ND vom 18.07.03
Abenteuerliche
Konstruktionen
Siegerjustiz? - Die
politische Strafverfolgung von DDR-Bürgern
Von Philip Martin
"Recht
ist ein Werturteil, das eine Macht über eine ihr an Macht unterlegene Macht
fällt", meinte der französische Schriftsteller Henry de Montherlant (1896-1972).
Und hat wohl Recht. Es dürfte hier zu Lande kaum jemanden mit gesundem
Menschenverstand geben, der ernsthaft bestreiten würde, dass die 1990
einsetzende Strafverfolgung gegen ehemalige DDR-Bürger nicht politisch
intendiert war. Das offenbaren Bekundungen der Großinquisitoren selbst (z.B.
von Klaus Kinkel) sowie deren Vollstrecker in den Gerichtssälen. Hans Modrow
erinnert sich, dass ein Richter vom Sächsischen Landgericht gestand, der
Prozess gegen ihn trage politischen Charakter. Justitia ist nicht blind, sie
weiß, wo sie zuschlägt. Vorab: Dem Verlag ist zu danken für diese Publikation.
Eine solche ausführliche, analytische und aktualisierende, die GNN-»Weißbücher«
fortschreibende Gesamtschau war überfällig. Ihr ist ein breiter Leserkreis
garantiert. Sie wird gewiss auch in Anwaltskanzleien, die involviert waren bzw.
noch sind, zur Kenntnis genommen. Empfohlen sei sie juristischen Fakultäten,
denn sie eignet sich trefflich für Fall- und Problemerörterungen.
Angehende und gestandene Juristen sollten das Buch schon deshalb studieren,
damit nicht erst wieder - wie hinsichtlich der NS-Justiz -
Jahrzehnte verstreichen, bis sich die Zunft mit ihrem eigenen Versagen und
ihrer offenkundigen politischen Prostitution befasst. Immerhin, nicht wenige
westliche Rechtswissenschaftler bezweifeln schon die rechtlichen Grundlagen der
Prozesse gegen DDR-Bürger (z.B. Roggemann, Schlinck, Vormbaum). Der
emeritierte FU-Professor Uwe Wesel spricht von »abenteuerlichen
juristischen Konstruktionen«. Diese haben selbst Kalte Krieger in kältesten
Kriegszeiten sich nicht auszumalen gewagt, wie ein Dokument belegt, das Hans
Bauer für den Band aufgestöbert hat. In einem Memorandum der Bundesregierung
vom September 1956 wurde betont, dass »nach der Wiedervereinigung Deutschlands
niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder nur weil er in Behörden oder
politischen Organisationen eines Teils Deutschlands tätig gewesen ist,
verfolgt« werden dürfe. Bauer, ehemals stellvertretender DDR-Generalstaatsanwalt,
skizziert die Schritte zur Schaffung eines Sonderrechts wider Geist und
Buchstaben des Einigungsvertrages sowie des Grundgesetzes. 85000
Ermittlungsverfahren habe es seit 1990 gegeben; 900 Personen seien
rechtskräftig verurteilt worden. Die Spitzenposition bei den Verurteilungen
behauptet Berlin (ca. 300), gefolgt von Sachsen (ca. 200). Die am stärksten
betroffene Personengruppe waren die DDR-Juristen (etwa 50000
Ermittlungsverfahren, zehn Verurteilungen zu Freiheitsstrafen bis zu vier
Jahren), sodann Angehörige des MfS und der DDR-Grenztruppen. Näheres
hierzu bietet der Beitrag von Horst Bischoff (ehemals beim Zoll) und Karli
Coburger (einst MfS). Am härtesten abgestraft wurden die »Kundschafter für den
Frieden«, 250 wurden angeklagt und 50 zu Haftstrafen verurteilt. Dass trotz der
Vielzahl eingeleiteter Ermittlungsverfahren relativ wenige rechtskräftige
Urteile gefällt wurden, läge daran, dass »bei bestem Verurteilungswillen« der
Strafvorwurf nicht haltbar war, schreibt Bauer. Man könnte auch positiv postulieren,
dass wohl doch intellektuelle Redlichkeit bei Richtern obsiegte. Die
»Strafverfolgungsflut« gegen DDR-Juristen, »wie es sie noch nie jemals
gegeben hat«, untersucht Eleonore Heyer, ebenfalls einst im DDR-Justizdienst
tätig. Sie räumt Fehler in der Rechtspraxis der DDR ein (»wie in jedem Staat«),
gibt Einblicke in einige »Pilotverfahren« der bundesdeutschen Justiz und
berichtet u.a. von einem Angehörigen der Ostberliner Generalstaatsanwaltschaft,
der dreimal freigesprochen wurde - weil der Bundesgerichtshof das Urteil
jedes Mal nicht akzeptieren wollte, Revision einlegte, bis es die
Staatsanwaltschaft leid war. Ist das noch zu toppen? Günther Sarge, in den
80ern Präsident des Obersten Gerichts der DDR, setzt sich u.a. mit der »weit
verbreiteten Ansicht von der absoluten Unabhängigkeit der BRD-Richter und
der absoluten Abhängigkeit der DDR-Richter« auseinander und zitiert den
ehemals leitenden Mitarbeiter des BRD-Justizministeriums Walther Piepke:
»Unverzichtbar ist, dass der Richter den Staat -ungeachtet seiner Mängel -
und die geltende verfassungsrechtliche Ordnung, so wie sie in Kraft ist,
bejaht, sie als schützend anerkennt, in diesem Sinne sich zur ihr bekennt und
aktiv für sie eintritt.... Zur Treuepflicht des Richters gehört als Kern die
politische Treuepflicht.« Wen wundern da noch die beschriebenen Vorgänge?!
Sarge erinnert an die Schlagwörter zur Kriminalisierung der DDR und ihres
Systems, die der ideologischen Vorbereitung der Strafverfolgung dienten.
Auch
klagt er Vorverurteilungen in den Medien an, so durch Stories über
Auftragsmorde, Organraub, Zwangsadaptionen, Frühchentötungen etc. -
Behauptungen. »die wie Seifenblasen zerplatzten«. Kernstück des Bandes ist eine
Studie von Erich Buchholz. Der langjährige Professor an der Humboldt-Universität,
seziert en detail die Mechanismen der Strafverfolgung von DDR-Bürgern und
legt Verstöße in der Rechtspraxis offen: die Unterwerfung von DDR-Bürgern
unter ein fremdes, bundesdeutsches Recht, die Ausheblung des
Rückwirkungsverbots und der Strafverfolgungsverjährung sowie Missbrauch der
Radbruchschen Formel. Es ist Buchholz nicht zu verdenken, dass er seine
Kollegen Klaus Marxen und Gerhard Werle fragt, ob deren vorsichtige
Formulierung von rechtsstaatlich bedenklichen Versäumnissen und Defiziten« in
ihrer Veröffentlichung »Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht«
(1999) mit der Finanzierung durch die Volkswagenstiftung zusammenhängt. Der
Vorwurf von Feigheit klingt an. Ist diese der Grund, dass sich leider für den
hier angezeigten Band nur ostdeutsche Autoren, selbst Betroffene, fanden? Eine
Schwäche, die zur Stärke wird, bietet sie doch authentische Zeitzeugenschaft.
Hingewiesen sei auch auf die angehängten interessanten Erlebnisberichte
(Jendretzky, Klabuhn, Geier, Gaida, Geschke). Allerdings springen einige
apologetische Passagen ins Auge, etwa wenn Modrow jegliche Verantwortung für
die ersten Ermittlungsverfahren Ende 1989 gegen DDR-Funktionäre von sich
weist (kam Honecker ohne sein Wissen in U-Haft?) und Bauer diese aus der
staatsanwaltlichen Sicht verteidigt. Ein zweiter Schönheitsfehler: Die
Herausgeber stehen mit der Kommasetzung auf Kriegsfuß. Einen zusätzlich
aktuellen Touch erhält diese Publikation durch das Vorwort von Arnold Schölzel.
»Die Leichtigkeit, mit der 1990 elementare Rechtsvorschriften für Ex-DDR-Bürger
außer Kraft gesetzt wurden, ist zur generellen Haltung bundesdeutscher Politik
und Justiz im Umgang mit nationalem und internationalem Recht geworden«,
konstatiert er und bietet Beweise: Der Sozialstaat steht zur Disposition, völkerrechtliche
Grundsätze wie das Verbot des Angriffskrieges sowie die Strafandrohung des
Grundgesetzes für dessen Vorbereitung werden unterlaufen. So gibt der Band auch
Denkanregungen für die Zukunft der Bundesrepublik.
SIEGERjustiz? Die politische Strafverfolgung
infolge der Deutschen Einheit. Edition Zeitgeschichte. Hg. v. der Gesellschaft
zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e. V. Kai Homilius Verlag, Berlin
2003. 734S., geb., 34 EUR.