Leserbrief, veröffentlicht im "Neuen Deutschland" vom 09.10.03
Eine dunkle
Brille versperrt klare Sicht
Zu
»Kundschafter im Westen« Das zweite Leben - und die Angst (ND vom 2. 10.):
Wenn man
weiß, dass der Verfasser Helmut Müller-Enbergs ein leitender Mitarbeiter der
Birthler-Behörde ist, so rufen einige
Feststellungen
doch Erstaunen hervor. »Viele Spione der DDR hatten ein politisches Motiv« -
in einer früheren Veranstaltung sprach
der Rezensent
einmal von 80 Prozent der Spione - das ist doch schon eine beachtenswerte
Bemerkung. Was Richter in Urteilen bereits
früher
feststellen mussten, das scheint nun auch den Mitarbeitern von Frau Birthler zu
dämmern. Ähnliches gilt auch für die Aufzählung
wichtiger Spitzenvorgänge
der Aufklärungsdienste der DDR mit ihren weltweit anerkannten Erfolgen, die
beweisen, dass es gelungen war, in wichtigen Zentren einzudringen, oder gar
die Bestätigung gegenüber den beiden Herausgebern, dass sie als Mitarbeiter
der ehemaligen HVA »um historische Aufklärung vor allem der
nachrichtendienstlichen Seite des Staatssicherheitsdienstes bemüht« sind.
Aber das ist eben nur
die eine Seite der Darstellung. Die dunkle Brille des angeblichen
Unrechtsstaates DDR als Diktatur versperrt die klare Sicht auf die Dinge und
behindert auch weiterhin Objektivität in der Darstellung. Was sollen in diesem
Zusammenhang solche Feststellungen wie »Nicht wenige Spione waren materiell
bestimmt« oder »Erpressung, die es auch in der HVA gab«? Es ist sicher nicht
von Vorteil für eine
Rezension, wenn Herr Müller-Enbergs die Praxis der Geheimdienst-
und Nachrichtenarbeit, insbesondere aber die Arbeitsweise westlicher Dienste,
nur vom Papier oder gar nicht kennt.
Mit einer naiven Vorstellungswelt,
die noch dazu einseitig gegen die Aufklärungsdienste der DDR gerichtet ist,
gelingt keine historische Aufarbeitung. Der Schreiber dieser Zeilen konnte
nach der diplomatischen Anerkennung der DDR zirka 200 Werbeoperationen des
Bundesnachrichtendienstes gegenüber Mitarbeitern von Auslandsvertretungen bzw.
Geschäfts und Dienstreisenden der DDR analysieren. Es gab im Grunde genommen
nur zwei Vorgehensweisen: kompromittierendes Material und Drohungen in
persönlichen Fragen oder aber hohe finanzielle Gebote bzw. materielle Vorteile
bei Übersiedlungen in die BRD. Politische Motivationen - fast völlige
Fehlanzeige; übrigens das Abbild einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der
der Verlust moralischer Grundwerte von allen Seiten in der BRD beklagt wird.
Eine gleiche Naivität wird bei der Darstellung des »Doppellebens« und bei dem
möglichen bzw. notwendigen Verzicht auf angenehme Seiten des Lebens und der
Übernahme zusätzlicher Belastungen und Risiken sichtbar. Glaubt denn der
Verfasser
wirklich, dass dies nur eine Begleiterscheinung oder ein Erfordernis der
Nachrichtendienste der DDR ist?
Beide Vorwortautoren verurteilen
den Verrat einiger ehemaliger Mitarbeiter der Aufklärung, der auch bei Autoren
und am Buch nicht beteiligten Aufklärern zu hohen Freiheitsstrafen führte.
Müller-Enbergs
macht daraus »Hass gegen die Verräter« und kommt in diesem Zusammenhang noch
ins Stolpern mit dem Rosenholzmaterial, das mit dem von den Vorwortautoren
gemeinten Verratsfällen aber auch gar nichts zu tun hat. Sollen die beiden Leiter
der HVA solche Verräter, die unter militärischem Eid standen und gegen hohes
Kopfgeld Aufklärer verraten haben, für deren Verdienste sie ehemals Orden und
Auszeichnungen kassierten, belobigen? Will Herr Müller-Enbergs solche
Verräter zum Bundesverdienstkreuz vorschlagen?,
Schließlich kommt der Verfasser
zur Schlussfolgerung, dass die Opfer der Aufklärer nutzlos waren, sich nicht
gelohnt hätten und Leben für eine Sache verbraucht wurde, die untergegangen
sei. Offensichtlich bestehen hinsichtlich eines erfüllten Lebens
unterschiedliche Standpunkte. Keiner der über 30 Autoren, spricht in seinem
Beitrag von einem unnützen oder verfehlten Leben. Worauf gründet der Verfasser
seine Einschätzung? Soll verschwiegen werden, dass in 40 Jahren DDR der Frieden in
Europa, in dem sich die beiden mächtigsten Militärblöcke der Welt gegenüberstanden
und der Kalte Krieg besonders heftig tobte, erhalten werden konnte und auch die
Aufklärer der Dienste der DDR ihren Anteil daran hatten? Wie steht denn der Verfasser
zu Menschen in der Vergangenheit und Zukunft, die ihrer politischen Überzeugung
gefolgt sind, etwas aus ihrer Sicht Notwendiges für die gesellschaftliche
Entwicklung und für den Fortschritt zu
tun, auch wenn ihr Handeln durch
die herrschenden Kräfte mit
Strafe bedroht wurde und ihr Bemühen letztlich mit einer Niederlage und mit
Verfolgung endete?
Den über 30 Autoren des Buches
gebühren hohe Achtung und Anerkennung. Vom Beitrag »Das zweite Leben -und die
Angst« war das nicht zu erwarten.
Gotthold Schramm
Berlin