Ulrich Wickert zur Stasi in Frankreich
In seinem gleichermaßen unterhaltsamen wie informativen Buch „Vom Glück, Franzose zu sein“ (Wilhelm Heyne Verlag München 2007) beschäftigt sich der langjährige ARD-Korrespondent in Paris u. a. auch mit der Stasi in Frankreich. (Seiten 105 – 124)
Die Sicht des Weltbürgers Ulrich Wickert unterscheidet sich dabei deutlich vom Tunnelblick der kleingeistigen Verfechter des in Deutschland verordneten Geschichtsbildes.
Hier einige Zitate:
„Weil die Regierenden in
Frankreich die Vorliebe ihrer Landsleute für Versteckspiele kennen, versuchen
sie Mittel und Wege zu finden, um ins Verborgene zu schauen. Denn, so
argumentiert ein hoher französischer Beamter, der Präfekt Jacques Fournet, die Regierung benötige Auskünfte über die bürgerliche
Gesellschaft, um Krisen zu verhindern. Verfüge die Regierung über das richtige
Wissen, dann könne sie im richtigen Augenblick richtige Entscheidungen treffen,
die auch noch richtig formuliert seien, so daß sie
von der öffentlichen Meinung verstanden würden. Richtig verstanden werden,
meint Fournet wahrscheinlich, und das heißt: im Sinne
der Regierung.
Fournet sagte dies, kurz nachdem ihn Staatspräsident Francois Mitterrand im August 1988 zum Chef des französischen Staatssicherheitsdienstes Renseignements generaux (RG) ernannt hatte…
Fournet brachte die französische Stasi schnell auf Vordermann. Die RG verfügen über einen großen, gut ausgebildeten Stab von Beamten. Allein in der Hauptstadt Paris spionieren achthundert Geheimagenten die Gesellschaft aus. ..
Auslandskorrespondenten, die wegen kritischer Artikel wiederholt den Zorn der Regierung m Paris auf sich zogen, wurden vorgeladen und bürokratisch »überprüft« oder im einzelnen Fällen sogar abgehört…
Offenbar funktionieren
Staatssicherheitsdienste überall in der Welt nach ähnlichen Methoden, denn
genauso, wie es die Deutschen von der DDR-Stasi kennen, beschäftigen die RG
eine große Zahl von informellen Mitarbeitern. So schnüffelte Bernard M. als IM
»Mathurin« bei der Postverteilstelle in Metz und
sortierte alle Briefe an die Kommunistische Partei aus. Sie wurden von einem
Inspektor der RG geöffnet, fotokopiert und weitergeschickt. Ihr Inhalt diente
dem Inspektor dazu, politische Analysen für die politische Abteilung der RG in
Paris anzufertigen. IM »Mathurin« erhielt monatlich
zwischen 300 und 400 Franc Belohnung und wurde - eine besondere Vergünstigung
- ab und zu von seinem Führungskommissar zum Essen in ein gutes Restaurant
eingeladen. Die RG hatten Mathurin für diese Aufgabe
rekrutiert, da er bei Kommunalwahlen für die Rechte kandidiert hatte und als
Kommunistenfresser bekannt war. Zur gleichen Zeit wurde ein Arbeiter bei der
Autofabrik Renault in Boulogne-Billancourt, einem
Vorort von Paris, als IM »Brahim« geführt. Wenn er
interessante Auskünfte über geplante Aktionen der kommunistischen Gewerkschaft
CGT meldete, wurde er mit tausend Franc belohnt.
Überall in Frankreich, an jedem
Ort, ist die französische Stasi mit ihren Agenten vertreten. Mehr als
dreitausend festangestellte Geheimpolizisten
arbeiten für die RG. Doch nicht überall, insbesondere nicht in allen sozialen
Schichten, verfügen die Renseignements generaux über
IM. Deshalb ließ Fournet das Netz ausbauen. Er
forderte seine Agenten auf, auch an Schulen, Universitäten, bei den Trotzkisten
und Skinheads nach IM zu suchen. Jedoch erschien ihm die bisherige Art,
jemanden zur Mitarbeit zu überreden, zu altmodisch. Fournet
forderte seine Agenten auf, nicht mit dem Geldbeutel zu locken, sondern erst
einmal eine Person ins Visier zu nehmen, die als IM besonders wertvoll sein
könnte. Dann sei in deren Leben nach Schwachstellen zu suchen, die irgendwann
als Druckmittel dienen könnten. Die Bindung an den Geheimdienst sei auf diese
Weise sehr viel stärker…
Jeden Abend erhält der französische Innenminister das Dossier der RG. Darin befindet sich alles, was ein Politiker in Paris wissen will: Analysen politischer Vorgänge, Angaben über die illegale Finanzierung von Parteien, die Recherchen von Journalisten über eine politische Affäre, die drohende Veröffentlichung von Einzelheiten aus dem Privatleben des Präsidenten, bis hin zu geheimen Liebschaften von Politikern. Ganz heikle Vorgänge werden als anonymisierte notes blanches auf Papier ohne Briefkopf, ohne Hinweis auf die Herkunft, der abendlichen Akte des Ministers beigelegt…
Das französische System erlaubt
es der Regierung, geheimzuhalten, was sie weiß und
was sie tut. Denn die verantwortlichen Politiker haben einen Joker, den sie
hervorziehen, wenn es die Opposition oder die Justiz wagt, unangenehme Fragen
zu stellen. Ob es um den peinlichen Skandal des Schnüffel-Flugzeugs ging (S.
159ff.), um die Abhöraffären, etwa des Elysee oder
des »Canard enchaine«,
immer wieder beriefen sich die Verantwortlichen, wenn sie ertappt wurden, auf
die Wunderformel secret-defense - und das hieße, nähme man die
Übersetzung wörtlich, »Verteidigungs-« oder »Militärgeheimnis«, gemeint ist
aber das allumfassende »Staatsgeheimnis«. Und so ist die vermutliche
Beteiligung französischer Geheimagenten an unglaublichen Taten vertuscht
worden. Sobald ein Untersuchungsrichter Einblick in Akten des Geheimdienstes
haben oder gar einen Agenten vernehmen wollte, versteckte sich der
Staatsapparat hinter dem secret-defense.
Drei politische Morde blieben deshalb ungeklärt…
Wenn Philosophen politische Systeme qualifizieren, dann nennen sie einen Staat äußerst demokratisch, in dem der einzelne so viele Geheimnisse wie möglich vor der Obrigkeit haben darf, der Staat aber nur das zum Geheimnis erklärt, was er unbedingt verbergen muß, um sich als Rechtsstaat zu schützen. Nun haben in Frankreich viele Bürger viele Geheimnisse vor der Staatsmacht. Da aber die Macht in diesem Staat wiederum von geheimniskrämerischen Bürgern ausgeübt wird, besteht auch der Staat auf seinen Geheimnissen.
Und weil in Frankreich dem
Denken und Handeln des Volkes eine besondere Bedeutung zugemessen wird, muß auch dessen Meinung ständig erforscht werden. Deshalb
werden in Paris mehr Umfragen in Auftrag gegeben als in irgendeinem anderen
Land der Welt. Jedes Jahr erscheint ein vielbeachteter
Band mit Untersuchungen über den »Stand der öffentlichen Meinung«. 1998 gab es
da ein Kapitel zum Thema »Franzosen und Geheimnis«. An der Spitze der
Geheimnisse, die nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Franzosen auf jeden
Fall respektiert werden müssen, stehen das Beichtgeheimnis, das Privatleben
von Stars und Politikern und schließlich das Militärgeheimnis. Und weil
Franzosen daran gewöhnt sind, daß alle Geheimnistuer
sind, meinten auch nur vierzehn Prozent der Befragten, die Enthüllungen über
die geheimen Abhörmaßnahmen des Elysee hätten sie
überrascht.“