"Neues Deutschland" vom 2. Oktober 2007, Seite 6 (Meinung)

Mathias Wedel: So sehen Opfer aus

Nun wird es wohl am 4. Oktober seit langer Zeit wieder Morgenappelle an den Schulen geben. Dann sind die Freiheits-Freudenfeste, die jedes Jahr zum Tag der Deutschen Einheit in den ostdeutschen Sippen gefeiert werden, verrauscht und die lieben Kleinen haben die Erwachsenen wahrscheinlich noch nie so oft »Scheiß Einheit!« brüllen hören wie an diesem Tag. Da muss am nächsten Morgen unbedingt nachgewaschen werden. Natürlich nicht auf dem Schulhof und in Antreteordnung! Vielmehr sind die Lehrer angewiesen, nette, harmlose Fragen zu stellen wie »Wer war schlimmer als Adolf Hitler - den Vornamen sage ich schon mal vor: Erich?« oder »Wessen Vati sagt denn manchmal > ln der DDR hat der Arztbesuch nichts gekostet und warum ist das dumm von Vati?« oder »Was wurde Böses mit den Kindern gemacht, deren Eltern in die Freiheit fliehen wollten?« Die richtige Antwort wäre »Ins Heim gesteckt«, aber auch »ins Gefängnis«, »ins KZ« oder »von der Stasi aufgegessen« kann man gelten lassen, Hauptsache der Standpunkt stimmt.

Bei dieser Gelegenheit werden die Lehrer die Hausaufgabe überprüfen: Haben die Schüler den Propagandazweiteiler »Die Frau vom Checkpoint Charlie« mit dem notorischen Opfer und nölenden Besenstiel Veronika Ferres gesehen? Wochenlang wurde in Frauenzeitschriften und von Plakatwänden herunter für dieses epochale Werk des poststalinistischen Realismus agitiert, »Bild« forderte seine Leser auf, die Frau aus der Checkpoint-Sperrholzkulisse des MDR ganz doll lieb zu gewinnen und selber als »Opfer der Woche« mitzuteilen, wie sie in der DDR gelitten haben. In der Provinz wurden Leserbrief kampagnen unter dem Motto »Die Diktatur war keine Badekur« oder »Warum man in der DDR zum Bettnässer wurde« organisiert (die Redaktionspraktikanten mussten ran, Leserbriefe erfinden). Den Kindern wurde angedeutet, wenn die Eltern sich die Gruselstory nicht freiwillig im Fernsehen ansähen, müsse man mal nachschauen, ob es was über sie bei der Frau Birthler gäbe.

Viele Vatis und Muttis müssen heutzutage ihre Kinder zur Doppelzüngigkeit erziehen. Widerlich! Zu Hause dürfen die Kleinen »Alfons Zitterbacke« lesen (der bekanntlich Grenzsoldat werden wollte), mit Muttis alten Urkunden vom sozialistischen Wettbewerb spielen, auf Spaziergängen durch Wald und Flur das Lied »Die Heimat hat sich schön gemacht«, Frank Schöbel auf Platte hören oder Pornos im Internet anschauen. Für die Schule aber muss man hersagen können, dass die DDR »ein Volksgefängnis« war, dass es - wenn überhaupt - nur Rote Beete zu essen gab und man zu ekelhafter Doppelzüngigkeit erzogen wurde. Außerdem müssen die Kinderchen ab Klasse 2 einmal im Quartal bei Hubertus Knabe im Stasi-Knast gewesen sein, um sich Anregungen für ihre Folterspiele auf dem Schulhof zu holen. Wer schwänzt, darf nicht mit auf Klassenfahrt in die Feengrotten Saalfeld, wo viele Widerstandskämpfer wie Veronica Ferres eingesperrt waren und zu Stalagniten gerannen. Außerdem kämpfen die Schüler darum, dass ihre Schule den Ehrennamen »Widerstandskämpfer Emmerlich« oder »Pfarrer-Eggert-Gymnasium« tragen darf. Und Abiturienten kriegen Leistungspunkte, wenn sie an einem Projekt »Auch meine Oma hat Blut an den Händen« teilgenommen haben.

Wer unerschütterlich in die Demokratie verliebt ist, hat sich jedoch nicht nur das »TV-Event« mit der DDR-flüchtigen Ferres angetan, sondern mit zusammengebissenen Zähnen auch noch die ideologische Nachbereitung bei »Anne Will« unter Aufsicht der Stasi-Behörden-Chefin. Da konnte man erleben, was die Erziehung zur Doppelzüngigkeit aus einem an sich gesunden Menschen macht: die arme Petra Pau! So viel Angst und Pein, was Falsches zu sagen, von Birthler, Ferres und Will schlecht benotet zu werden! So sehen Opfer aus - im Herzen Pionier bleiben und rückwirkend auf Grenzsoldaten schießen.

Schizophrenie heißt neuerdings »bipolare affektive Störung«. Hält man sie durch, kann man damit sogar Kanzlerin werden.