neues-deutschland.de / 08.04.2016 / Literatur/Politisches Buch / Seite 16
Sogar Müllhalden wurden durchforstet
Geheimdienstkarrieren in
Deutschland - ein neues Buch von Helmut Müller-Enbergs
und Arnim Wagner
Wolfgang Schmidt
Diese Publikation ist vor allem deshalb
bemerkenswert, weil sie sich grundlegend von den Produkten der staatlich gesponserten
Aufarbeitungsindustrie zur Geschichte der DDR im Allgemeinen und des
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR im Besonderen unterscheidet. Ohne die
einseitige Fixierung auf das MfS, ohne vorgegebenen Propagandaauftrag, ohne die
Einteilung der Welt in Gut und Böse und auf seriöse historische Forschung
gestützt, werden mit den vorgestellten Biografien geschichtliche Abläufe in
ihrer ganzen Komplexität und gegenseitigen Bedingtheit exemplarisch sichtbar.
Herausgegeben wurde das Buch von Helmut
Müller Enbergs, einer der bekanntesten und
profiliertesten Wissenschaftler der Stasi-Unterlagenbehörde, und dem
Militärhistoriker Arnim Wagner. Zu ihren neun Ko-Autoren gehören der anerkannte
Friedensforscher und Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom
und der durch sein beachtenswertes Buch zur »Kampfgruppe gegen
Unmenschlichkeit« (KgU) hervorgetretene Historiker
Enrico Heitzer. Geschildert werden hier Lebensläufe
der »zweiten Reihe« von Geheimdienstmitarbeitern, darunter nicht nur Spione
nach klassischer Vorstellung, sondern auch freie Nachrichtenhändler,
Propagandafachleute und Ministerialbeamte im Dienste geheimer Politik.
Die Auswahl der Porträts ist allein schon
spannend und interessant. Sie verdeutlicht die ohne Gesinnungswechsel nach 1945
im Westen übliche Wiederverwendung von faschistischen Geheimdienstlern und
Nazipropagandisten im Kampf gegen den »Bolschewismus«, die Unterwanderung z. B.
des bayrischen Verfassungsschutzes durch eine »Sonderverbindung« der
Organisation Gehlen, die geheimdienstliche Verbandelung
der psychologischen Kriegsführung des Bundesministeriums für gesamtdeutsche
Fragen, die Geschäftstüchtigkeit eines Nachrichtenhändlers, der zehn staatliche
und fünf nichtstaatliche Geheimdienste u. a. mit auf Müllhalden der
Sowjettruppen in Österreich und selbst aus der Kanalisation gefischten
Materials belieferte, die Karriere eines Mehrfachagenten, die im besetzten
Frankreich mit Kontakten zum Sicherheitsdienst der SS begann usw. usf.
Geschildert wird der Werdegang von
Heinrich von zur Mühlen alias Dr. Hoffmann, der in den besetzten Gebieten der
Sowjetunion zunächst in einer SS-Einsatzgruppe an Beutezügen auf Akten und
Kulturgüter beteiligt war und sich danach als Spezialist für psychologische
Kriegsführung gegen die Rote Armee profilierte. Nach 1945 arbeitete er für den
britischen Geheimdienst, für die Organisation Gehlen und den mit ihr
konkurrierenden Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst, bis er 1948 maßgeblich an der
Gründung der KgU beteiligt war und deren
Geheimdienstsektion leitete. Dort unterhielt er auch Kontakte zu sogenannten Stay-behind-Netzwerken in der sowjetischen Besatzungszone,
die in einem Kriegsfall im Rücken der sowjetischen Armee kämpfen sollten. 1951
wurde von zur Mühlen aus der KgU gedrängt, wobei es
auch darum gegangen sein soll, ob den antikommunistischen Widerstand
diskreditierende Sabotage- und Gewalthandlungen auf dem Territorium der DDR zum
Repertoire der KgU gehören sollten. Solche Skrupel
kennt die bundesdeutsche Justiz bis heute nicht; sie verteidigt noch immer die
zweifelhafte Ehre der KgU-Terroristen.
Die Herausgeber bestätigen die Aussage der
internationalen HVA-Konferenz in Odense 2007, wonach das MfS den Krieg der
Geheimdienste gewonnen, den Kalten Krieg aber verloren habe. Allein die in
diesem Buch skizzierte Biografie des Stellvertretenden Chefs des Militärischen
Abschirmdienstes der Bundesrepublik, der 1969 bis 1985 für das MfS gearbeitet
hat und nur eine von mehreren hochkarätigen Quellen des MfS in den
westdeutschen Geheimdiensten war, belegt diese Aussage anschaulich. 160 der
zuletzt 180 Agenten des Bundesnachrichtendienstes in der DDR sollen vom MfS
gegengesteuert gewesen sein. Dass deren Auslands- und Gegenspionage auch von
Rückschlägen begleitet war, zeigt das hier beschriebene Schicksal des ersten
Residenten der HVA in Frankreich, der schon nach zwei Jahren enttarnt wurde und
erst nach mehr als acht Jahren Haft in französischen Gefängnissen ausgetauscht
werden konnte. Die Schilderung des immensen Aufwandes, den das MfS betrieben
hatte, um eine US-amerikanische Militärspionin in Dresden letztlich dann doch
aufzuspüren, offenbart, wie langwierig und schwierig Geheimdienstarbeit häufig
ist.
Dem Buch liegen umfangreiche
Quellenangaben und Literaturhinweise zugrunde, darunter - keinesfalls
selbstverständlich - auch DDR-Literatur bzw. Publikationen von Zeitzeugen aus
der DDR. Nicht immer war die Quellenauswahl glücklich, z. B. wenn die infame
Behauptung von Henry Leide kolportiert wird, der Umgang mit NS-Tätern in der
DDR sei »nicht durch den unbedingten Willen zur grundsätzlichen Ahndung von
NS-Gewaltdelikten« bestimmt gewesen. Oder wenn ein gelungener Mordanschlag des
MfS auf den »Fluchthelfer« Michael Gartenschläger unterstellt wird, obwohl die
verdächtigten MfS-Angehörigen von bundesdeutschen Gerichten in dieser Sache
freigesprochen wurden.
Die Herausgeber und Autoren profitieren
von der weitgehenden Freigabe der US-Geheimdienstarchive für die Nachkriegszeit
und den bescheidenen Einblicken in Archive der bundesdeutschen Geheimdienste im
Zusammenhang mit der Aufarbeitung von deren braunen Vergangenheit. Alles in
allem bietet das Buch Einblicke in wahrhaftige und lebendige Geschichte und ist
nicht nur Insidern als lesenswert zu empfehlen.
Helmut Müller-Enbergs/Arnim
Wagner (Hg.): Spione und Nachrichtenhändler 1939
- 1989. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 376 S., geb.,
25 €.