Neues Deutschland -
18.10.05
Der Agent, der aus den Alpen kam SPIONAGE IM KALTEN KRIEG
Von Bodo Wegmann
Ein Westbürger spioniert im Osten. Der Fahndung folgt die
Festnahme, dem Arrest der Austausch. Ein Vorgang, wie er im Kalten Krieg
hundertfach geschah - hier Hannes Sieberer. Der Österreicher
war 1976 von einem Geheimdienst der USA angeworben worden. Die Military Intelligence der United States
Army schulte ihn. In der DDR und Polen sollte er fortan Agenten werben und
militärische Ziele ausspähen. 1978 warb Sieberer
alias »Kurt Klepp« einen entfernten Verwandten: »Max« war SED-Mitglied und
arbeitete auf der Warnow-Werft in Rostock. Er sammelte Informationen über Militärtechnik,
die NVA und Sowjettruppen und berichtete aus dem Parteileben. »Max« gab seine
Kenntnisse in mit Geheimschreibmitteln präparierten Briefen an Sieberer
weiter.
Die Spionageabwehr des MfS kannte die Methoden der
gegnerischen Dienste offenbar besser, als diese es annehmen wollten. Schon der erste
Brief von »Max« wurde entdeckt - weil er Merkmale eines längst bekannten
Fahndungsrasters aufwies. Um den Schreiber zu identifizieren, wurden rund 98000
Schriftproben verglichen. Diese neu erkannte »Brieflinie« führte die
Ermittlungen rasch auch zu Sieberer. Im Sommer 1981
beobachteten das MfS und die tschechoslowakische Staatssicherheit ein Treffen
der beiden in der CSSR. Die Analyse so genannter Rundspruchsendungen, mit denen
westliche Dienste ihre Agenten instruierten und die regelmäßig vom MfS aufgezeichnet
wurden, erbrachte weitere Beweise. 1982 wurden Sieberer
und »Max« verhaftet.
Herbert Kierstein gehörte seit
über 20 Jahren den Untersuchungsorganen (Linie IX) der Staatssicherheit
an und bearbeitete Spionagefälle. Der Fall Sieberer
war für ihn
Routine. Nach der Wende trafen sich beide. Sieberer,
der 1983 zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt und zwei Jahre später im
Rahmen des größten Ost-West-Agentenaustauschs in den Westen entlassen worden war,
suchte Antworten. In dem von beiden gemeinsam verfassten Buch sind sie nachzulesen.
Mit Kierstein gibt erstmals ein
leitender Mitarbeiter der Hauptabteilung IX fallbezogene Einblicke in das
Repertoire der DDR-Spionageabwehr. Er beschreibt komplexe technische und
operative Methoden, um gegnerische Agenten zu finden und die Vernehmungen gegen
sie zu führen. Besonders interessant ist, dass Kierstein
sieben
Jahre eine Arbeitsgruppe geleitet hat, die digitale Verfahren der Sprachanalytik
entwickelte, um den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu bewerten. In seiner
Beschreibung korrigiert er zugleich Abhandlungen von Rita Selitrenny
über die
Untersuchungsarbeit des MfS.
Sieberer schließt sich dem sachlichen Stil Kiersteins an. Dabei hätte er es sich leicht machen können
- in der Rolle eines Stasi-Opfers. Doch er wollte weg vom Opfer-Täter-Klischee
und kritisiert gepflegte Vorurteile über Nachrichtendienste im allgemeinen und über das MfS, die U-Haft und den
Strafvollzug der DDR im besonderen. Nach seiner Entlassung aus Bautzen und der
Heimkehr hat er Politikwissenschaften studiert und promovierte in Innsbruck über
»Nachrichtendienste
in den internationalen Beziehungen«.
Während Sieberer den Dialog mit
dem einstigen Gegner fand, suchte er ihn mit seinem früheren Partner vergebens.
Von der US Intelligence Community
wollte er wissen, warum und wie »Max« enttarnt werden konnte. Warum hatten die
amerikanischen Dienste die Fähigkeiten der MfS-Spionageabwehr so sehr unterschätzt?
Doch Washington schweigt bis heute. Man sähe »überhaupt keinen Grund für ein
persönliches Gespräch«, teilte ihm die einstige Führungsstelle mit. So fühlt
sich Sieberer als einer von vielen, die CIA, DIA
& Co. im Kalten Krieg »verheizt« und eben schlichtweg »vergessen« haben.
Hannes Sieberer und Herbert Kierstein:
Verheizt und vergessen. Ein US-Agent und die
DDR-Spionageabwehr. Edition Ost, Berlin. 224S., br., 14,90 EUR.