15.08.2016:
Fakten kontra Verdrehungen (Tageszeitung Junge
Welt)
Dieter Skiba und Reiner Stenzel haben ein Buch über DDR-Verfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher herausgegeben - ein Standardwerk
Arnold Schölzel
Man könnte meinen, es sei geklärt, welcher deutsche Staat bis 1990 konsequent die zwischen 1933 und 1945 begangenen Untaten deutscher Faschisten verfolgte und welcher nicht. Die Zahlen schienen eindeutig zu sein. In ihrem Buch »im Namen des Volkes. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher« geben die Autoren Dieter Skiba und Reiner Stenzel an, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR seien zwischen 1945 und 1990 »etwa 17,000 Männer und Frauen als Tatverdächtige erfasst und davon 12.890 angeklagt und verurteilt« worden. Die Zahl der Verurteilungen war damit fast doppelt so hoch wie im Westen, wie aus Zahlen hervorgeht, die der Münchner Historiker Andreas Eichmüller 2008 veröffentlichte. Danach wurden vom 8. Mai 1945 bis Ende 2005 in den westlichen Besatzungszonen, in der Bundesrepublik sowie in Westberlin 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte geführt. Von 16.740 Angeklagten seien 6.656 rechtskräftig verurteilt worden. Hinzu kommen die von alliierten Militärtribunalen verurteilten Personen. Skiba und Stenzel beziffern sie mit etwa 40.000 für die sowjetische Seite, wobei allein bis Ende 1946 17.715 wegen Naziverbrechen verurteilt worden waren. Im 1999 in München herausgegebenen »Handbuch der deutschen Geschichte« heißt es, dass von Gerichten der Siegermächte in Deutschland und in anderen Ländern »etwa 50.000 bis 60.000 Personen« wegen Nazi verbrechen verurteilt worden seien, in den drei Westzonen waren es demnach 5.025 deutsche Angeklagte.
So weit, so eindeutig? Wie die vergangenen 26 Jahre lehrten, mühen sich Historiker und Journalisten weidlich, die Dinge zu verdrehen. Insbesondere die Tätigkeit der für
die Verfolgung faschistischer Verbrechen
zuständigen Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS), in der die
beiden Autoren dieses Bandes arbeiteten, wird in Frage gestellt. Denn die DDR war per westdeutschem Gründungsmythos nie antifaschistisch, das MfS eine
Erpressungs- und Überwachungsbehörde, wie sie in der »freien
Welt« unvorstellbar gewesen sein soll. Also wurden im »Unrechtsstaat« überführte und verurteilte
Verbrecher nach 1990 teilweise rehabilitiert, wie hier akribisch aufgelistet ist. Die Akten der
MfS-Untersuchungsabteilung wurden unter »Stasi«-Unterlagen-Chef Joachim Gauck eilends zerfleddert und
der Öffentlichen Nutzung weitgehend entzogen. Schließlich erhielt die Bundesrepublik vom Simon Wiesenthal
Center 2015 eine Art Persilschein für
ein wenn auch spätes, so doch seit einigen
Jahren »vorbildliches«
Handeln bei der Verfolgung von Naziverbrechen. Es geht bekanntlich um
inzwischen fast 100jährige Männer, die mit großem Trara Richtern zugeführt werden. Das
Zertifikat verdient einen Goldrahmen zusammen mit den Berufungsurkunden für den Rassegesetzexperten
Hans Josef Maria Globke zum höchsten Beamten der
Bundesrepublik in den 50er Jahren oder für den SS-Schlächter Theodor
Oberländer zum Minister.
Sklba und
Stenzei wollen mit ihrem Buch »den gängigen Verdrehungen,
Verschleierungen und Verleumdungen entgegentreten«. Neben dem »Braunbuch« von 1965 (von der Edition Ost mehrfach
wiederaufgelegt), eigenen Arbeiten und Material aus Medien hatten sie eine
entscheidende Quelle: die Dokumentation »DDR-Justiz- und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen
nationalsozialistischer Tötungsverbrechen«. Sie entstand selbstverständlich
nicht In der Bundesrepublik, sondern zwischen 1990 und 2010 an der Universität Amsterdam, unter der Federführung von Christiaan Frederik Rüter und Dick de Mildt, die
seit den 1960er Jahren an der Dokumentation westdeutscher Urteile arbeiten. Die
Sammlung enthält
in 14 Bänden den Wortlaut der Urteile zu faschistischen Tötungsverbrechen, die zwischen 1945 und 1990 gefällt wurden. Rüter
stellte seine Dokumentation zur Auswertung den Autoren zur
Verfügung
und äußerte sich nach
Erscheinen von deren Arbeit bereits lobend. Das Lob ist berechtigt. Skiba und Stenzei
können, gestützt
auf seine Arbeit, Fakten über Fakten vorlegen, ihr
Band enthält, der Nummerierung durch Rüter folgend, auf mehr als 350 Seiten Zusammenfassungen
zu 91 Urteilen der »Waldheim-Prozesse« von 1950 sowie zu 839 Urteilen zu faschistischen
Tötungsverbrechen
- angefangen mit dem Spruch eines »Volksgerichts« in Sachsen vorn September 1945 bis zu dem des
Bezirksgerichts Rostock vom 25. September 1989 gegen den an Misshandlungen und
Erschießungen
im besetzten Polen beteiligten Jakob Holz. Ein umfangreiches Register macht den
Band zu einem leicht handhabbaren Nachschlagewerk.
Besonders bemerkenswert erscheinen, weil zum Wesen der Anschlusspolitik
führend, die »Rehabilitierungen« von in der DDR verurteilten Kriegsverbrechern nach
1990, die hier dargestellt werden. Als Beispiel sei der Fall Johannes Piehl zusammengefasst: Der 1979 in Neubrandenburg wegen
schwerster Kriegsverbrechen zu lebenslänglicher
Haft Verurteilte stellt 1990 einen
Rehabilitierungsantrag, worauf das Oberlandesgericht Rostock am 16. September
1993 entschied, seine Verurteilung sei teilweise »rechtsstaatswidrig«
gewesen. Die DDR habe das Verfahren zur Selbstdarstellung missbraucht, die
von Piehl angeordneten Erschießungen von Zivilisten
wegen »Widerstandsmaßnahmen« gegen die deutschen
Besatzer seien aber nicht völkerrechtswidrig
gewesen. Die Sowjetbevölkerung
habe eine »Gehorsamspflicht« gegenüber den deutschen Faschisten gehabt. Das Gericht
berief sich ausdrücklich auf die
bundesdeutsche Rechtsprechung seit den frühen 1950er Jahren.
Der letzte noch in Haft
befindliche und in der DDR verurteilte Kriegsverbrecher war auf freiem Fuß, ein wichtiges Ziel der
»Wiedervereinigung« erreicht. Skiba und Stenzei haben einen
Band vorgelegt, der ein Standardwerk werden
dürfte.
Dieter Skiba/Reiner Stenzel: im Namen
des Volkes. Ermittlungs- und Gerichtsverfahren in der DDR gegen Nazi- und Kriegsverbrecher. Edition
Ost, Berlin 2016, 463 Seiten, 29,99 Euro