"Neues Deutschland" vom 02.10.03
Politisches
Buch
Das zweite
Leben - und die Angst
Kundschafter
im Westen - Spitzenquellen der HVA erinnern sich
Von Helmut Müller-Enbergs
Ein
ungewöhnliches Buch: 35 inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit
berichten über ihre nachrichtendienstliche Arbeit im »Operationsgebiet«, meist
über ihre Informationsbeschaffung in der Bundesrepublik. So etwas hat es
bislang für ein breites Publikum nicht gegeben. Zu Zeiten der DDR gab es zwar
schon sorgfältig bearbeitete Erinnerungen wie die des Kanzlerreferenten Günter
Guillaume, teils zum Ruhme der Auslandsspionage gedacht, teils zur pädagogischpolitischen
Erbauung noch aktiver Agenten oder ihrer hauptamtlichen Vorgangsführer.
Lediglich in kleinen hausinternen Anthologien gab es mehrere Erinnerungsberichte
von Inoffiziellen, hochstilisiert zu Politagenten. Die Herausgeber Klaus
Eichner und Gotthold Schramm haben ein breites Spektrum inoffizieller Stimmen
zusammengetragen. Das besticht. Eichner als Analytiker der Gegenspionage kann
wie Schramm, zuletzt zuständig für Fragen der zivilen Verteidigung, auf über
drei Jahrzehnte Arbeit bei der Hauptverwaltung A, der Spionagediensteinheit des
MfS, verweisen. Das prägt, vor allem politisch. Gleichwohl sind sie um
historisch-politische Aufklärung vor allem der nachrichtendienstlichen
Seite des Staatssicherheitsdienstes bemüht. In »Kundschafter im Westen« findet
das seinen Ausdruck. Die Verbundenheit mit den ehemaligen stellvertretenden
Ministern Wolf und Großmann findet im Vorwort ihren Niederschlag, das, anders
als viele Schilderungen der Spione selbst, stilisiert: Das Buch würde Einblicke
in das »Innerste« geben, politische und ideologische Motive beschreiben.
Anders, als die Generäle meinen, stimmt es fast. Sicherlich hatten viele Spione
der DDR ein politisches Motiv, aber nicht wenige waren materiell bestimmt -
der Verfassungsschützer Klaus Kuron mag dazu gehören. Andere Motive waren
jedoch apolitischer Natur: Erpressung, die es auch bei der HVA gab, oder
schlicht persönliche Freundschaft. Ein linkes Motiv ist bei jenen, die nicht
ahnten, wem sie Nachrichten gaben, kaum anzunehmen, Wolfgang Hartmann (»Karl
Kneske«), der einzige DDR-Instrukteur in dem Band, beschreibt anschaulich
die »fremde Flagge«, die in dieser Form seit den fünfziger Jahren gepflegt
worden ist. Unpolitische Motive passen nicht ins Bild der »Kundschafter des
Friedens«, weshalb sie weggeblendet werden. Ein Manko. Unangenehm fällt im
Vorwort der Hass gegen »Verräter« auf, was wohl nur eigenes »Versagen« bei der
Aktenvernichtung kaschieren soll. Großmann wird als Leiter für den
unzulänglichen Quellenschutz die Verantwortung übernehmen müssen. Die
Zeitgeschichtsforschung wird jedenfalls mit Hilfe von verfilmten Karteien
(»Rosenholz«), elektronischen Informationsspeichern (»SIRA«) und den
Informationsberichten an die Parteiführung die DDR-Spionage zu dem am
meisten entblößten Nachrichtendienst in der Weltgeschichte machen. Diese
Erinnerungsberichte zeigen den Variantenreichtum nachrichtendienstlicher
Arbeit: Selbstanbieter kommen ebenso zu Wort wie in die Bundesrepublik Übergesiedelte, dort Geworbene oder mit falscher Identität Rübergeschleuste.
Freilich fehlt es nicht an bekannten Namen: Alfred und Ludwig Spuhler, Gabriele
Gast, Christel und Günter Guillaume oder Rainer Rupp, um nur einige zu nennen.
Interessanter noch und auch mit Akten nicht zu erhellen ist etwa die »Aktion
100«. Ein Unternehmen, bei dem in den fünfziger Jahren gleich mehrere
Kundschafter in den Westen geschleust worden sind. Oder der Bericht von Dieter
W. Feuerstein (»Petermann«), der die nachrichtendienstliche Arbeit seines
Vaters Gerhard (»Donat«) fortsetzte.
Oftmals
wenig beachtet, erinnern gleich mehrere Beiträge an die »Aufklärung« der
Nationalen Volksarmee, die recht rührig war: Bald 20 Jahre war das Duo Egon
Streffer und Dieter Popp (»Asriel« und »Aurikel«) aktiv, das von 1969 bis 1989
Unterlagen aus dem Planungsstab des Verteidigungsministeriums beschaffte. Oder
der ehemalige CDU-Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft, Gerd Löffler,
dessen Erinnerungen auffallend dogmatisch ausgefallen sind. Schließlich der aus
der DDR übergesiedelte Dieter Görsdorf, der aus dem Marinebereich Informationen
zu beschaffen hatte und nach siebenjährigem Einsatz 1974 enttarnt worden ist.
Freilich hat dieses Buch die Funktion, die nachrichtendienstliche Arbeit der
DDR zu legitimieren. Nicht wenige der Autoren machen politische Motive für ihr
jahrelanges Doppelleben geltend. Meist wirkt dies etwas schrill. Selten nur
schimmert das Wahre im falschen Leben durch. Etwa, wenn Peter Wolter (»Pirol«)
an die »menschlichen Verluste« erinnert, von den Spuren spricht, wenn er sein
wahres Gesicht verbergen musste. Klaus von Raussendorff (»Brede«), ehemals
Botschaftsrat, fragt: »Würde ich je wirklich Freunde haben? Würde ich eine Frau
finden? Erwartete mich nicht ein Leben in Isolierung und innerster Einsamkeit?«
Hinzu kam die permanente Furcht, »aufzuplatzen«, also enttarnt und verhaftet zu
werden, das sich stete kontrollieren. Mehr noch die Strapazen der Tätigkeit
selbst - Informationen entwenden, fotografieren, verstecken, funken.
Mitunter das Leiden darunter, ausgerechnet eine politische Einstellung zu
leben, die manch einer der Spione ablehnt. Einflussagent in gegnerischen
Angelegenheiten. Das triste Leben in falscher Haut. Dieses »Innerste« erreichen
nur wenige Beiträge. Durchgehend wird absolut gesetzt (und das muss wohl so
sein), dass all diese Opfer nützlich waren, Informationen den »Frieden
sicherten«. Woher stammt dieser Optimismus, wonach dieses Wissen wirklich jene
erreichte, die es umsetzen konnten? Keiner erwähnt auch nur, dass Agenten-Dasein
auch eine Art zweites Leben war, in das geflüchtet werden konnte, wenn das
wirkliche Leben grau war. Das stete Trauma der Inhaftierung ließ Haft dann als
besonders tiefen Einschnitt erscheinen. Die meisten Autoren beschreiben ihr
Gerichtsverfahren und ihre Haft beim »Klassenfeind« als fair, andere, wie
Gabriele Gast, erlebten sie als Isolationshaft. Sie alle waren sich ihrer
strafbaren Handlungen bewusst, doch keiner erhellt dies in seinem Beitrag. Hat
es sich gelohnt? Hier wurde Leben für eine Sache verbraucht, die untergegangen
ist.
Klaus EichnerIGotthold Schramm
(Hg.): Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDRAufklärung erinnern sich,
Mit einem Vorwort von Markus Wolf und Werner Großmann, Edition Ost, Berlin
2003. 383S., geb., 17,50 EUR.