Gerhard
Jaap:
An der
unsichtbaren Front
(„Das Blättchen“, Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und
Wirtschaft, Heft 1/2022, Seite 46-47)
Mit 765 Seiten schweren Inhalts hat Henry Nitschke erneut
ein opulentes und aufschlussreiches Werk vorgelegt, das den Inoffiziellen
Mitarbeitern (IM) der Auslandsaufklärung des MfS gewidmet ist. Der Autor,
Diplomkriminalist, Jahrgang 1961, publiziert unter Pseudonym und ist ein
Experte für die Geschichte von Nachrichtendiensten, der unter anderem Firmen in
Fragen der Sicherheit und des Geheimnisschutzes berät. In dieser Zeitschrift
sind bereits zwei Sachbücher von ihm über die Spionageabwehr der DDR rezensiert
worden. Der Insider Hansjörg Geiger sagte vor einigen Jahren sehr sachkundig,
dass die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des MfS „eindeutig einer der
Top-Auslandsgeheimdienste der Welt“ war. Und Geiger musste es wissen, denn er
war schließlich Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des
Bundesnachrichtendienstes – der nachrichtendienstlichen Gegenspieler der HV A.
Die massive subversive Tätigkeit vor allen Dingen amerikanischer, britischer
und deutscher Nachrichtendienste gegen die DDR erklärt, warum sie unweigerlich
in das Visier des MfS gerieten – immer in den Ländern, in denen die
weitreichenden Spionageaktivitäten und die feindlichaggressive Tätigkeit gegen
die DDR ihren Ursprung hatten. Wie der Titel schon ausweist, die Gewinnung und
Führung der IM in der DDR und im Westen in ihren jeweiligen Funktionen ist der
Gegenstand des jetzt vorliegenden Buches. Dabei liegt ein besonderer
Schwerpunkt auf den sogenannten Übersiedlungs-IM, also IM aus der DDR, die ihre
Wohnsitze in das Operationsgebiet verlegten, um dort nachrichtendienstlich
tätig zu werden. Der Autor beschreibt detailliert, wie diese IM gewonnen,
ausgebildet, übergesiedelt und im Operationsgebiet legalisiert wurden.
Aufgezeigt wird dabei auch, dass diese Prozesse nicht immer glatt verliefen.
Das Verbindungswesen (der Lebensnerv) von der Ostberliner Zentrale zu den IM
und umgekehrt wird detailliert geschildert. Es werden entsprechende Mittel und
Methoden wie Tote Briefkästen, Container, Funk und Geheimschreibmittel
erläutert, wobei der Akzent auf der Arbeit mit Operativen Grenzschleusen (OGS)
liegt. OGS waren bestimmte Punkte an der Grenze zur BRD und nach Westberlin, an
denen die IM ohne Kenntnis der DDR-Grenztruppen sowie bundesdeutscher
Grenzüberwachungsorgane mit Hilfe von Sonderoffizieren des MfS die Sperranlagen
überwinden konnten. Meist waren dazu die Sperranlagen entsprechend präpariert,
oder sie wurden mit speziellen Hilfsmitteln überwunden. Es wurde zwischen
Personen- und Materialschleusen unterschieden. OGS nutzten IM, denen aus
verschiedenen Gründen die Passage an einer Grenzübergangsstelle nicht möglich
war oder die dabei bestimmte Gegenstände transportieren mussten. Der
Abwehrarbeit des westdeutschen Verfassungsschutzes ist ein eigenes Kapitel
gewidmet, in dem geschildert wird, wie auf die Maßnahmen der HV A reagierte
wurde und welche Abwehroperationen man versuchte. Der langjährige Leiter der HV
A (von 1953 bis 1986), Generaloberst Markus Wolf, äußerte sich 2006 so zu
diesem Thema: „Militärapparate zerstören, aber Aufklärer machen transparent –
um Zerstörungen vorzubeugen. Wir haben ja nicht gegen Feindbilder operiert, wir
hatten wirkliche Feinde, und wir lebten in einem sehr realen, heftigen Kampf
ums Kräfteverhältnis in einer Welt, die auch jetzt noch nicht in der Lage ist,
friedlich zusammenzukommen.“ Das Buch enthüllt keine neuen Top-Quellen und
keine „Super-Geheimnisse der HV A“, ist aber insgesamt die hochbrisante Analyse
einer essentiellen Seite des Auslandesgeheimdienstes – mit namentlicher Nennung
des gesamten Führungspersonals. Ein Muss für alle Interessenten, zumal mit
einem hervorragenden Preis.
Henry
Nitschke: An der unsichtbaren Front. Inoffizielle Mitarbeiter der
MfS-Auslandsaufklärung. edition berolina,
Berlin 2021, 765 Seiten, 29,99 Euro.