschistischen Kreisen. Nein, falsch, zwei
Ausnahmen: Die Westseite hatte mit Dr. Otto John wenigstens zeitweise einen
Geheimdienstchef, der gegen die Nazis gekämpft hatte, und zwar aus grundsätzlichen
Motiven und nicht aus bloß vorausschauender Opportunität nach der
Stalingrad-Wende. Und Fritz Tejessy mit einer
SPD-Vita. Es ist schwer verstehbar, weshalb der Film die im Gründungspersonal besonders deutliche Gegensätzlichkeit politischer und sozialer Ziele der deutschen Geheimdienste nicht thematisiert oder wenigstens bedenkt. Dies auch um so mehr, als der so deutlich gemachte historische Kontext ein Schlüssel hätte sein können, manches schwierige Problem bei der Betrachtung des »Alltags« des MfS anzugehen. Z. B., um sich nicht darauf zu beschränken, steril ein weiteres Mal die bloße Reproduktion der exzessiven Persönlichkeit Erich Mielkes vorzuführen, sondern ihr nachzuspüren.(14) Der Film erschöpft sich darin, Mielke als Phänomen zu zeigen und dem Zuschauer zur Stammtischbeurteilung auszuliefern. Aber so einfach kann man es sich nicht machen. Mielke hat zwar keine einem Fouché vergleichbare historische Bedeutung, er ist aber seinerseits ein Produkt sozialer Kämpfe des 20. Jahrhunderts, deren Erbarmungslosigkeit in Deutschland mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht begann und mit deren Mördern eben einer der ersten westdeutschen Geheimdienstchefs aufs engste verflochten war, nämlich Friedrich Wilhelm Heinz.(15) Solche Zusammenhänge haben den Alltag des MfS lange geprägt und auch später noch durchaus gefärbt. Leider auch dann noch, als »Jakobiner-Herrschaft« nicht mehr nötig war und kontraproduktiv geworden war. |