Wolfgang Schwanitz
und Reinhard Grimmer (Hrsg.)
Unbequeme Zeitzeugen
Erinnerungen von MfS-Angehörigen
Das
Buch
Vierzehn
Männer und eine Frau erinnern sich ihrer Tätigkeit für den Schutz und die Sicherheit eines Landes, das von 1949 bis
1990 existierte. Sie schildern überzeugend die Gründe, weshalb sie sich dem
MfS anschlossen und wie ihre Entwicklung verlief – bis zum Ende des Dienstes
und danach, als sie für ihre entbehrungsreiche, gesellschaftlich notwendige und
nützliche Arbeit geschmäht, geächtet, ausgegrenzt und auch juristisch
verfolgt wurden. Sie waren Zeugen und Akteure oft konspirativer Vorgänge, die,
wären sie seinerzeit publik geworden, jedem bewusst gemacht hätten, dass der
DDR von außen nach dem Leben getrachtet wurde. Es fand kein fairer Wettstreit
der Systeme statt: Die DDR hatte tatsächliche Feinde. Wer es noch immer
bezweifelt: Diese Texte weisen es nach. Unaufgeregt und sachlich. Hier wird
deutsche Geschichte dokumentiert. Für heute, vor allem aber für nachfolgende
Generationen.
Die
Herausgeber
Wolfgang
Schwanitz, Jahrgang 1930, von 1951 bis 1989 beim MfS, im Dezember 1989 Leiter
des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) und
Mitglied des Ministerrates der DDR.
In
den 60er Jahren Jura-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin, Promotion
1973. Von 1974 bis 1986 Leiter der Bezirksverwaltung Berlin des MfS, danach,
bis November 1989, Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit.
Generalleutnant a. D. Wolfgang Schwanitz lebt in Berlin.
Reinhard
Grimmer, Jahrgang 1942, seit1960 Mitarbeiter des MfS, zunächst zehn Jahre bei
der Spionageabwehr (Funk). Jura-Studium und Promotion an der Juristischen
Hochschule in Potsdam. Von 1978 bis 1990 Offizier für Grundsatzdokumente in der
Zentralen Auswertungs- und Kontrollgruppe (ZAIG) des MfS/AfNS.
Oberst
a. D. Reinhard Grimmer lebt in Berlin.
Mit
Beiträgen von Klaus Eichner, Uwe Fischer,
Fritz
Hausmann, Dieter Lehmann †,
Manfred Liebscher, Harry Mittenzwei, Reiner Neubert, Klaus Panster,
Helga Plache, Hans Reichelt, Johannes Schindler,
Heinz
Schmidt †, Adolf Thode, Gerd Vogel, Hans-Peter Wokittel
und Kurt Zeiseweis
Inhalt
Anmerkung: Seitenangaben beziehen sich auf die Buchausgabe
Vorwort.................................................................. 7
Hans
Reichelt
Gemeinsam
für die Sicherung der Volkswirtschaft
und den Schutz der Umwelt.............................. 11
Heinz
Schmidt †
Mein
»Bitterfelder Weg« seit Mai 1952............. 31
Fritz
Hausmann
Das
neue Leben muss anders werden,
als
dieses Leben, als diese Zeit........................... 88
Gerd
Vogel
Über
Molekularsiebe und einen Turbinenpapst 119
Klaus
Panster
Spionageabwehr
im Wissenschaftsbereich....... 167
Hans-Peter
Wokittel
Heiße
Tage im August ’61................................. 185
Uwe
Fischer
Im
Dienst für die Energiesicherung der Republik 196
Dieter
Lehmann †
Stationen meines Dienstes................................... 204
Klaus
Eichner
Aus
der KD Altenburg zur Bearbeitung
der
Spionagezentren der US-Geheimdienste.... 241
Harry
Mittenzwei
Meine amerikanische Zeit................................. 268
Johannes
Schindler
Wie
der Schutz und die Sicherheit der DDR
zu
meinem Beruf wurden.................................. 336
Reiner
Neubert
Episoden
aus meinem Leben und meiner Tätigkeit 350
Kurt
Zeiseweis
in
der Hauptstadt der DDR............................... 364
Helga
Plache
Vom
Soldaten zum Oberstleutnant.
Eine
Frau im MfS............................................ 391
Manfred
Liebscher
Die
Untersuchungsabteilung des MfS
war
kein Geheimnis...................................... 423
Adolf
Thode
mich
zum Täter machen wollte...................... 466
Nachwort..................................................... 478
Literatur........................................................ 481
15
ehemalige Mitarbeiter des MfS erinnern sich an ihre Arbeit, an ihre Motivation,
an Erfolge und Niederlagen. Diese Erinnerungen sind von besonderem Wert, können
die Autoren doch auf langjährige persönliche Erfahrungen und Kenntnisse
zurückgreifen.
Das
MfS war ein Organ des Ministerrates der DDR. Der einstige Stellvertreter des
Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. Hans Reichelt (DBD), würdigt in seinem
Beitrag am Anfang dieses Buches das konstruktive Zusammenwirken mit dem MfS. Hans
Reichelt war Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft und gehörte, mit
kurzzeitigen Unterbrechungen, 32 Jahre der Regierung der DDR an. Damit ist er
wohl weltweit der Minister mit der längsten Dienstzeit und -erfahrung.
Nebenbei: Er war als 28-Jähriger in der DDR-Regierungsdelegation, die im August
1953 in Moskau erfolgreich über die Entlassung der letzten deutschen
Kriegsgefangenen verhandelte. Dass diese freikamen, wird völlig zu unrecht Bundeskanzler Adenauer zugeschrieben. Auch das
ein Beispiel dafür, wie im kapitalistischen Deutschland die historische
Wahrheit gebeugt wird und Legenden geschaffen werden.
Wir
danken explizit auch den Hinterbliebenen von Weggefährten, die uns die
Zustimmung zur Veröffentlichung von Aufzeichnungen aus Nachlässen erteilten.
Die
nachfolgenden Texte gewähren einen interessanten Einblick in die Tätigkeit des
MfS. Das geschieht auf höchst unterschiedliche, aber stets individuelle Weise.
Klaus Eichner beispielsweise schildert anschaulich, was das MfS bereits über
die Spionagetätigkeit der NSA gegen ihre eigenen Verbündeten wusste. Das ist
insofern erheblich, als er damit bestätigt, was heute sogenannte Whistleblower
enthüllen: dass nämlich die USA zur Durchsetzung imperialer
Herrschaftsansprüche die ganze Welt
flächendeckend ausspähen. Wir hatten also allen Grund, uns zu schützen. Die
gegenwärtigen Enthüllungen begründen im Nachgang die Aufklärungs- und
Abwehrtätigkeit der DDR und ihrer Verbündeten. Eichner macht zudem deutlich,
dass jene die USA bzw. die NSA belastenden Unterlagen, welche das MfS
zusammengetragen hatte, unmittelbar nach dem Ende der DDR im Auftrag des Bundesinnenministers
aus dem Berliner Archiv entfernt und in die USA ausgeflogen wurden. Die NSA
ließ also mit Hilfe der Bundesregierung ihre Spuren verwischen. Die Kumpanei
der Herrschenden diesseits und jenseits des Ozeans besteht unverändert fort.
Auch
bei anderen Autoren spielt die Abwehr von Angriffen gegnerischer Geheimdienste
eine beachtliche Rolle. Deutlich wird der Umfang der Spionage gegen die DDR und
die auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Streitkräfte. Die Autoren
dokumentieren auf überzeugende Weise, dass im Zentrum der operativen Arbeit die
Bekämpfung von Agenten, Terroristen und kriminellen Menschenhändlern stand und
eben nicht, wie seit 1990 demagogisch behauptet, die Überwachung und
Unterdrückung der eigenen Bevölkerung.
Oberstleutnant
a. D. Helga Plache berichtet über den fürsorglichen Umgang mit Kindern von
Festgenommenen und wie der Staat DDR jene Verantwortung übernahm, der sich
diese Eltern durch Flucht entzogen hatten.
In
fast allen Beiträgen nimmt die Darstellung vorbeugender, also Schaden
verhütender Tätigkeit breiten Raum ein. Allerdings beschönigen die Autoren
nicht die verhängnisvolle Politik der Partei- und Staatsführung in den 80er
Jahren. Sie setzen sich kritisch mit dem dem MfS
erteilten Auftrag auseinander, etwa die wachsende Zahl von Ausreiseanträgen mit
administrativen Maßnahmen inklusive strafrechtlicher Verfolgung
zurückzudrängen. Das Verhältnis der Bevölkerung zur Volkspolizei, zur Justiz,
vor allem aber zum MfS wurde dadurch beträchtlich gestört. Zu dieser Wahrheit
gehört aber auch, dass die meisten Menschen, die ausreisten, dies vorrangig aus
wirtschaftlichen und nicht aus politischen Erwägungen taten. Es war und ist
darum falsch, sie als politische Opfer zu betrachten. In diesem Kontext
erinnert etwa Dr. Hans Reichelt an Erich Mielkes Intervention im Ministerrat,
dass die Ursachen erforscht und politisch ausgeräumt werden müssten, weshalb
Menschen die DDR verlassen wollten. Aber nicht mit administrativen,
restriktiven Maßnahmen. Er selbst nannte als Gründe herzloses, bürokratisches
Verhalten, Ungerechtigkeit, Ignoranz von ernsthaften persönlichen Problemen
etwa im Beruf, bei der Versorgung oder in Wohnungsfragen.
Alle
Autoren schildern als kompetente Zeitzeugen offen und kritisch ihren oft
schwierigen Alltag im Dienst. Damit leisten sie einen bemerkenswerten Beitrag
in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, in dessen Mittelpunkt nach wie vor
Verleumdung und Beleidigung des MfS, seiner einstigen Angehörigen und
Inoffiziellen Mitarbeiter stehen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR
und seines Schutz- und Sicherheitsorgans ist es unverändert politischer Wille
der herrschenden Klasse, diese Personengruppe weiterhin zu diskreditieren und
sie für alles Schlechte verantwortlich zu machen, was sich zwischen 1945 und
1990 im Osten Deutschlands zutrug. Darum ist es auch nicht verwunderlich,
dass der Anteil der MfS-Mitarbeiter am friedlichen Verlauf der Ereignisse in
der DDR 1989/90 völlig verschwiegen wird.
Die
Autoren wollen mit ihrer Wortmeldung zu mehr Objektivität bei der Bewertung und
Beurteilung historischer Prozesse beitragen. Dabei steht jeder einzelne Autor
mit seinem Namen nur für seinen Text.
Die
Herausgeber
Berlin,
im Juni 2014
Gemeinsam für
die Sicherung der Volkswirtschaft und
den Schutz der
Umwelt
Von
Dr. Hans Reichelt
Jahrgang
1925; Minister für Land- und Forstwirtschaft von 1953 bis 1963, Stellvertreter
des Vorsitzenden des Ministerrates und Minister für Umweltschutz und
Wasserwirtschaft von 1972 bis 1989; Stellvertretender Vorsitzender der Demokratischen
Bauernpartei Deutschlands (DBD) bis 1989
Seit
1990 sucht die Bundesregierung mit einer Vielzahl von Instituten mit einer großen
Anzahl Historiker und Journalisten, einer riesigen Behörde zur »Aufarbeitung«
der Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), einem ungebremsten,
täglichen Einsatz der bürgerlichen Medien, immer mehr aus dem Boden schießenden
»Gedenkstätten«, sogar dem Einsatz beamteter Hassprediger, tatkräftig
unterstützt von der Justiz und dem Einsatz von gewaltigen Finanzmitteln, die
DDR und ihre Menschen mit ihren geschichtlichen Leistungen und Erfahrungen zu
verteufeln, zu kriminalisieren und zu diskriminieren.
In
der Bundesrepublik Deutschland ist die Delegitimierung
der DDR und ihrer sozialistischen Entwicklung Staatsdoktrin. Und sie soll es
wohl noch weiter bleiben. Hierbei hat das MfS eine herausragende Rolle. Es soll
das wichtigste Beweisstück für das »Unrechtsregime« DDR abgeben. Und das mit
allen möglichen angedichteten und sogar von der BRD-Justiz widerlegten Untaten.
Das MfS wird als »Staat im Staate« verunglimpft. Nicht wenige fallen darauf
hinein. Von vielen wird das aber als Mittel erkannt, die Mitarbeiter des MfS
ins Abseits zu stellen, sie aus der Solidargemeinschaft herauszubrechen. So
lassen sie sich am Besten diskriminieren und ihre
Menschen- und Grundgesetz-Rechte politisch und sozial massiv und auf Dauer
einschränken.
Alle
bis in die Einzelheiten gehenden kritischen und selbstkritischen
Veröffentlichungen von Mitarbeitern zur Geschichte des MfS, auch von
DDR-Politikern, Juristen, Journalisten und selbst von sachkundigen Fachleuten
der Altbundesrepublik werden als undiskutabel bezeichnet, nicht zur Kenntnis
genommen oder totgeschwiegen. Jede öffentliche Diskussion auf gleicher
Augenhöhe mit den ehemaligen Angehörigen des MfS wird – wenn sie nicht den
Kniefall begehen – abgelehnt, sogar Buchlesungen unterbunden, die Organisatoren
diskriminiert.
Historisch
wahr ist: Das MfS war das am weitesten mit allen Staatsorganen, Parteien,
Massenorganisationen, Betrieben, Instituten und Kultureinrichtungen verbundene
staatliche Organ in der DDR-Gesellschaft. Nach heutigem Sprachgebrauch war es
auf das Engste mit allen gesellschaftlichen Bereichen vernetzt. Das war
lebensnotwendig. Einerseits stand nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone
der Aufbau einer antifaschistischen, demokratischen, antiimperialistischen,
antimilitaristischen und friedenssichernden, später sozialistischen
Gesellschaftsordnung auf der Tagesordnung. Andererseits erfolgte in den
westlichen Besatzungszonen, mit aktiver Unterstützung der Besatzungsmächte, die
Wiederherstellung eines imperialistischen Staates. Diametral erfolgte hier die
Fortsetzung der Herrschaft der gleichen Kräfte des Monopol- und Finanzkapitals,
des Großgrundbesitzes und des militärisch-industriellen Komplexes, die in
Deutschland den Faschismus an die Macht gebracht hatten. Wehrwirtschaftsführer,
Generale, Geheimdienstführer, hohe Beamte der Justiz und des faschistischen
Regimes waren sehr bald die Geburtshelfer. Eines ihrer Hauptziele war es, mit
allen Mitteln den Aufbau, einer neuen, antifaschistisch-demokratischen Ordnung
und später einer sozialistischen Gesellschaft in dem anderen Deutschland zu
verhindern.
Dabei
war man nicht wählerisch in den Mitteln und sparte weder an Finanzen, Personal
und Material. Dazu über sechzehn Jahre offene Staatsgrenzen und über achtzig
feindliche Geheimdienste in Westberlin mit dem Einsatzort DDR. Nicht wenige von
ihnen bedienten sich skrupellos Terror- und Sabotagegruppen.
Daraus
war als Schlussfolgerung nur zu ziehen, die Sicherung des Neuaufbaus einer
humanitären und sozial gerechten Gesellschaft, der Schutz deren Menschen, Güter
und Werke benötigt ausgebildete, ausgerüstete und motivierte Sicherheitskräfte.
Unerlässlich war dabei deren Verankerung im Volk, das demokratische
Zusammenwirken mit allen Staats- und wirtschaftsleitenden Organen, mit allen demokratischen Kräften in Stadt und
Land einschließlich der SED. Hierbei geleistete Arbeiten und Ergebnisse des
MfS, die zu seinen Hauptaufgaben gehörten, werden bei der »Aufarbeitung« der
MfS-Geschichte totgeschwiegen. Sie eignen sich nicht zur Verteufelung und
Kriminalisierung der DDR und des MfS.
Ihre
Helden von heute sind die Gegner der DDR von gestern. Darunter besonders
solche, die die größten Gefahren und Schäden für Menschen und Volkswirtschaft
herbeigeführt und wegen ihrer Verbrechen in der DDR bestraft wurden.
Auf
Grund meiner jahrzehntelangen Regierungsarbeit will ich deshalb über das
Totgeschwiegene, über meine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem MfS in
der Regierung der DDR, speziell bei der Sicherung der Volkswirtschaft und dem
Schutz der Umwelt berichten.
Aus
der Arbeit der Regierung
Die
Mitglieder des Ministerrates, der Regierung der DDR, arbeiteten bei der
Vorbereitung von Regierungsentscheidungen und deren Umsetzung kollektiv
zusammen. Das betraf natürlich auch das MfS. Es war ein Organ der Regierung der
DDR. Als dessen Vertreter nahm an deren Beratungen über lange Zeit der Erste
Stellvertreter des Ministers, Generaloberst Mittig teil. Bei Themen, die die
Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit direkt betrafen und zu den selbst
eingebrachten Entscheidungsvorschlägen, nahm der Minister teil.
In
der zweiten Hälfte der 80er Jahre war das u. a. ein Bericht zu
Übersiedlungsersuchen von Bürgern der DDR in die BRD. In Erinnerung geblieben
ist mir als Kernpunkt der Ausführungen des Ministers für Staatssicherheit die
Betonung der persönlichen Arbeit mit Bürgern, die Anträge gestellt hatten. Es
war sein Hauptanliegen, Klarheit zu schaffen, dass nur durch eine ständige
politische Arbeit mit den Menschen Ursachen, wie z. B. herzloses,
bürokratisches Verhalten, Ungerechtigkeiten, nicht Eingehen auf persönliche
Anliegen in der Bildung, dem Beruf, bei Wohnungs- und häufig
Versorgungsproblemen, die oft zu Übersiedlungsanträgen führten, zu erkennen und
möglichst zu beseitigen sind.
Nachdrücklich
hob er hervor, dass durch administrative Verbote, anstelle persönlicher
Überzeugungsarbeit in Verwaltungen, Betrieben, LPG und besonders in politischen
und sozialen Organisationen, Bürger von ihren Ausreiseabsichten nicht
abzubringen, Anträge nicht aus der Welt zu schaffen und neue nicht zu
verhindern sein werden.
Das
war für mich – vom Geheimdienstchef ausgesprochen – zwar zunächst ungewöhnlich,
aber doch höchst aktuell. Dass der Minister sich leidenschaftlich für eine
bessere politische Arbeit, für die Beseitigung bürokratischen Arbeitsstils und
engere Beziehungen zu den Bürgern, besonders Jugendlichen, einsetzte, hielt
ich für richtig und zwingend notwendig.
Das
ging über die ausreisewilligen Bürger weit hinaus. Es
betraf die Überwindung der sich in den achtziger Jahren ausbreitenden
Stagnation des gesellschaftlichen Lebens, wie z. B. durch Einschränkung der
Arbeit der Volkskammer und ihrer Ausschüsse, die Reduzierung der
Regierungsarbeit als „Hauptinstrument für die Planerfüllung«, die fehlenden
Antworten auf drängende Fragen der Bürger und die Rechenschaftslegung der
führenden Politiker und Abgeordneten in Betrieben, LPG, Instituten, Dörfern und
Städten. Dazu gehörte besonders die Lösung längst fälliger ökonomischer
Probleme, die oft tief in das persönliche Leben eingriffen.
Spürbar
wurde eine sich vertiefende Trennung der Führung der
SED von Staatsorganen, von den Menschen und eine fortschreitende
Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Der Geheimdienstchef wusste sicher um die
Stimmungsverschlechterung am besten. Die politische Führung konnte oder wollte
sie nicht wahrnehmen. Auch Erich Mielke, selbst ihr Mitglied, konnte sie nicht
ändern. Kritiker wurden übertriebenen Skeptizismus geziehen, berechtigte
Kritiken schroff zurückgewiesen und auch Minister, die hartnäckig auf
unüberbrückbare Defizite im Plan verwiesen und auf Lösungen drängten,
gemaßregelt. Misstrauen und Unsicherheit machten sich breit. Es blieb bei den
nichts bewegenden und nichts ändernden Losungen von »Kontinuität« und
»Erneuerung«.
Nicht
wenige Mitglieder der politischen und staatlichen Führung, hofften auf spürbare
politische, ökonomische und personelle Veränderungen. Das besonders durch den
1989 bereits in Vorbereitung befindlichen Parteitag der SED. Zu keinem der
vorangegangenen habe ich eine so große Anzahl von Vorschlägen, Anträgen, sogar
Forderungen erlebt. Oft stellten diese eine Kritik an bestehenden Zuständen
dar. Vieles, was bisher in der Diskussion tabu war, wurde in Frage gestellt.1
Nach dem Bericht des Ministers für Staatssicherheit wurden alle Regierungsmitglieder
verpflichtet, mit den Leitern ihres Bereiches bis in die Betriebe, LPG,
Institute und weitere Einrichtungen für eine Veränderung der Arbeit mit den
Menschen, die persönliche Aussprache mit ihnen und die Lösung ihrer Probleme zu
wirken. Das ist wohl geschehen. Dadurch allein war aber keine grundlegende
Wende zu erreichen.
Ein
weiteres Feld der Regierungsarbeit war es, bei der Vorbereitung von
Regierungsentscheidungen die Zustimmung aller bzw. beteiligter
Regierungsmitglieder einzuholen. Dabei gab es zumeist eine erfolgreiche
kollektive Arbeit. Manches Mal auch nicht. Dafür ein Beispiel. Nachdem von
Günter Mittag – verantwortliches Mitglied des SED-Politbüros auch für die
Umweltpolitik – 1982 ein Veröffentlichungsverbot für Umweltdaten durchgesetzt worden
war, musste an dessen Beseitigung gearbeitet werden.
Es
widersprach den Forderungen der gesetzgebenden Organe nach einer großen
Öffentlichkeit für die Umweltpolitik. Sehr bald wuchsen auch die Kritiken und
Proteste von Umweltschützern und anderen Bürgern. Schließlich konnte ein von
allen Beteiligten getragener Entwurf für die Aufhebung des Verbots vorgelegt
werden. Als erster hatte der Minister für Staatssicherheit zugestimmt. Offenbar
auch auf Grund seiner Kenntnis von der wachsenden Missstimmung unter
Umweltschützern und von breiten Bevölkerungskreisen. Dagegen aber wandte sich
Günter Mittag. Erst nachdem er aus der Führung der SED ausgeschlossen worden
war, konnte der Ministerrat – noch unter Willi Stoph – in einer seiner letzten
Sitzungen am 2. November 1989 die neue Regelung zur Veröffentlichung der
Umweltdaten und eines zu veröffentlichenden, jährlichen Umweltberichtes der
Regierung sowie eine Ordnung zum Schutz vor Smog beschließen. Der
Geheimdienstchef war dabei eine treibende Kraft gewesen.2
Vielgestaltig
waren die Beziehungen bei der internationalen Arbeit. Im Mittelpunkt standen
die Zusammenarbeit mit der UdSSR und die Arbeit des Rates für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe (RGW). Sehr bald entwickelte sie sich auch im Rahmen von
UN-Organisationen, wie der UNEP, UNESCO und der ECE. Parallel dazu folgten
zweiseitige Beziehungen zu kapitalistischen und Entwicklungsländern, wie z. B.
den nordischen Staaten Europas, aber auch Österreich, Niederlande,
Großbritannien, Italien, Algerien u. a. Es gab dafür verschiedene vertragliche
Regelungen: Konventionen, Protokolle, Regierungs- oder Ministervereinbarungen.
Ihre Ausarbeitung, die Teilnahme an Konferenzen und Tagungen und auch der
personelle Einsatz erforderten zur Sicherung der DDR- Interessen und zum Schutz
der beteiligten Personen Informationen, Prüfungen und Abstimmungen mit dem MfS.
Ein
wichtiges Kapitel waren die Beziehungen zum zweiten deutschen Staat, der
Bundesrepublik Deutschland. Hier gab es vielfältige Formen und Regelungen der
Beziehungen. Gemeinsam interessierende Gebiete waren grenzüberschreitender
Hochwasser und Gewässerschutz, Grenzgewässerbehandlung, Trinkwasserschutz,
Luftbelastungen, die Grenzen überschritten, und Müllablagerungen.
Gegenüber
Westberlin waren dies die Behandlung der städtischen Abwässer, ihre Überleitung
und Unterbringung in der DDR sowie der Schutz der durch Westberlin fließenden
Gewässer. Darüber wurde über Jahrzehnte hinweg, auch in zumeist vom Westen
heraufbeschworenen Konfliktsituationen, beraten, wurden Entscheidungen
vorbereitet und getroffen.
In
den letzten Jahren gab es auch Erfahrungsaustausche und Seminare zur
Reinhaltung der Luft, zum Forstschutz und Waldsterben sowie zum Umweltschutz
und zur städtischen Infrastruktur. Als besonders erfolgreich sollten sich mehrere
gemeinsame Versuchsobjekte zu Schwerpunkten der Umweltbelastung in der DDR mit
Einsatz moderner Umweltschutztechnik und finanzieller Beteiligung der BRD
erweisen.
In
der gemeinsamen Grenzkommission DDR/BRD wurde die Markierung der Staatsgrenze
zwischen DDR und BRD vor Ort vorgenommen. Damit verbunden war auch die
Behandlung der grenzüberschreitenden Gewässer. Es flossen über 260 von Ost nach
West und kaum ein Fluss in entgegengesetzter Richtung. Hier wurde über
geeignete Grenzschutzmaßnahmen an den Gewässern, über deren Unterhaltung,
gegebenenfalls den Ausbau, und auch den Gewässerschutz mit den
Sicherheitsorganen und den Grenztruppen vor Ort entschieden. Wiederholt wurde
im Jahresverlauf der Umfang und Ablauf der notwendigen Arbeiten, der Einsatz
von Technik und auch der personelle Einsatz unmittelbar an der Staatsgrenze
festgelegt.
Als
ein empfindliches Problem erwies sich der Schutz der zahlreichen Gewässer vor
Verunreinigungen. Zu deren Verminderung wurden nicht wenige Maßnahmen von der
DDR durchgeführt und finanziert. Bemerkenswert war der Bau der Kläranlage in
der Stadt Sonneberg, zur Abwasserreinigung des städtischen Abwassers und zur
Verbesserung der Gewässerqualität des Grenzflusses Röden.
Den Nutzen hatten die Bürger Sonnebergs und die der Städte und Dörfer an der Röden in der BRD. Ihr Bau wurde gemeinsam von der DDR, der
BRD und von Bayern finanziert.3 Es wurde ein Netz von Informationsstützpunkten
an der Staatsgrenze zur kurzfristigen Übermittlung von Informationen über
Schadstoffhavarien und auch über die Hochwasserführung der Grenzgewässer
eingerichtet. Dieses hatte sich bald bewährt und zur Verhinderung mancher
Schäden in der Bundesrepublik geführt.
Vereinbarungen
wurden auch zu Hochwasserschutzmaßnahmen auf dem Territorium der DDR zum Schutz
für Menschen und Betriebe in der BRD vereinbart und durchgeführt.
Mitglied
der Grenzkommission war ein stellvertretender Abteilungsleiter des Ministeriums
für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (MUW). Er war auch für die Koordinierung
und Erfüllung aller vereinbarten Maßnahmen auf DDR-Seite verantwortlich. Mit
ihm waren Ingenieure der staatlichen Gewässeraufsicht und Spezialisten aus
Oberflussmeistereien und den VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung (WAB)
als Bevollmächtigte eingesetzt.
Es
liegt auf der Hand, dass alle diese Arbeiten nur bei ständiger Koordinierung,
gegenseitiger Information und Kontrolle mit dem MfS und den Grenztruppen der
DDR erfolgreich sein konnten. Über die Ergebnisse der Arbeiten und zu ziehende
Schlussfolgerungen ließ sich Erich Honecker jährlich vom Umweltminister
berichten.
Es
gab aber auch ungewöhnliche Ereignisse, die fast an das Anekdotische grenzten.
Am 8. Oktober 1983 rief Erich Mielke persönlich bei mir an. Es war während
mehrerer Jahrzehnte das einzige Mal. Es musste etwas sehr Bedeutsames,
Ungewöhnliches passiert sein. Am Brandenburger Tor stand eine Delegation der
Grünen, die zu mir wollten. Sie bestanden darauf, mit ihren Fahrrädern die
Staatsgrenze zu passieren. Das war strikt verboten. Ausnahmen konnte allein der
Generalsekretär und Oberkommandierende befehlen. Ich sollte mich an Erich
Honecker wenden. Nach kurzem Überlegen rief ich an. Nach meinem Vortrag meinte
er lachend, es hätte schon einer angerufen: Erich Mielke. Der Grenzübergang mit
Fahrrädern sei entschieden.
Die
Gäste hatten die Fahrräder auf DDR-Seite bei den Grenztruppen abgestellt und
waren in den bereitstehenden Regierungs-Tatra
gestiegen. Im Diplomaten-Club des Außenministeriums in Zeuthen begrüßte ich die
Delegation des Bundesvorstandes der Grünen mit Wilhelm Knabe, Charlotte Grote
und Christine Museler. Sie hatten sich in Bonn an die
Ständige Vertretung der DDR mit der Bitte um einen Erfahrungs- und
Informationsaustausch mit mir gewandt. Dem war zugestimmt worden. Es gab ein
fast sechsstündiges Arbeitstreffen in sachlicher Atmosphäre.
Zum
Abschied erhielt ich ein Paket mit Plakaten und Broschüren der Grünen. Mit dem Tatra ging es zurück zum Brandenburger Tor und mit den
Fahrrädern über die Staatsgrenze.
Zu
Aufgaben der Wasserwirtschaft und des Umweltschutzes.
Die
Sicherung der Volkswirtschaft war zu allen Zeiten der DDR eine erstrangige
Aufgabe aller wirtschaftsleitenden und staatlichen Organe. Zu ihrer
Unterstützung konzentrierte sich das MfS auf die Vorbeugung und Verhinderung
von Störmaßnahmen in der materiellen Produktion, in Wissenschaft und Technik
und den Außenhandel. Das erfolgte in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei, der
Arbeiter- und Bauern-Inspektion (ABI), den Justizorganen, den Sicherheitsaktivs
der Betriebe und Kombinate und den gesellschaftlichen Kräften. Das hat viel zur
inneren Stabilität der Volkswirtschaft beigetragen.
In
den ersten Nachkriegsjahren ging es um den Schutz und die Abwehr von Gefahren
und Schäden durch feindliche Kräfte aus dem Aus- und Inland (z. B. gab es in
der Landwirtschaft Brandstiftungen, Viehvergiftungen, Futtermittel- und
Saatgutvernichtung, Verschieben von Ersatzteilen und Düngemittel bis hin zur
Bedrohung und zu Überfällen auf gesellschaftlich engagierte Personen).4
Nach
den Grenzsicherungsmaßnahmen 1961 erhielt die vorbeugende Arbeit zur
Verhinderung von Schäden und Verlusten den Vorrang. Wie gestaltete sich dabei
das Zusammenwirken? Das MfS übergab Informationen entsprechend deren Bedeutung
zentral an die Minister und die Parteiführung der SED und in den Territorien an
die Leiter der Kombinate, Betriebe, LPG-Vorsitzende, die Bezirks- bzw.
Kreisleitungen der SED und die Bezirks- und Kreisräte. Dazu ein Beispiel:
Wenige Monate nach meiner Berufung zum Umwelt- und Wasserwirtschaftsminister
1973 meldete sich der Verbindungsoffizier des MfS zum ersten Treffen.
Er
übergab aus dem VEB WAB Berlin drei Entwürfe mit extrem voneinander
abweichenden Zahlen für die mittelfristige Entwicklung des Trinkwasserbedarfs
und der Abwasserbehandlung in der Hauptstadt der DDR Berlin. Diese aber mussten
in voller Übereinstimmung mit dem künftigen Wohnungsbauprogramm stehen. An
diesem wurde intensiv gearbeitet. Die Unterlagen waren von einem
verantwortlichen Mitarbeiter übergeben worden aus Sorge vor folgenschweren
Fehlentscheidungen. Seit Monaten wurde zwar an den perspektivischen
Vorstellungen gearbeitet, doch wenig zielstrebig. Es kam zu keinen
Entscheidungen.
Bei
meinen darauf folgenden Arbeitsbesuchen in den Wasserwerken Friedrichshagen,
Wuhlheide, Joachimsthal und in Kläranlagen kam es zu
Beratungen mit Arbeitern und Führungskräften. Es ging um die mengenmäßige und
besonders die qualitätsgerechte Lieferung des Trinkwassers und deren ständige
Laborkontrolle, die notwendige Erweiterung der Werk- und Anlagekapazitäten, den
Einsatz von Technik, die Besetzung aller Arbeitsplätze, die Qualifikation der
Arbeiter und Führungskräfte, den Zustand der Arbeitsplätze und Sozialräume, die
Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen und anderes. Es kamen erhebliche
Defizite zu Tage. Es wurden kurz- und mittelfristige Maßnahmen festgelegt. Mit
Unterstützung anderer wasserwirtschaftlicher Betriebe wurden sie umgesetzt.
Im
MUW befasste sich künftig eine Abteilung mit den zentral zu entscheidenden
Aufgaben. Sie unterstand direkt dem Staatssekretär. In den folgenden Jahren
erfüllte die Wasserwirtschaft in Berlin ihre durch das Wohnungsbauprogramm in
Größenordnungen gestiegenen Anforderungen. Und das Jahr für Jahr, wie es hieß:
»termin- und qualitätsgerecht«. Das MfS hatte dafür einen wesentlichen Anstoß
gegeben. Mehrfach erhielt ich vom Verbindungsoffizier Informationen über
örtliche Mängel in der Trinkwasserversorgung. So aus dem Kreis Zossen. Es war
mit Nitraten belastetes Trinkwasser ausgeliefert worden. Die Information an den
Verbindungsoffizier erfolgte durch einen Mitarbeiter deshalb, weil die
Wasserlieferung nicht sofort eingestellt, die Gesundheitsorgane und die
Bevölkerung nicht informiert worden waren.
Im
Wasserwerk war man bemüht, die Havarie zu vertuschen. In der Zwischenzeit war
aber durch das Eingreifen der Hygiene-Inspektion des Gesundheitswesens und die
Betriebsleitung des VEB WAB in Potsdam der gesetzlich festgelegte Zustand
wieder hergestellt worden. Ab den siebziger Jahren erhielt der Umweltschutz
schnell wachsende Bedeutung. Das auch in der Arbeit des MfS. Von ihm erhielten
die wirtschaftsleitenden und staatlichen Organe sowie die territorialen SED-
Leitungen Informationen über Objekte, von denen Umweltbelastungen und -schäden
für Menschen und die Natur ausgingen. Sie drängten nachdrücklich auf
Veränderungen.
Eines
dieser Objekte mit erheblichen Umweltbelastungen war der VEB Elektrokohle in
Berlin. 1975 waren etwa 2.700 Betriebsangehörige und ca. 60.000 Bürger in Neubaugebieten, die in den letzten Jahren gebaut worden
waren, erheblichen Luftbelastungen ausgesetzt. Es kam zu heftigen Kritiken und
Forderungen nach Veränderungen. Der Betrieb war 80 Jahre alt und einziger
Zulieferer von Kohleelektroden für die Metallurgie, die chemische Industrie
und die Elektroindustrie der DDR und anderer RGWLänder.
Die Regierung beschloss ein Investitionsprogramm für die Sanierung des Werkes
mit sehr hohen Umweltschutzauflagen. Zur Kontrolle deren Einhaltung führte der Umweltminister über 4 Jahre lang halbjährlich
Kontrollberatungen, verbunden mit Betriebsbesichtigungen durch. Mitarbeiter des
MfS haben das Vorhaben, das mit zu den wichtigsten Umweltschutzobjekten der DDR
gehörte, betreut. Durch das Aufdecken falsch eingebauter Filteranlagen
sicherten sie z.B. mit die termin- und kostengerechte
Fertigstellung.5
Mitte
der 80er Jahre erhielt ich vom Verbindungsoffizier eine Information aus Erfurt.
Beim Neubau eines Elektronik-Werkes gab es einen unverantwortlichen Umgang mit
diversen hochgiftigen Chemikalien. Auf Baustellen standen zum Teil sogar geöffnete
Fässer völlig ungesichert herum. In diesem Falle wurden durch den Rat des
Bezirkes bzw. den Bezirksvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes
(FDGB) die Umwelt- und die Arbeitsschutzinspektionen mit der Durchsetzung der
gesetzlichen Bestimmungen vor Ort beauftragt.
Eine
sehr gewichtige Information erhielt ich Mitte der 80er Jahre. Es war ein
mehrseitiger Bericht mit Vorschlägen und einer umfassenden Fotodokumentation.
Es gab ein von Erich Mielke persönlich unterzeichnetes Anschreiben – übrigens das
einzige Mal, was sicher die Bedeutung unterstrich. In einem Naturschutzgebiet
nahe Potsdam waren kleine Wasserläufe von Jauche überschwemmt. Die Havarie
breitete sich auch außerhalb des Schutzgebietes aus. Sie wurde zu einem
öffentlichen Skandal. Naturschützer und Spaziergänger waren beunruhigt.
Kritiken wurden nachdrücklicher, Proteste laut. Da die Havarie im militärischen
Sperrgebiet der sowjetischen Truppen lag, übernahm das MfS die Untersuchungen.
Sie führten bald zu einem Schweinestall nahe einer Kaserne. Hier funktionierte
die Anlage zur Jauchebehandlung offenbar schon des längeren nicht. So floss
diese ungereinigt in die Landschaft. Der wichtigste Vorschlag an mich sah vor,
den Untersuchungsbericht mit dem sowjetischen Oberkommandierenden auszuwerten.
Über die Aufnahme einer solchen Verbindung konnte allein Erich Honecker
entscheiden.
Um
Vorschläge zur persönlichen Auswertung mit dem Oberkommandierenden, zur
Beseitigung der akuten Havarieschäden und zur
Einhaltung der Umweltschutzgesetze der DDR erweitert, übergab ich den Bericht
an Erich Honecker. Es folgte nach einiger Zeit die Bestätigung aller Vorschläge
und die Zustimmung zu einem Treffen von mir mit dem Oberkommandierenden der
sowjetischen Streitkräfte. Die Begrüßung war militärisch-sachlich, freundschaftlich.
Die Beratungen zur Auswertung wurden nur einmal kurz unterbrochen. Der
Oberkommandierende erteilte dem Kommandierenden General der Panzertruppen
sinngemäß den Befehl: Sofort mit Einsatz von Panzern den Schweinestall
beseitigen!
Mit
meinem vorsichtigen, nicht ganz militärischem Einwand,
dass es sicher noch lebende Schweine im Stall gäbe, gelang es, deren Leben
zunächst zu retten und den Befehl auszusetzen. Übereinstimmend zwischen beiden
Seiten wurde schließlich vorgeschlagen, in einer Regierungsvereinbarung
DDR-UdSSR zu regeln, dass künftig für die sowjetischen Truppen uneingeschränkt
die Gesetze zum Umweltschutz der DDR gelten. Von sowjetischer Seite wurde u. a.
vorgeschlagen, in den Truppenteilen Offiziere für den Umweltschutz (Schutz der
Gewässer, besonders von Trinkwasserschutzgebieten, den Schutz des Bodens, von
Naturschutzgebieten u. a.) einzusetzen. Zu deren Unterstützung und für den
Informationsaustausch sollten von DDR-Seite Ingenieure der Staatlichen
Gewässeraufsicht bzw. der VEB WAB vorgesehen werden. Für die Verbindung zum
Umweltschutzministerium wurde vom sowjetischen Oberkommandierenden, wie es hieß
– mit sofortiger Wirkung – der Stellvertreter des Oberkommandierenden für die
Rückwärtigen Dienste eingesetzt. Mit der praktischen Umsetzung weiterer
Vorschläge wurde sofort begonnen.
Bald
gab es die ersten Ergebnisse beim Schutz von Trinkwasserschutzgebieten und Wasserwerken
in der Nähe von Truppenübungsplätzen und Kasernen sowie beim Schutz der Böden
vor Flugzeugtreibstoffen beim Tanken auf Flugplätzen. Eine positive
Folgewirkung war auch der Abschluss einer analogen Vereinbarung zum Schutz der
Umwelt durch den Umweltminister der DDR mit dem Generaldirektor der Wismut AG.
Das
Zusammenwirken mit dem MfS vollzog sich vorwiegend folgendermaßen. Die
Informationen des MfS wurden durch den Verbindungsoffizier übergeben. Im
Verlauf mehrerer Jahrzehnte habe ich drei kennengelernt. Sie waren hoch
motiviert, beruflich, juristisch und militärisch gut ausgebildet und
sachkundig. Es mangelte ihnen nicht an Selbstbewusstsein. Das lag sicher auch
in der Autorität des von ihnen repräsentierten Amtes begründet. Nie waren sie
arrogant. Immer korrekt und kooperativ. Es war immer Verlass auf sie. Die
schriftlichen Informationen hatten immer eine hohe Aussagekraft. Bereits vor
Ort waren die Angaben auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Die Quelle wurde nie
angegeben und blieb auch bei den weiteren Arbeiten geheim. Soweit mir bekannt
war, waren es zumeist verantwortungsbewusste Mitarbeiter oder Führungskräfte
der jeweiligen Betriebe oder deren Leitungen. Sie hatten sich in der Regel
bereits in der Betriebs-, Gewerkschafts- und SED-Leitung um eine Lösung des
Problems bemüht. Oft erfolglos. Die Information an den Verbindungsoffizier
hielten sie für den letzten und am ehesten Erfolg versprechenden Weg zur
Veränderung. Die MfS-Offiziere genossen ein hohes Vertrauen, helfen und
verändern zu können.
In
unserem Ministerium wurden die Informationen ausgewertet, geprüft und die
erforderlichen Maßnahmen getroffen. Das MfS erhielt den abschließenden Bericht
oder ein Protokoll. Diese Methode hatte sich insgesamt bewährt. Sie wurde auch
ähnlich bei entsprechenden Informationen der Arbeiter- und Bauern-Inspektion
und auch bei Eingaben von Bürgern an den Vorsitzenden des Staatsrates
angewandt. Sie hatten eine hohe Verbindlichkeit und boten die Möglichkeit der
Nachkontrolle durch die Beteiligten.
Verglich
man die Informationen, so gab es inhaltliche Unterschiede. Neben
schwerwiegenden Problemen standen auch weniger wichtige, auch solche die
bereits gelöst waren. Es entstand der Eindruck, dass Verantwortliche sich an
den Verbindungsoffizier wandten, weil die Lösung eines Problems schneller
aussichtsreich erschien, als auf dem normalen Arbeitsweg. Andererseits schien
sich innerhalb des MfS ein Verantwortungsbewusstsein für fast alle
volkswirtschaftlichen Probleme entwickelt zu haben. Einiges gehörte auch in die
Arbeit der ABI, der Volkspolizei, der vielen anderen Inspektionen, besonders
auch staatlicher Organe und Wirtschaftsleitungen. Daraus entstand als ein
weiteres Problem, die geheimdienstliche Behandlung von oft operativen
volkswirtschaftlichen Problemen.
Sie
konnten nicht öffentlich gemacht und ausgewertet werden. Das wäre aber oft
erforderlich gewesen und war bei anderen Kontroll- und Sicherheitsorganen wie
der ABI, dem Arbeitsschutz, den Hygiene- und Umweltschutz-Inspektionen, der
Staatlichen Gewässeraufsicht Praxis. Besonders hervorzuheben ist, dass in
keinem Falle das MfS oder einzelne Offiziere Einfluss auf Entscheidungen zur
Wirtschaftspolitik oder auf die wirtschaftsleitende Tätigkeit nahmen. Die
Lösung festgestellter Probleme erfolgte, wie dargestellt, im
politisch-operativen Zusammenwirken. Ebenso konnte umgekehrt in keinem Falle
ein Minister einem Mitarbeiter des MfS einen Auftrag, eine Weisung (z. B. zur
Untersuchung weiterer Umstände einer vorliegenden Information oder sogar
anderer Fälle) erteilen. Das festzustellen ist wichtig, weil der Bundestag im
Jahr 2005 für die führenden Politiker und andere leitende
Verantwortliche – eingeteilt in neun Gruppen – die Weitergeltung der
Strafrente per Gesetz beschloss. Zur Begründung wurden genannt: 1. das Recht
dieses Personenkreises, dem MfS bzw.
seinen Mitarbeitern Weisungen zu erteilen, und 2. die Beteiligung an einem
»System der Selbstprivilegierung«.
Die
Verhandlungen und Untersuchungen eines Berliner Sozialgerichtes, vor dem ich
gegen die Strafrente geklagt hatte, widerlegten beides. Die Minister hatten
keine Weisungsbefugnis gegenüber Mitarbeitern des MfS. Gestützt wurde das auch
durch zwei schriftliche Stellungnahmen der Behörde des »Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR« (BStU). Ein Nachweis der Teilnahme an einem System der
Selbstprivilegierung konnte nicht erbracht werden. Es gab nicht einmal Klarheit
über deren Inhalt, die Kriterien dafür. Es galten die gesetzlichen Regelungen
und staatlichen Ordnungen. Trotzdem befand 2010 das Bundesverfassungsgericht,
dass die Weiterzahlung der Strafrente mit dem Grundgesetz vereinbar ist. So
gilt ein Gesetz auf der Grundlage falscher Tatsachen weiterhin. Tausende
ehemalige Führungskräfte und ihre Familien erhalten die Strafrente weiter.
Meine
Erfahrungen über die Unterstützung durch das MfS in der Wasserwirtschaft und
den Umweltschutz sind sicher nur ein Bruchteil der Gesamtleistungen des MfS.
Hinzu kommen solche großen volkswirtschaftlichen Bereiche wie die
Energiewirtschaft, der Bergbau, die Chemie, der Maschinenbau, der Verkehr und
das Gewerbe, die Landwirtschaft, Wissenschaft, Technik und der Außenhandel. Es
waren wohl zehntausende Leiter staatlicher Organe, der Betriebe, Kombinate, LPG
und verschiedener Einrichtungen und Organisationen, der Zweige der
Volkswirtschaft und Bereiche der Gesellschaft, die wie ich auf diesem Feld der Zusammenarbeit
mit dem MfS Erfahrungen gesammelt haben.
Die
Unterstützung des MfS für die volkswirtschaftliche Tätigkeit meines
Ministeriums war von großem Nutzen. Insgesamt für die Volkswirtschaft hatte sie
sicher auf vielen Feldern einen unermesslichen Wert. Das berücksichtigend, sind
die anhaltende Diffamierung der Mitarbeiter des MfS und die willkürliche
soziale Bestrafung durch die Strafrente unbegründet. Da von der BStU-Behörde nicht zu erwarten ist, dass hier die Wahrheit
über das MfS auf den Tisch gebracht wird, die Werte und Leistungen bei der
Verhinderung volkswirtschaftlicher Schäden und Verluste, der Erschließung von
Reserven und der Schaffung neuer materieller und ideeller Werte objektiv
beurteilt und gewürdigt werden, müssen die Beteiligten aus allen Bereichen –
das sind sicher mehrere Tausend Führungskräfte aus Industrie, Landwirtschaft,
Wissenschaft, Medizin, Bildung und Kultur – die Karten auf den Tisch legen,
über Erfahrungen und Ergebnisse, über die Realität berichten. Das um unserer
Würde, der geschichtlichen Wahrheit und einer besseren sozialistischen Zukunft
wegen.
Anmerkungen
1 ‑Im Frühjahr l989 wurden zur
Vorbereitung des 1990 anstehenden Parteitages der SED vom Parteivorstand der
Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) Beratungen in den Vorständen und
mit Mitgliedergruppen verschiedener Tätigkeitsbereiche durchgeführt. Es sollten
diesmal nicht nur vorher abgestimmte Vorschläge der zentralen Leitung an das
Zentralkomitee der SED übergeben werden. Es ging um Anträge ohne Tabus, direkt
aus den Dörfern, LPG, aus dem ländlichen Bildungs- und Gesundheitswesen,
Handwerk und Gewerbe, dem kulturellen und sozialen Leben.
‑Neben Vorschlägen im Rahmen
bestehender Gesetze und Beschlüsse waren es weit darüber hinausgehende.
Gefordert wurde eine aktive Arbeit des Demokratischen Blocks der Parteien
besonders zu den Problemen perspektivischer Gesellschaftsentwicklung,
Konzentration der führenden Rolle der SED besondere auf die Ausarbeitung der
strategischen Entwicklung der Gesellschaft und Volkswirtschaft; Beseitigung der
Doppelgleisigkeit in der Wirtschaftsführung;
schrittweise Abbau von Subventionen; Anwendung des demokratischen Zentralismus
mit weniger Reglementierung und mehr ökonomischen Hebeln; Treffen von
Entscheidungen dort wo es am sachkundigsten möglich ist; mehr Freiräume für
Ideen und Initiativen in Betrieben, LPG, Instituten, Bildungseinrichtungen und
Kommunen durch Beseitigung übertriebener zentraler Vorgaben und Kennziffern in
den Plänen und zentralen Beschlüssen; höchste Autorität für die
Volksvertretungen aller Ebenen und deren demokratisch gefassten Beschlüssen;
wirksame Vollmachten für die Sicherung der Durchführung ihrer Beschlüsse. Eine
Vielzahl von Vorschlägen betraf die Ausgestaltung der Demokratie besonders
durch die Teilnahme der Bürger an der Gestaltung der Gesellschaft, Einrichtung
eines Verfassungsgerichtes. Viele, bis ins einzelne gehende Vorschläge betrafen
die Agrar- und Umweltpolitik. Die Herstellung der aktiven Mitarbeit der DBD an
der zentralen staatlichen Leitung der Landwirtschaft (Stellvertreter des
Ministers), auch in anderen zentralen Staatsorganen und an der Arbeit der
Medien wurde nachdrücklich gefordert.
2 ‑Auf der Grundlage eines Berichtes der
Inspektion des Ministerrates zu »Problemen des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet
des Umweltschutzes« erteilte Günter Mittag als 1. Stellvertreter des
Vorsitzenden des Ministerrates und im Politbüro der SED verantwortlich für die
Umweltpolitik den Auftrag zur Verschärfung der entsprechenden Bestimmungen für
den Geheimnisschutz. Da es sich um eine fachbezogene
Regelung-Umweltschutz handelte, wurde dafür der Umweltschutzminister
verantwortlich gemacht. Am 16. November 1982 beschloss der Ministerrat die
Anordnung über die Gewinnung, Bearbeitung und den Schutz von Informationen über
den Zustand der natürlichen Umwelt. Diese Regelung war, nach der von Mittag
bereits 1973 veranlassten Einstellung des Jahresberichtes der Regierung zum
Umweltschutz und dessen Veröffentlichung, ein weiterer Schritt zur Beschränkung
der Öffentlichkeit an der Umweltpolitik. Sie stieß auf großes Unverständnis und
führte zu vielen Kritiken. Vom Umweltminister wurden Möglichkeiten zu deren
Aufhebung gesucht. 1987 konnte der Entwurf einer Neuregelung den beteiligten
Ministerien übergeben werden. Hier ist festzustellen, dass als erster der
Minister für Staatssicherheit und der Leiter der Inspektion des Ministerrates
dafür eintraten. Doch dieser Entwurf wurde von Mittag abgelehnt, ein zweiter
folgte, ein dritter mit den Unterschriften aller beteiligten Minister, wurde
ihm erneut im Juli 1989 übergeben. Zum Motiv seiner Handlungen heißt es bei
Mittag: »Aber konnte und kann es Umweltschutz ohne wirtschaftliches Wachstum
geben? […] Allem, was erforderlich schien, sofort und auf einen Schlag
nachkommen zu wollen, drohte doch ebenfalls, die Zukunft in Frage zu stellen.
Deshalb versuchte ich, das Mögliche zu tun und andererseits Panikstimmung zu
vermeiden. Daraus entstand der Eindruck, und ich muss zugeben, durch eine
unkluge Informationspolitik nicht zu Unrecht, dass diese Probleme aus dem
öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden sollten«. (Günter Mittag: Um jeden
Preis, Berlin 1991. S. 272) Das er nach eigenen Worten im Ministerrat eine
„überflüssige Geheimniskrämerei« persönlich organisiert und zahlreiche
Vorschläge an das Politbüro zurückgewiesen hatte, übersah er wissentlich.
3 ‑Nach dem Treffen Erich Honeckers mit
dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß im Sommer 1983 in der Schorfheide wurde am 12. Oktober 1983 in München eine
Vereinbarung über die Gewässerreinhaltung der Röden
(Bau der Kläranlage Sonneberg und deren gemeinsame Finanzierung) durch die
beiden Vorsitzenden der Grenzkommission DDR/BRD unter Teilnahme der
Umweltminister Reichelt DDR, Zimmermann BRD und Dick BRD/Bayern unterzeichnet.
Die Inbetriebnahme der Anlage erfolgte unter Teilnahme von viel Politprominenz
der BRD am 2. Oktober 1987.
4 ‑Im Polizeibericht des Ministeriums des
Innern für das I. Halbjahr 1960 »Zur Lage bei der sozialistischen Umgestaltung
der Landwirtschaft« werden verstärkte Auseinandersetzungen des Klassengegners
registriert: 58 Fälle von Schädlingstätigkeit, Sabotage und Diversion; 474
Brände, mit 140 vorsätzlichen Brandstiftungen; 262 Fälle ideologischer
Diversion, wovon 182 die LPG betrafen; div. Schäden in der Viehwirtschaft und
im ländlichen Bauwesen; Abwerbung aus der BRD von Tierärzten, Ingenieuren,
Spezialisten der MTS, Bauern und Bäuerinnen. In der gleichen Zeit gab es über
550 Provokationen an der Staatsgrenze zur BRD.
5 ‑Im Umfeld des VEB Elektrokohle in
Berlin-Lichtenberg waren zu Beginn der 70er Jahre mehrere
Wohnungs-Neubaugebiete, ohne gleichzeitig die zwingend erforderlichen
Sanierungs- und Umweltschutzmaßnahmen im VEB Elektrokohle durchzuführen,
errichtet worden. So kam es zu erheblichen Belastungen durch Teer- Pech-
Aerosole und Kohlenstaub. Das führte vor dem Parteitag der SED in mehreren
Parteiorganisationen und bei den Bürgern zu heftigen Kritiken. Die Akademie der
Wissenschaften erhielt den Auftrag zu untersuchen, ob durch eine Sanierung mit
strengen Umweltschutzauflagen das Werk weiter betrieben werden kann oder ein
neues errichtet werden muss. Der Weiterbetrieb nach einer Sanierung wurde für
möglich erachtet. Ein Investitionsprogramm mit Umweltschutzauflagen wurde von
der Regierung beschlossen und durchgeführt. Es wurden die veraltete
Generator-Gaserzeugungsanlage auf Stadtgas umgestellt, wodurch u. a. der
Umschlag von 40 000 t/a Briketts mit der damit verbundenen Staubbelastung
wegfielen, drei neue Rauchgasentteerungsanlagen mit Hochschornsteinen, zwei
neue Elektrofilter und zwei weitere Filter wurden errichtet. Das führte zur
radikalen Senkung der Luftbelastung. Das war gleichzeitig verbunden mit der
Rückgewinnung und dem Wiedereinsatz von Teerpech,
Kohlenstaub, Siliziumkarbid, Graphitstaub, Anthrazit- und Koksfilterstaub mit
einem Wert von 5,408 Mio. Mark. Darunter auch div. Importe. Der Vorschlag des
Umweltministers, die Erfahrungen und Lehren der Sanierung im Politbüro der SED
und der Regierung zu behandeln, mit den Generaldirektoren der Kombinate und in
den Medien auszuwerten, wurde von Günter Mittag ohne Begründung abgelehnt.
Obwohl der VEB Elektrokohle aufwändig saniert und modernisiert worden war,
wurde er nach 1990 durch die Treuhand aus Konkurrenzgründen plattgemacht. 2013
steht auf seinem Territorium das Dong-Xuan-Center, der zweitgrößte Asia-Markt in Europa, wie man sagt.
seit Mai 1952
Von
Heinz Schmidt †
Aus
autobiografischen Aufzeichnungen von Heinz Schmidt (1930-2012); Diplomjurist,
Dr. jur.; MfS/AfNS 1952-1990; zuletzt Leiter der
Bezirksverwaltung Halle des MfS im Range eines Generalmajors
Nach
Absolvierung von Einstellungsformalitäten meldete ich mich Ende Mai 1952 zum
Dienstantritt in der Kreisdienststelle (KD) des MfS in Bitterfeld. Dort begann
ich als Hilfssachbearbeiter im Dienstrang »Wachtmeister« auf Probe. Das
bescheidene monatliche Gehalt betrug zirka 350 Mark. In den ersten Tagen versah
ich nur Telefondienst, um, wie man mir sagte, den Dienstbetrieb kennen zu
lernen. Dienstbeginn war 10, Dienstende 20 Uhr.
Ich
wohnte weiterhin mit meiner Familie im etwa 20 Kilometer entfernt gelegenen Bad
Düben. Der offizielle Dienstablauf brachte es mit
sich, dass ich den fahrplanmäßigen Bus nicht erreichen konnte und deshalb den Werkbus des Chemischen Kombinats benutzen musste, der aber
erst um Mitternacht fuhr. Um morgens pünktlich zum Dienst zu kommen, musste ich
bereits wieder um 6.30 Uhr von Bad Düben abfahren.
Die kurze Anwesenheit bei der Familie schuf oft emotionelle Reibungsflächen.
Der Dienst im MfS war eine Aufgabe, bei der nicht ständig auf die Uhr geschaut
werden konnte. Die Aufgabenerfüllung ging auf Kosten eines normalen
Familienlebens.
Unabhängig
von meiner Dienststellung hatte ich immer eine durchschnittliche Arbeitswoche
von 60 bis 70 Stunden.
Unser
1955 geborener Sohn war drei Jahre alt, als ich zu einem Zweijahreslehrgang
nach Potsdam-Eiche delegiert wurde. Wir durften nur vierteljährlich einmal am
Wochenende nach Hause fahren. Im Vergleich zu den in späteren Jahren an mich
gestellten Anforderungen und Belastungen waren das alles jedoch keine so
schweren Hürden.
In
der Anfangsphase meines Dienstes in Bitterfeld bekam ich Kontakt zum
sowjetischen Berater, einem Hauptmann des Komitees für Staatssicherheit der
UdSSR. Solche Berater oder Verbindungsoffiziere waren in jeder Dienststelle
etabliert und hatten ihren Einfluss auf einen Dienstbetrieb nach sowjetischem
Vorbild umzusetzen. Jede Aktion, jeder Vorschlag des Leiters musste die
Zustimmung des Beraters erfahren. Die Aufgabenerfüllung ging nicht ohne
Berichterstattung an den sowjetischen Offizier. Die Berater arbeiteten nach
Arbeitszeitregelungen aus der Zeit des Vaterländischen Krieges – nämlich
nachts. Wenn er einen Mitarbeiter der Dienststelle sprechen wollte, geschah das
regelmäßig zur Nachtzeit. Es kam vor, dass man stundenlang gewartet hatte und
dann den Bescheid erhielt, dass die Beratung ausfalle. Das ging alles auf
Kosten des Familienlebens.
Ich
wurde einem erfahrenen Mitarbeiter zur Seite gestellt, der für die Sicherheit
der Farbenfabrik Wolfen verantwortlich war. Hier lernte ich Formen und
Möglichkeiten feindlicher Angriffe auf die chemische Industrie wie auch die
Maßnahmen der erfolgreichen Abwehr und Aufklärung kennen. Dazu gehörte
insbesondere die Zusammenarbeit mit inoffiziellen Kräften. Von Anbeginn der
Existenz der DDR bildeten sich in der BRD und in Westberlin Organisationen,
die, häufig im Zusammenwirken mit westlichen Geheimdiensten, die DDR-Wirtschaft
mit allen Mitteln zu stören versuchten. Anfänglich waren die subversiven
Angriffe noch nicht so raffiniert konspirativ geplant wie später und daher noch
relativ leicht erkennbar.
Als
Erstes machte ich mich mit dem Produktionsablauf in der Farbenfabrik vertraut
und lernte so die einzelnen Betriebsabschnitte kennen. Alle hatten unter den
Kriegsverhältnissen gelitten. Derartige Verhältnisse waren im Raum
Bitterfeld-Wolfen in allen chemischen Bereichen anzutreffen. Unter den
Bedingungen maroder Betriebe notwendige Ordnung und Sicherheit durchsetzen zu
müssen, verlangte ein enges abgestimmtes Zusammenwirken mit dem Betriebsschutz,
der Volkspolizei, der Feuerwehr und anderen Einrichtungen. Ich lernte dabei die
Verantwortlichen der verschiedenen Bereiche kennen und schätzen.
Von
uns Mitarbeitern der KD wurde erwartet, dass bei der weiteren Gestaltung und
Entwicklung der Betriebe gegnerische Kräfte erkannt und deren schädliches
Handeln verhindert wurde. Aber wie in vielen anderen gesellschaftlichen
Bereichen der jungen DDR mangelte es auch im MfS an in der Praxis erfahrenen
Experten. Wir mussten uns fachliche Kompetenz Stück um Stück aneignen und
lernen, wie gegnerische Kräfte und deren Wirken erkannt, vor allem aber bereits
vorbeugend verhindert werden können. Das brachte es mit sich, in den ehemaligen
Konzernbetrieben mit Personen zusammen zu arbeiten, die früher zum
Stammpersonal des Konzerns gehörten und deren Grundhaltung zur DDR oft als
nicht sonderlich ausgeprägt und gesichert galt. Nicht wenige waren materiell
und finanziell korrumpiert worden oder befanden sich noch in geistiger
Anhänglichkeit zum früheren Arbeitgeber. Diese Konzernverbundenheit war noch
viele Jahre zu bemerken und manche feindliche Tätigkeit hatte dort ihre
Wurzeln.
Ehemalige
Wehrmachtsoffiziere oder Nazifunktionäre waren in die Produktion gegangen und
stiegen auf Grund ihrer Bildung und Kenntnisse bald in Verwaltungs-. und
Betriebsfunktionen auf. Unter ihnen gab es Leute, die für Betriebsspionage und
andere Schädlingstätigkeit gegen die DDR-Volkswirtschaft ansprechbar waren. So
lernte ich in der Farbenfabrik Wolfen zwei Techniker dieses Personenkreises
kennen, die der Spionage und Sabotage verdächtig waren. Kurz vor der
beabsichtigten Festnahme setzten sich beide nach dem Westen ab.
Bei
meinen Einsätzen in der chemischen Industrie des Kreises Bitterfeld lernte ich
die Situation in der Wirtschaft kennen und wurde mit allen Formen gegnerischer
Angriffe auf die junge DDR-Wirtschaft konfrontiert. Es erscheint als Wunder,
dass trotz Verluste durch Krieg, Demontage und Reparationsleistungen an die
UdSSR, trotz Rohstoffengpässen und der ständigen Angriffe, Störungen, Sabotage
und Boykotte es die Werktätigen der DDR schafften, eine funktionierende
Volkswirtschaft aufzubauen. Das ist das eigentliche Wirtschaftswunder.
Zu
einem späteren Zeitpunkt wurde ich als Verantwortlicher für die Absicherung
eines Teils der Landwirtschaft im Kreis eingesetzt. Die Mitarbeiter des
Referats zur Sicherung der Landwirtschaft waren auch für kleinere Volkseigene
Betriebe und andere im Territorium befindlichen staatlichen Einrichtungen, Institutionen
und Verwaltungen zuständig.
In
wichtigen landwirtschaftlichen Bereichen wurden Maschinen-Traktoren-Stationen
(MTS) geschaffen, die besonders den Neubauern, Klein- und Mittelbauern mit den
notwendigen Landwirtschaftsmaschinen zur Verfügung standen. Es gab vier
Betriebe der MTS im Kreis Bitterfeld. Sie wurden in diesem Wirtschaftsbereich
zum Schwerpunkt für die Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle zur Sicherung und
Abwehr feindlicher und anderer gegnerischer Aktionen. Bislang kannte ich mehr oder
weniger gut die Verhältnisse der Großbauern und Rittergüter. Nunmehr lernte ich
eine völlig neue Form landwirtschaftlicher Betriebe kennen. Menschen, die sich
gegenseitig halfen und alte Besitzverhältnisse nicht mehr wollten.
Natürlich
waren wirtschaftlich starke Großbauern gegen diese Entwicklung. Vorkommnisuntersuchungen brachten zutage, dass sich
Großbauern, Gegner der Bodenreform darüber berieten, wie man sich staatlichen
Pflichtabgaben, aber auch der genossenschaftlichen Entwicklung entziehen kann.
In
jener Zeit befand ich mich sehr häufig mit weiteren verantwortlichen
Mitarbeitern zur Untersuchung von Bränden in landwirtschaftlichen
Einrichtungen, Lagerstätten und Scheunen gemeinsam mit Feuerwehr, Volkspolizei
und MTS-Fachleuten im Einsatz.
Es
gehört zur sachlichen Analyse dieser Zeit, dass nicht jedes Vorkommnis im
Verantwortungsbereich, wie z. B. das Verenden von landwirtschaftlichen
Nutztieren oder Brandschäden, auf gewollte Schädigungsabsicht zurückzuführen
war. Auch aus mangelnder Sachkenntnis, wie Fehler bei der Tierfütterung und
fahrlässigem Verhalten, konnten erhebliche, aber nicht gewollte Schäden und
Verluste verursacht werden. Störungen, verbrecherische Handlungen in
Landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden von Westberlin aus durch feindliche
Organisationen, wie die sogenannte Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) initiiert, angeleitet und durchgeführt. Es war schon
eine eigenartige Vereinigung gegen
Unmenschlichkeit, die Sprengungen plante und beging, Brände legte oder
Tiervergiftungen organisierte. Auch bei heutigem Rechtsverständnis werden
derartige Handlungen als Terror qualifiziert. Durch unsere Arbeit konnten
solche tätig gewordenen Agenten entlarvt und ihrer Strafe zugeführt werden.
In
dieser Zeit lernte ich Menschen kennen, die von sowjetischen Sicherheitsorganen
zur inoffiziellen Zusammenarbeit angeworben worden waren. In der Regel handelte
es sich hier um Mitglieder der SED, Funktionäre von anderen Parteien und
Organisationen. Damals gab es noch keine inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des
MfS, die Aufträge zum Eindringen in die Konspiration gegnerischer Geheimdienste
zur Aufklärung deren Absichten und Pläne hätten ausführen können.
Mitten
in dieser Tätigkeit erlebte ich den 17. Juni 1953. Zur Bewertung der Ereignisse
um die besagten Juni-Tage 1953 muss man mehrere Monate zurückschauen. Nach
meinen eigenen Erfahrungen gab es objektiv herangereifte Probleme, die einer
Lösung harrten und von der Bevölkerung akzeptiert worden wären. Aber es gab
auch eine Reihe subjektiver Verwirrungen und Einflussnahmen von westlicher
Seite, die Unzufriedenheit erzeugten und zu Demonstrationen und Streiks
führten. Später wurde von der SED- und Staatsführung eingeschätzt, dass es sich
um einen faschistischen Putsch gehandelt habe. Der RIAS, in Westberlin als Rundfunk im amerikanischen Sektor
installiert, hetzte in der Tat durch ganztägige Sendungen die DDR-Bevölkerung
zum Generalstreik, zum Aufstand auf. In der BRD wird seither von einem
Volksaufstand gesprochen und dieser wurde als Gedenktag begangen. Ohne Zweifel
gehörten diese damals von der BRD ausgehenden Aktivitäten zu den Maßnahmen,
welche die DDR beseitigen sollten. Dass ein bürgerlicher Staat in diesem Fall
Volksaufstände wünscht und feiert, ist immerhin bemerkenswert.
Ich
habe diesen Tag als 23-jähriger Mitarbeiter des MfS in Bitterfeld erlebt und
meine, verlässlicher Augenzeuge zu sein. Später wurden über diese Ereignisse im
Juni 1953 Bücher geschrieben und Filme gedreht, die hingegen wenig Sachkenntnis
offenbarten.
Ich
werde von meinen eigenen Wahrnehmungen zu damaliger Zeit berichten.
Anfang
1953 verschlechterte sich die ohnehin nicht großartige Stimmungslage in der
DDR. Während einerseits Teile der Bevölkerung die beginnende Remilitarisierung
der BRD und die Existenz ehemaliger Nazigrößen in Parteien, Wirtschaft und
Verwaltungen deutlich ablehnten, übten andererseits das lukrative Warenangebot
und ein besserer Lebensstandard der westdeutschen Bevölkerung eine große
Anziehungskraft auf die Menschen in der DDR aus. Insofern waren die politischen
Verhältnisse in der BRD für DDR-Bürger zweitrangig.
Es
waren erst acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen und nicht
wenige Bürger waren noch mit nazistischer Ideologie behaftet, orientierten sich
ideologisch mehr und mehr nach der BRD.
Die
Entwicklung in der DDR beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung verlief
nicht widerspruchsfrei und erreichte unter den Bedingungen der wirtschaftlich
starken BRD zu wenige Menschen. Die DDR hatte mit dem Aufbau ganzer
Wirtschaftszweige zu tun. Rohstoffmangel, Absatzprobleme, Engpässe in der
Versorgung und Reparationszahlungen an die UdSSR waren eine zu schwere Bürde
für das Land. Hinzu kamen die fortwährenden Angriffe jeglicher Art auf die DDR.
Die in dieser Zeit verlangte Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent war dem
Grunde nach gerechtfertigt und notwendig, war aber der Anlass zu anhaltenden
Protesten. Diese Festlegung wurde zwar zurückgenommen, konnte aber, nun einmal
in die Diskussion gebracht, nicht zur Beruhigung der Massen führen.
Es
gab weitere, auch unter uns, unverständliche Regelungen. In Verkennung der
Situation wurde zum Beispiel festgelegt, dass Selbstständige, Händler und
Handwerker keine Lebensmittelkarten mehr erhielten. Sie sollten in der
Handelsorganisation (HO) die teureren Lebensmittel einkaufen, weil sie genügend
Geld zur Verfügung hätten. Es versteht sich, dass solche Maßnahmen mehr als nur
Unmut auslösten. Man muss annehmen, dass die SED- und Staatsführung seinerzeit
die Lage im Land völlig falsch beurteilte. Wir haben damals auch in unseren
Kreisen viel darüber diskutiert, aber fanden keine vernünftige Erklärung, außer
die Meinung: Die Partei wird schon wissen, warum sie das tut.
Als
ich am 16. Juni abends nach Hause kam, erfuhr ich von Streiks und
Demonstrationen in der Berliner Stalinallee. Am nächsten Morgen fuhr ich wie
gewohnt zum Dienst. Dort erwartete mich der Dienststellenleiter und forderte
meine Dienstwaffe, die Pistole, und deponierte sie im Panzerschrank. Als
Begründung teilte er mit, dass in Bitterfeld gestreikt und demonstriert werde
und wir sollten auf keinem Fall in Versuchung geraten, von der Schusswaffe
Gebrauch zu machen beziehungsweise uns die Waffe entwenden zu lassen.
Ich
wurde beauftragt, mich zum MTS-Objekt nach Pouch zu
begeben und mich über die Lage zu informieren. Als ich dort eintraf, wurde zwar
über die Ereignisse diskutiert, aber es gab nichts Besorgniserregendes. Als ich
gegen 10 Uhr telefonisch darüber meinen Leiter informieren wollte, erhielt ich
keinen Anschluss. Ich beschloss, mit dem Motorrad zurück zur Dienststelle zu
fahren. Bereits im nächsten Ort, Mühlbeck, sah ich
mehrere Busse, die mit Arbeitern voll besetzt nach Bad Düben
fuhren. Dort traf ich auf den Kraftfahrer unserer Dienststelle, der mit dem
Dienstwagen unterwegs gewesen war. Er berichtete, dass das
Dienstauto vom »Streikkomitee« beschlagnahmt worden wäre, um den Chef des
Streikkomitees, einen Herrn Fibelkorn nach Hause zu
fahren.
Ich
sah Busse und Fahrzeuge der Volkspolizei, die aber nicht von Polizisten besetzt
waren. Manche fuhren im scharfen Tempo herum und forderten die Menschen zum
Generalstreik auf. Nicht nur ich hatte den Eindruck, dass es sich hierbei um
Aufrührer und Randalierer handelte. Solche Leute waren alles andere als
unzufriedene Werktätige. Sie hielten an staatlichen Gebäuden und HO-Geschäften
und rissen dort Schilder und Losungen herunter.
Ich
beschloss in dieser Situation zur sowjetischen Kommandantur zu fahren. Vorher
wollte ich das Motorrad in der MTS-Station Pouch
auftanken. Als ich auf dem Dorfplatz ankam, standen dort Arbeiter, die in
Richtung Bad Düben wollten, aber aussteigen mussten,
damit andere Arbeiter aus Bitterfeld geholt werden konnten. Unter ihnen waren
welche, die mich kannten. Der Anführer dieser Gruppe war der Sohn eines
Gastwirtes. Eine kleine Gruppe der dort Anwesenden kam auf mich zu und
bemächtigte sich des Motorrades mit den Worten: »Das gehört jetzt uns!« Sie versuchten, mich in Richtung des Muldenabhanges zu
drängen. Jetzt erschien der Fahrer eines Busses, der mich als sein häufiger
Fahrgast erkannte. Er erklärte der Gruppe, dass er zum Streikkomitee gehöre und
beauftragt sei, Funktionäre nach Bitterfeld zu fahren. Er nahm dem
Gastwirtssohn trotz dessen Protestes das Motorrad weg, setzte sich drauf und
bedeutete mir, auf den Hintersitz zu steigen. Er fuhr eine kurze Strecke in
Richtung Bad Düben, hielt dann an und meinte besorgt:
»Mach, dass du wegkommst!«
Dieser
um meine Sicherheit besorgte ehemalige Busfahrer erzählte mir später, dass die
Männer beabsichtigt hätten, mich vom 15 Meter hohen Muldenufer in die Tiefe zu
werfen.
Wenige
Tage danach war der Gastwirtssohn mit seinen Kumpanen nicht mehr zu finden. Sie
hatten sich nach dem Westen abgesetzt. Vielleicht sind sie heute
Freiheitshelden.
Nach
diesem Zwischenfall fuhr ich nach Hause zu meiner Frau, um sie zu beruhigen,
denn man hatte ihr mitgeteilt, ich sei umgebracht worden. Ich begab mich dann
zur Dienststelle nach Bitterfeld. Unterwegs waren randalierende Gruppen von
Jugendlichen zu sehen, die Verwüstungen anrichteten, Uniformierte angriffen und
deren Uniformen zerrissen.
In
den Vormittagsstunden fand in Bitterfeld eine Demonstration mit einigen
tausend Betriebsangehörigen der Farbenfabrik Wolfen statt, denen sich Arbeiter
des Chemischen Kombinats Bitterfeld anschlossen. Sie zogen bis zu den
Binnengartenwiesen in Stadtmitte. Einige, die sich als Streikleitung ausgaben,
hielten Reden und verlangten die Abdankung der Regierung und die Zurücknahme
der Normerhöhung, einer von ihnen auch die Wiedervereinigung mit der BRD. An
öffentlichen Gebäuden wurden auch wieder Zerstörungen vorgenommen. Nach der
Kundgebung verlief sich die Menge bzw. wurde mit bereitstehenden Bussen nach
Hause gefahren. Etliche der Randalierer setzte sein Treiben in den Heimatorten
fort, oftmals mit zerstörerischer Gewalt. In Bad Düben
zerstörten etwa fünf Randalierer mit
Äxten und Beilen die auf dem Marktplatz befindliche hölzerne Taube, das Symbol
für Frieden und Freundschaft. Diese Personen wurden später festgenommen und
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.
In
einem im Jahre 2007 hier erschienenen Bildband steht: »Auch in Bad Düben fuhren am 17. Juni 1953 sowjetische Panzer auf und
schlugen den Arbeiteraufstand nieder. Nach Zeugenaussagen wurden an diesem und
den nachfolgenden Tagen 200 Menschen aus Bad Düben
verhaftet …« Nach meiner persönlichen Wahrnehmung wurden außer den genannten
fünf Personen keine weiteren Festnahmen vorgenommen.
Vor
einigen Jahren behauptete eine Verwandte aus Mannheim in einem Gespräch mit
mir, dass zum 17. Juni in Bad Düben viele Menschen zu
Tode gekommen wären. Nach dem ich sie von meinen Erlebnissen und persönlichen
Wahrnehmungen überzeugen konnte, räumte sie ein, sich ihre Meinung nur von unbelegbaren Gerüchten aus Zeitungen gebildet zu haben. Ein
Beispiel, wie mit der vorgeblichen Wahrheit, auch in den Medien, umgegangen
wird und welche Auffassungen sich daraus ableiten.
Weiter
zu den Ereignissen:
Im
Sitz der Stadtverwaltung erhoben sich Leute zu Streikkomitee-Mitgliedern, die
Verbindung zum bestehenden Komitee der Farbenfabrik Wolfen aufnahmen. Am frühen
Nachmittag des 17. Juni erschien ein »Berater« in der Farbenfabrik. Es handelte
sich um einen ehemaligen Werksangehörigen, der nach dem Westen gegangen war und
nun an der Freien Universität Berlin studierte. Nun war er mit einem »Forderungskatalog«
zurückgekehrt. Während das Streikkomitee zu weiteren Maßnahmen aufforderte,
wurde die Sitzung unterbrochen und aufgelöst, weil bekannt wurde, dass mit
Hilfe sowjetischer Truppen der Staatsapparat und die staatlichen bzw.
wirtschaftlichen Strukturen wieder arbeiteten. Der »Berater« verschwand
heimlich wieder nach Berlin zu seinen Auftraggebern.
Aus
der Analyse der Vorkommnisse, auch in Bitterfeld, ging hervor, dass kein
Vertrauen mehr zur SED- und Staatsführung vorhanden war. Eine Wiedervereinigung
allerdings stand zu jenem Zeitpunkt nicht auf dem Forderungskatalog.
Am
Nachmittag des 17. Juni begannen wir mit Aufräumungsarbeiten in der verwüsteten
Dienststelle und machten eine Bestandsaufnahme der Akten, Unterlagen und
Dokumente. Randalierer hatten alles aus dem Fenster geworfen und Herumstehende
hatten sich davon bedient. Die Akten wurden im Raum Muldenstein bei
verschiedenen Personen gefunden, die im Grunde genommen nichts mit den
eigentlichen Randalierern zu tun hatten. Sie hatten außer der Befriedigung
ihrer Neugier keinen weiteren Verwendungszweck für die Inbesitznahme der
Unterlagen verfolgt.
Es
wurden aber Beweise dokumentiert über Personen, die durch ihr Handeln Gesetze
der DDR verletzt hatten. Es galt jedoch der Grundsatz, dass Streiks und
Demonstrationen nicht als Straftaten behandelt wurden. Zu einigen Personen
wurde ermittelt, weil sie sich die Rolle von Streikführer angemaßt hatten und
die Massen zu Maßnahmen gegen die DDR aufriefen. Einige waren bereits
festgenommen worden. Es handelte sich dabei keinesfalls um Sozialdemokraten,
die ihre Ideale verwirklichen wollten, wie wahrheitswidrig behauptet wird. Es
waren vielmehr hasserfüllte Feinde der DDR, die deren Beseitigung zum Ziele
hatten, was sie auch in den Vernehmungen zum Ausdruck brachten.
Auf
Grund einer Weisung des Justizministers der DDR wurden, auch wenn
formaljuristisch Strafrechtsverletzung vorlag, die meisten Verfahren
eingestellt und Haftbefehle aufgehoben.
Es
sollte interessieren, wie die Einschätzung zustande kam, es habe sich um einen
faschistischen Putsch gehandelt. Die Arbeitsergebnisse, zu denen auch
inoffizielle Kräfte beitrugen, sagten aus, dass in mehreren Fällen ehemalige
Wehrmachtsoffiziere und Nazis, die in der Produktion untergekommen waren, auf
Grund ihrer aus früherer Tätigkeit vorhandenen Erfahrungen und Fähigkeiten sich
an die Spitze von Demonstrationen und Versammlungen setzten. Solche Beispiele
gab es auch in anderen Bereichen. In den chemischen Werken Leuna waren eine
Reihe ehemaliger Nazis in der Produktion tätig, die nun die Zeit für gekommen
hielten, gegen die ihnen verhasste DDR vorzugehen.
Diese
Beispiele wurden in der Auswertung durch die SED-Führung zum Anlass genommen,
die Ereignisse am 17. Juni als faschistischen Putsch einzuschätzen. Nach meiner
Meinung aber waren die Demonstrationen und Streiks eher Ausdruck einer
verständlichen Unzufriedenheit der Bevölkerung, die von erklärten Gegnern einer
Entwicklung zum Sozialismus skrupellos ausgenutzt wurde, flankiert von
Randalierern, denen an Verwüstungen und Zerstörung gelegen war. Von solchen
Handlungen distanzierte sich jedoch der größte Teil der Demonstranten.
Wie
ging es nach diesen Tagen weiter?
Ein
»Weiter so!« durfte es in der DDR nicht geben. Bereits
am 16. und 17. Juni waren ja einige der Unruhe auslösenden Maßnahmen, zum
Beispiel die Normenerhöhung und der Lebensmittelkartenentzug zurückgenommen
worden. Auch innerhalb der MfS-Dienststellen wurden die Ereignisse ausgewertet
und über den weiteren Weg diskutiert. Auch im MfS gab es Veränderungen. Der
Staatssicherheit wurde von der SED- und Staatsführung vorgeworfen, die Gefahr
eines faschistischen Putsches und die Stimmungslage in der Bevölkerung nicht
erkannt zu haben. Das Ministerium für Staatssicherheit wurde nun dem
Ministerium des Innern unterstellt. Der seinerzeitige Minister Zaisser wurde seiner Funktion enthoben und an dessen Stelle
wurde Wollweber als Staatssekretär eingesetzt. Nach zwei Jahren wurde das Organ
der Staatssicherheit wieder ein Ministerium und Erich Mielke als Minister
eingesetzt.
Durch
Mielke wurden praxiswirksame Schlussfolgerungen gezogen. Es begann eine
Tätigkeit, die sich nicht, wie bisher, mit sporadisch ausgewerteten
Informationen zufrieden gab. Dazu gehörten ständige Lageeinschätzungen und eine
von der politisch-operativen Lage abgeleitete Planung für Maßnahmen zur Abwehr
gegnerischer Handlungen. Mielke legte besonderen Wert auf eine ständige
objektive Einschätzung der Stimmung in der Bevölkerung, eine Maßnahme, die
bislang folgenschwer vernachlässigt wurde. Nach dem 17. Juni wurden
Erkenntnisse erarbeitet zu Personen, von denen feindliche Handlungen und
Gefahren für die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR ausgehen konnten.
Grundlage für solche Einschätzungen waren gründliche Analysen in den jeweiligen
Verantwortungsbereichen. Die Ereignisse des 17. Juni lehrten uns, dass es noch
Feinde gibt und sich neue Gegner entwickeln können. Wir erkannten aber auch
jene Bürger, die sich mit der DDR verbunden fühlten. Wir vertrauten den
Erfahrungen, dass es unter den Arbeitern und Bauern kaum Personen gibt, die für
den Gegner zu arbeiten bereit sind.
Eine
heute uns immer wieder unterstellte »flächendeckende Überwachung« war aus der
vorgenannten Erkenntnis operativ nicht geboten und aus technischen und
personellen Gründen nicht machbar. Jede operative Arbeit kann sich nur auf
Schwerpunkte richten.
In
diesen Wochen und Monaten wurde in den Diensteinheiten intensiv über das
weitere Vorgehen beraten. Durch Befehle wurde geregelt, dass auf Grund der
ökonomischen Lage so zu arbeiten ist, dass Schäden, wirtschaftliche Störungen
jeglicher Art im Produktionsprozess und in der Wirtschaft allgemein verhindert
werden müssen. Die vorbeugende Arbeit hatte den Vorrang.
Weiter
im Mittelpunkt der Analyse der operativen Arbeit stand die Qualifizierung der
eigenen Arbeit. Es wurden Maßnahmen zur Verbesserung der politischen,
rechtlichen und fachlich-spezifischen Arbeit festgelegt. In der
Kreisdienststelle eignete ich mir die Kenntnisse zur Aufklärung und Abwehr
feindlicher Angriffe an. Es wurden dabei umfangreiche Erkenntnisse und
Erfahrungen erworben. Aber Gewalthandlungen in der operativen Arbeit waren mir
und meinen Genossen zutiefst fremd. Sie passen nicht in das Bild bewusster
Kommunisten.
In
der Zeit der Neuordnung unserer Arbeit nach dem 17. Juni wurde mir die Leitung
der Arbeitsgruppe Landwirtschaft für das gesamte landwirtschaftliche
Territorium des Kreises übertragen. Für die vier Maschinen-Traktoren-Stationen
im Kreis wurden vier Mitarbeiter eingesetzt. Es verstand sich, dass eine
erfolgreiche operative Arbeit nur im Zusammenwirken mit den Leitern und
Mitarbeitern des MdI, der betrieblich
Verantwortlichen und mit der Bevölkerung zu leisten war.
Im
Zusammenhang einer geplanten genossenschaftlichen Landwirtschaft fanden
Vorträge und Seminare statt. Durch meine Teilnahme geriet ich wohl ins
Blickfeld von Verantwortlichen der Bezirksverwaltung. Im Ergebnis eines
geführten Kadergesprächs wurde ich 1956 von der Kreisdienstelle in die
Bezirksverwaltung Halle versetzt und als Referatsleiter Landwirtschaft der
Abteilung III eingesetzt.
Für
mich begann ein neuer Abschnitt meiner
MfS-Zugehörigkeit, neue Verantwortungen, aber auch familiäre Schwierigkeiten.
Ich wohnte immer noch in Bad Düben und kam meist nur
an den Wochenenden nach Hause zur Familie. Zu den besonderen Vorkommnissen im
Verantwortungsbereich musste ich immer vor Ort sein. Zudem gab es
Arbeitsbereitschaften und OvD-Dienste. Es blieb
leider die Kräfte verschleißende Praxis, dass auch beim geringsten,
belanglosesten Vorkommnis, ob nun ein Strohschober brannte oder eine Verpuffung
in der chemischen Industrie erfolgt war, ein Mitarbeiter des MfS vor Ort sein
sollte.
Später,
als Leiter der Bezirksverwaltung (BV), habe ich versucht, diesen überspannten
operativen Unsinn einzudämmen. Konnte nicht das Geschehen durch andere
verantwortliche Mitarbeiter des Staatsapparates festgestellt und dann das MfS
davon unterrichtet werden? Leider gehörte es zu den Erwartungen der
Vorgesetzten, Informationen, die einer Schwerpunktarbeit entgegenstanden,
unmittelbar direkt zu erhalten. Jeder wollte schnellstens und möglichst
umfassend über alles informiert werden, egal, ob Hinweise zu einer
Feindtätigkeit vorlagen oder nicht. Das führte zu Konkurrenzdenken zwischen den
Untersuchungsorganen und eingesetzten Mitarbeitern der beteiligten Dienste.
Jeder wollte als erster der vorgesetzten Dienststelle Ergebnisse melden. Das
Meldesystem war so gestaltet, dass eine Nichtinformation in Berlin sofort
bemerkt wurde.
In
ein solches System schleichen sich Fehler ein bis hin zu schlecht
recherchierten und mangelhaft untersuchten Vorgängen.
Heute
sind es die Medien, die als erste mit umfangreichen Berichten untereinander
konkurrieren und den Wahrheitsgehalt vernachlässigen.
Meine
Station Bezirksverwaltung Halle ab 1956
Nach
meiner Versetzung von der Kreisdienststelle Bitterfeld zur Bezirksverwaltung
des MfS Halle war ich für die Sicherung der Landwirtschaft des Bezirkes Halle
zuständig. Ich befand mich also in der Verantwortung, dass auf dem Lande die
sozialistische Entwicklung ohne Störung durch DDR feindlich gesinnte
Kräfte voran schreiten konnte. Meine Bitterfelder Erfahrungen halfen mir dabei
ganz wesentlich. Anders als im Kreis Bitterfeld, wo die Mitarbeiter für den
jeweiligen MTS-Bereich zuständig waren, war mein Referat »Absicherung der
Landwirtschaft« Abteilung III, der späteren Abteilung XVIII, für die Sicherung
der landwirtschaftlichen Betriebe im Bezirk verantwortlich. Das war mir alles
neu und manches fremd. Hinzu kam, dass ich in ein Arbeitskollektiv versetzt wurde,
wo mindestens zwei Mitarbeiter gehofft hatten, als Referatsleiter eingesetzt zu
werden. Ich war inzwischen zum Oberleutnant befördert worden.
In
dieser Funktion als Referatsleiter arbeitete ich bis 1962. In dieser Zeit wurde
die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangebracht. Das war auch notwendig,
um die Versorgung der Bevölkerung gewährleisten zu können. Mit den bisherigen
Strukturen der bäuerlichen Einzelwirtschaften war diese Aufgabe nicht lösbar.
Nur die Großraumwirtschaft konnte die erforderliche Arbeitsproduktivität
schaffen. Die vorbeugende Verhinderung beziehungsweise Aufklärung von Bränden,
Störungen, Viehvergiftungen, die Ursachenforschung solcher Ereignisse waren
Hauptaufgabe des von mir geleiteten Referates.
Es
gelang in der Regel, die Täter, die mit ihren Handlungen die neue Entwicklung
in der Landwirtschaft stören wollten, zu ermitteln und festzunehmen. Ihre
Absicht bestand vor allem in der Vernichtung und dem Unbrauchbarmachen von
Betriebsausrüstungen der Maschinen- und Traktorenstationen. Zum Beispiel wurden
von einem Bauernsohn, der in der MTS als Traktorist arbeitete, an den
landwirtschaftlichen Großgeräten bewusst Beschädigungen vorgenommen, um deren
Einsatz zu hintertreiben. In einem anderen Fall brannte eine Scheune ab. Die
Untersuchungen ergaben, dass ein Buchhalter, der ehemals Angestellter eines
Gutsbesitzers war, aus seiner Gegnerschaft zur sich anbahnenden sozialistischen
Umgestaltung den Brand gelegt hatte.
Natürlich
gab es auch Störungen, Brände, Fälle von Viehvergiftungen, die (wie schon
erwähnt) nicht politisch motiviert waren, sondern aus Fahrlässigkeit oder
mangelnder Praxiserfahrung oder aus rein persönlichem Fehlverhalten entstanden.
Die SED-Bezirksleitung ging aber davon aus, dass solche Ereignisse in der Regel
das Ergebnis bewusster Feindtätigkeit sein müssten. Ein Beispiel, das dieser
Auffassung entgegen stand: Im Jahre 1957 brannte eines Nachts in einem Volksgut
im Kreis Querfurt ein Rinderstall ab. Der Schaden durch Tierverluste war enorm.
Ich begab mich mit einem Mitarbeiter zum Brandort. Die Volkspolizei war mit der
Brandermittlung dabei und die Feuerwehr gab erste Expertisen. Zweifelsohne lag
Brandstiftung vor. Lag feindlich-politische Absicht zugrunde? Die Feuerwehr war
relativ spät zum Löscheinsatz gelangt. Im Ort fand wenige hundert Meter vom
Brandort entfernt ein Feuerwehrball statt. Die Einsatzkräfte mussten erst nach
Hause und sich umkleiden. In dringenden Verdacht geriet ein Melker, ein
22-jähriger Mann, der Stalldienst hatte. Im Verlaufe der Befragung legte er ein
Geständnis ab. Er hatte den Brand gelegt, nachdem ihn der Feuerwehrleiter
nachts 2 Uhr aufgefordert hatte, das Vergnügen zu verlassen und seinen Dienst
im Stall anzutreten. Es habe ihn wütend gemacht, als er von seiner
Arbeitsstelle aus das Treiben von der nahe gelegenen Gaststätte hörte. Er legte
das Feuer, damit die dort befindlichen Ballteilnehmer auch nicht mehr feiern
konnten. Staatsfeindliche Motive waren ihm nicht nachzuweisen.
Meine
Tätigkeit in der Bezirksverwaltung verlangte ständige Einsatzbereitschaft, denn
die Einsatzorte bei besonderen Vorkommnissen lagen weit auseinander. Ich konnte
nicht täglich nach Hause fahren und auch an Wochenenden wurden häufig solche
Vorkommnisse gemeldet. In einer jungen Ehe wie meiner, war das belastend, denn auch
mein wenige Jahre alter Sohn brauchte mich.
Zu jener Zeit wurde ich zu einem zweijährigen Qualifizierungslehrgang
nach Potsdam-Eiche delegiert. Mein Einverständnis hierfür war eine schwierige
Entscheidung, aber ich fügte mich der Einsicht in die Notwendigkeit.
Am
15. Oktober 1958 trat ich als Kursant an der Hochschule an. Besonders belastend
war die für Familienväter unnötige Härte, nur vierteljährlich nach Hause fahren
zu dürfen. Später, nach Protesten der Lehrgangsteilnehmer, wurde diese Reglung
flexibler gehandhabt. Darüber hinaus gab es während der Zeit in Potsdam-Eiche
neben dem eigentlichen Ausbildungsprogramm viele Einsätze in der dortigen LPG
und Aufbaustunden bei der Schaffung eines Sportplatzes.
Das
Lernen wurde unnötig erschwert, indem das Selbststudium in festgelegten
Seminarräumen zu erfolgen hatte. Nach Kritik der Kursanten wurde das Studium in
den Unterkunftsräumen erlaubt.
Ich
erlernte hier auf einem beachtlichen hohen theoretischen Niveau Grundlagen der
marxistischen Weltanschauung, der marxistischen Philosophie, des Strafrechts
der DDR sowie Kenntnisse der spezifischen operativen Arbeit des MfS, also
Führung von Operativ-Vorgängen (OV), Operative Personenkontrolle (OPK) und die
Zusammenarbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM). Des Weiteren wurden wir
über Grundlagen der Kriminalistik und der Tatortarbeit unterrichtet. Nach zwei
Jahren beendete ich den Lehrgang erfolgreich und wurde wieder in meiner
bisherigen Tätigkeit als Referatsleiter der Abteilung Landwirtschaft in der BV
Halle eingesetzt.
In
der Zwischenzeit war während meines Lehrgangsbesuches im Wesentlichen die
sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft im Bezirk Halle abgeschlossen.
Es waren auf dem Weg dorthin viele Vorbehalte und Bedenken zu überwinden.
Später erklärten mir Bauern freimütig, dass sie sich dieser Entwicklung nicht
so hartnäckig widersetzt hätten, wenn ihnen Vorteile und Erleichterungen einer
genossenschaftlichen Landwirtschaft bekannt gewesen wären. Sie konnten nun
erstmalig in ihrem bäuerlichen Leben auch in Spitzenzeiten Urlaub mit der
Familie machen, hatten eine normale Arbeitszeit und profitierten von der
genossenschaftlichen Großraumwirtschaft. Da die meisten Landwirte hohe
fachliche Kenntnisse hatten, konnten sie als Vorsitzende, Brigadiere
und Fachspezialisten eingesetzt werden und waren dadurch auch finanziell gut
gestellt. Töchter und Söhne der LPG-Mitglieder besuchten landwirtschaftliche
Hoch- und Fachschulen und stärkten als Diplom-Agronomen, Tierärzte oder mit
anderweitigen qualifizierten Kenntnissen die landwirtschaftlichen Großbetriebe.
Aber
auch die wenigen Einzelbauern, die absolut nicht in die LPG eintreten wollten,
wurden deshalb nicht vorsätzlich benachteiligt. Auch deren Kinder machten von
den vorteilhaften Bildungsmöglichkeiten Gebrauch und wendeten sich dann dem
landwirtschaftlichen Bereich zu.
Im
Jahre 1962 bekam ich den Auftrag, als stellvertretender Leiter der Abteilung
III – Sicherung der Volkswirtschaft – zu arbeiten. Nunmehr war ich für die
Absicherung der Landwirtschaft sowie für alle anderen Objekte, die mit der
Landwirtschaft verbunden waren, verantwortlich. Das waren u. a. die Abteilung
Landwirtschaft beim Rat des Bezirkes, das Tiergesundheitsamt und ähnliche
Einrichtungen.
Zu
jener Zeit häuften sich Hinweise, dass Experten, Fachleute solcher
Einrichtungen für eine Tätigkeit in der BRD abgeworben werden sollten. Es galt
dringend, solche Absichten zu verhindern. Mit einigen von ihnen wurden unter
Einbeziehung ihrer Vorgesetzten offensive Aussprachen über ihre Perspektiven in
der DDR geführt, wobei sie ihre Absichten, in den Westen zu gehen, oft offen
legten. Nicht alle Abwerbungsversuche waren zu unterbinden. Die an einer
Tätigkeit im Westen interessierten Personen oder Partner setzten sich vielfach
mit aus der BRD bzw. Westberlin tätigen Schleuser-Organisationen in Verbindung,
die ein illegales Verlassen der DDR organisierten. Diese Leute waren
keinesfalls Fluchthelfer, sondern, auch nach heutigem Recht, kriminelle
Schleuser.
Infolge
des zunehmenden Auftretens von Schäden in der Landwirtschaft wurde innerhalb
der Abteilung Sicherung der Volkswirtschaft die Arbeitsgruppe »Brände und
Störungen« (BuS) geschaffen, deren Mitarbeiter auf
diesem Gebiet entsprechend geschult und qualifiziert wurden. Solche besonderen
Vorkommnisse, die auf gezieltes Handeln hinwiesen, waren insbesondere an
Feiertagen, wie zum Beispiel rund um den 1. Mai, zu verzeichnen. Durch die AG BuS konnte ein Großteil der Störungen und
Schadensverursachung aufgeklärt und die Täter überführt werden. Vorbeugend
gegen Störungen wurden die Ordnung erhöht und Verantwortlichkeiten festgelegt.
Im
Jahre 1965 setzte der Chef der BV mich als Leiter der neu geschaffenen
Diensteinheit »Anleitung und Kontrolle« ein. Mein unmittelbarer Vorgesetzter
war zwar der Leiter der BV, die Zusammenarbeit mit seinen beiden
Stellvertretern war aber ebenso notwendig. In dieser Funktion lernte ich alle
im Bezirk tätigen Kreis- und Objektdienststellen eingehender als bis dahin
kennen. Ich gewann einen Überblick über die Situation an der Basis. Zu meinen
Aufgaben gehörte auch, eine Statistik über die Arbeitsergebnisse zu führen
sowie die Lageanalyse des Bezirkes zu kennen und auszuwerten, um Leitervorlagen
zu erarbeiten.
In
dieser Zeit bekamen wir zuverlässige Hinweise darauf, dass bei Kriegsende Personen
aus dem Bezirk Halle Guthaben und wertvolle Gegenstände zurückgelassen und
versteckt hatten. So wurde bei einem Bauern in einem zugemauerten
Kellerversteck tausende Flaschen hochwertiger Spirituosen und Weine gefunden.
Wie sich herausstellte, gehörte dieser Fund einem nach den Westen gegangenen
Fabrikbesitzer, der mit dem Bauern befreundet war.
Von
der Regierung wurde für alle staatlichen Organe die »Aktion Licht« angeordnet.
Diese Maßnahme beinhaltete, dass alle durch ehemalige faschistische Institutionen
oder Einzelpersonen versteckten materiellen und geistigen Werte in das Eigentum
der DDR zu überführen sind. Eine Reihe Materialien sowie Schriftgut von
besonderem Wert konnte gefunden und sichergestellt werden. Viele Gegenstände
waren aber bereits im Westen.
Eines
Tages erhielt eine Kreisdienststelle des MfS die Information, dass in Dessau in
einem durch Bomben beschädigten Kellerraum ein Panzerschrank, gekennzeichnet
mit »II«, entdeckt worden sei. Nach dem Öffnen des Schrankes fand man
zahlreiche Schmuckgegenstände aus Gold und Edelsteine sowie ein
Inventarverzeichnis. Es handelte sich um den Schmuck der Zarin von Russland,
Katharina II., die in Zerbst aufgewachsen war. Der Prinzessinnen-Schmuck war
zum Schutz vor Bombenangriffen nach Dessau ausgelagert worden. Dem erwähnten
Inventarverzeichnis war zu entnehmen, dass irgendwo noch ein zweiter Tresor
vorhanden sein müsste. Nun begann die Suche nach dem Panzerschrank »I«.
Eine
Arbeitsgruppe der Volkspolizei und der MfS-Bezirksverwaltung ermittelte folgendes:
Nach Angaben von Verwaltungsangestellten aus Dessau war Anfang der 50er Jahre
der fragliche Panzerschrank zu einer Firma nach Halle transportiert worden, die
sich mit dem Bau und dem Transport von Panzerschränken beschäftigte. Dort lag
ein Protokoll vor, wonach zwei Arbeiter den Schrank öffneten und ihn leer vor
fanden. Das stand im Widerspruch zu der Inventarliste im von uns gefundenen
Schrank. Ermittlungen ergaben, dass beide Arbeiter in außergewöhnlich
vorteilhaften materiellen Verhältnissen lebten. Beide hatten sich ein Haus
gebaut, besaßen neue Autos und die Familien gaben unverhältnismäßig viel Geld
aus. Das waren dringende Verdachtsgründe, die dem zuständigen Staatsanwalt
reichten, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Das Untersuchungsorgan des
MfS bearbeitete diesen Vorgang. Die Arbeiter gestanden angesichts der
Beweislage, dass sie sämtliche vorgefundenen Schmuck -und Wertgegenstände
entnommen und unterschlagen hatten. Bei einer Hausdurchsuchung wurden
eingeschmolzenes Gold und Edelsteine sichergestellt. Zum Verbleib der
Wertsachen sagten sie aus, in Halle einen Goldschmied aufgesucht und
verschiedene Wertgegenstände zum Kauf angeboten zu haben. Nach erfolgter
Wertprüfung durch den Goldschmied erhielten die Arbeiter einen größeren Geldbetrag.
Im Verlaufe der Zeit boten sie weitere Stücke an.
Eines
Tages teilte der Geschäftsmann den Verkäufern mit, dass sich ein Westdeutscher
angemeldet habe, der am Kauf von Schmuck aus dieser Beute interessiert sei. Um
an Westgeld zu gelangen, sollten sie den Rest von Schmuck und Edelsteinen
übergeben, damit deren Wert festgestellt und an den Westdeutschen verkauft
werden könne. Das geschah auch so. Weil sich aber der Goldschmied nicht wieder
von sich aus, wie vereinbart, meldete, suchten sie ihn nach einigen Tagen auf.
Sie trafen ihn jedoch nicht mehr an, sondern mussten feststellen, dass er sich
mit Familie samt ausgehändigten Wert- und Schmucksachen über Nacht nach dem
Westen abgesetzt hatte. So waren aus den Dieben zusätzlich Betrogene geworden.
Der
BV-Chef hatte infolge seines früheren Kampfes in den Reihen sowjetischer
Partisanen gegen die deutschen Faschisten eine angegriffene Gesundheit. Er
verschwieg seine Erkrankung seinen Stellvertretern und zog mich dafür ins
Vertrauen. Meine Situation gestaltete sich dadurch sehr ungünstig gegenüber den
Stellvertretern, weil ich mich an das Wort meines Leiters gebunden fühlte,
dessen Krankheit zu verheimlichen.
Nachdem
der zweite Stellvertreter nach schwerer Krankheit verstorben war, übernahm ich
quasi dessen Verantwortungsbereich und immer häufiger auch die Aufgaben des
abwesenden Leiters der Bezirksverwaltung. Nachdem der 1. Stellvertreter in die
MfS-Zentrale nach Berlin versetzt worden war, wurde mir diese Funktion
übertragen. Damit war ich verantwortlich für die Abteilung III (später
Abteilung XVIII und Abteilung XX (Absicherung des Staatsapparates und Sicherung
der Beziehungen zu den Kirchen und für die Bekämpfung von Versuchen politischer
Untergrundtätigkeit). Zugleich war ich verantwortlich für die Organisation des
Geheimnisschutzes im Bezirk. Darüber hinaus amtierte ich als Leiter der BV,
wenn dieser durch Krankheit, Urlaub oder bei Dienstberatungen in der Zentrale
nicht anwesend sein konnte. Natürlich schuf das Probleme, zumal die mir nun
unterstellten Leiter ehemals meine Vorgesetzten waren. Aber ich setzte mich
durch. In dieser Funktion, die viel mehr Entscheidungen über Grundfragen
abverlangte und Mitsprache einräumte bei der neu geschaffenen »Kollektiven
Beratung« beim Leiter der BV musste ich mich erst eingewöhnen.
Unmittelbar
nach Übernahme meiner Tätigkeit als Stellvertreter Operativ wurde ich zum
Stellvertretenden Minister, General Fritz Schröter, nach Berlin befohlen. Er
wollte mich näher kennenlernen und erwartete von mir eine Einschätzung der
politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich Halle. Darauf war ich aber
nicht vorbereitet, habe ganz allgemein die Lage eingeschätzt, wie ich sie in
meiner Funktion als Leiter der Abteilung »Anleitung und Kontrolle« kannte. Ich
zog aber daraus die Schlussfolgerung, dass mir immer eine Lageeinschätzung
möglich sein muss, wenn ich zu meinen Vorgesetzten befohlen werde. Später wurde
das zur Selbstverständlichkeit, weil man als Leiter ohnehin immer »in der Lage«
leben muss.
General
Schröter kritisierte, dass von der BV Halle kein Maßnahmeplan
zur Absicherung der bevorstehenden Radfernfahrt für den Frieden durch die DDR,
die CSSR und die Volksrepublik Polen vorlag, die durch Orte des Bezirkes
rollte. Meine Erwiderung, dass ich den Plan für die Sicherungsmaßnahmen der
Volkspolizei kenne, ließ General Schröder nicht gelten. Er belehrte mich, dass
es kein wichtiges Ereignis im Bezirk geben dürfe, zu dem das MfS keinen eigenen
Maßnahmeplan erstellt habe. Wichtig seien alle
Ereignisse im Bezirk, die der Durchsetzung der Politik der SED und der
Regierung dienten und durch die viele Menschen angesprochen würden. Das waren
Messen, große Sportveranstaltungen, Staatsbesuche, Eröffnung von besonderen
Bauwerken und so weiter. Später, als ich als Leiter der BV Minister Mielke unmittelbar
unterstellt war, erkannte ich die Nützlichkeit des Gesprächs mit General
Schröder. Es gehörte zu einem der grundsätzlichen Arbeitsprinzipien des
Ministers, dass es im jeweiligen Verantwortungsbereich keine Zwischenfälle
geben darf, die voraussehbar gewesen wären. Egal, ob es sich um Feindtätigkeit
oder nur um Fahrlässigkeit handelt.
So
wurde die Leistungsfähigkeit der operativen Diensteinheiten weniger daran gemessen,
wie viel Feinde erkannt und festgenommen wurden, sondern welches tatsächliches
Ergebnis die vorbeugende Arbeit erbracht hat, wenn also gemeldet werden konnte,
es gab keine relevanten operativen Vorkommnisse. Natürlich durfte niemals die
Suche nach dem Feind und dessen Identität, also nach Spionen, Saboteuren und
anderen Personen, die in Feindabsicht handelten, vernachlässigt werden. Das
stand im Mittelpunkt der operativen Arbeit aller Diensteinheiten, denn es gab
reichliche Erkenntnisse über das Wirken der NATO-Geheimdienste. Von der BRD und
Westberlin aus operierten mehr als 80 Geheimdienste und Feindorganisationen,
einschließlich der Schleuser-Organisationen, gegen die DDR.
Im
Wissen um die Bedeutung der Volkswirtschaft für die DDR konzentrierte ich mich
in meiner Führungstätigkeit auf die industrielle Produktion sowie auf das Verkehrswesen.
Die
Anleitung der Abteilung XX der BV richtete sich auf die Lage in den staatlichen
Verwaltungen, die Zusammenarbeit mit der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI),
die regelmäßige Kontrolle in den Verwaltungen, des Handels und anderen
wichtigen Bereichen. Die dort erarbeiteten Ergebnisse waren für die
Gesamteinschätzung im Bezirk von Bedeutung. Es gab die Erscheinung, dass der
DDR negativ gegenüberstehende Kräfte in verschiedenen Kirchenleitungen der
evangelischen Kirche untergekrochen waren und so das Dach der Kirche als Schutz
für feindliche Aktivitäten missbrauchten.
Im
Sommer 1968 war es zu konterrevolutionären Aktionen in der CSSR gekommen.
Verbände der Armeen der Warschauer Vertragsstaaten – mit Ausnahme der DDR –
unterbanden solche Handlungen. Während dieser Zeit befand sich die BV in
erhöhter Einsatzbereitschaft, denn mit antisozialistischen Aktionen konnte
gerechnet werden. Aber es kam zu keinen nennenswerten Aktionen
sozialismusfeindlicher Kräfte. Vereinzelt wurden Losungen an die Häuserwände
geschmiert und Plakate angebracht, was aber ohne Wirkung blieb.
In
Vertretung des amtierenden Leiters der BV bekam ich es zwangsläufig auch mit
solchen Diensteinheiten zu tun, die dem Leiter direkt unterstellt waren. Dazu
gehörte die strafprozessuale Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung, die,
wie auch eine Untersuchungshaftanstalt, im so genannten »Roten Ochsen«,
untergebracht war.
Weiterhin
musste ich vertretungsweise die Kontrolle und Anleitung der gen Westen
gerichteten Aufklärungsabteilung, der Abteilung XV, übernehmen. Unsicherheiten
gab es bei mir in Bezug auf die Abteilung Kader und Schulung, die für die
Kaderarbeit und Bildung der Mitarbeiter verantwortlich war. Dazu gehörte auch
die Anleitung der einzelnen Diensteinheiten, um einheitliche Kader- und
Schulungsarbeit in allen Diensteinheiten durchzusetzen. Mein Vorgänger wurde
1971 als Delegierter zum VIII. Parteitag der SED gewählt. Nach seiner Rückkehr
machte er eine kurze Auswertung und ich musste wiederum bis November des Jahres
die BV kommissarisch leiten. Viel Zeit brauchte ich zum Studium der
Materialien, der Reden und Beschlüsse dieses Parteitages. Doch es war
notwendig, weil überall im Land, auch im MfS, im Sinne der Parteitagsbeschlüsse
zu arbeiten war. Dazu gab es ausdrückliche Orientierungen an alle Leiter der
Diensteinheiten durch Erich Mielke, der seit 1971 Kandidat und seit 1976
Mitglied des Politbüros der SED war. In dieser Zeit nahm ich ein Fernstudium an
der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche auf, das ich mit guten
Ergebnissen als Diplom-Jurist abschließen konnte.
Als
Leiter der Bezirksverwaltung Halle des MfS
In
der zweiten Hälfte des Jahres 1971 nahm der Leiter der BV Halle seinen Dienst
aus gesundheitlichen Gründen nicht wieder auf. Ich wurde von Minister Mielke
mit der kommissarischen Leitung der BV beauftragt. Gleichzeitig erfolgte durch
den Nationalen Verteidigungsrat (NVR), der seit 1958 existierte, meine
Einstufung als Nomenklaturkader, und Ende des Jahres
wurde ich vom NVR zum Leiter der Bezirksverwaltung Halle des MfS ernannt. Auf
Antrag des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung wurde ich in die Bezirksleitung
kooptiert und bei der nächsten Wahl 1974 als Leitungsmitglied gewählt.
Als
mich nach 1990 Journalisten aus der BRD über das Verhältnis der SED mit dem MfS
befragten, spürte ich deren feindselige Voreingenommenheit und ihr fehlendes
Wissen zu dieser Problematik. Sie waren voller Hass und an informativen
Auskünften gar nicht interessiert. Sie ließen sich vom Irrglauben leiten, das
MfS hätte sich in einer übergeordneten Position zur SED befunden, unterwandert
von Inoffiziellen Mitarbeitern, um die Linie des MfS durchzusetzen. Sie waren
nicht zu belehren. Man kann im Grunde genommen solche Urteile nicht ernst
nehmen, weil man die Regimeverhältnisse in der DDR und die Rolle der führenden
Partei nicht zur Kenntnis nehmen will. Wer sich so verhält, dem steht seine
eigene Voreingenommenheit im Wege.
Die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands war entsprechend der Verfassung der
DDR die führende Kraft. Sie legte die Ziele und den Weg wie auch die Maßnahmen
zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung fest. Durch die
Volkskammer, den Nationalen Verteidigungsrat und andere Gremien wurden solche
Festlegungen in gesetzliche und andere rechtsstaatliche Normen gefasst. Diese
waren auch für das MfS bindend. Die Führung der SED betraf alle
gesellschaftlichen Bereiche. Kein Sekretär einer gewählten SED-Leitung hätte
zugelassen, wenn im Zuständigkeitsbereich vom MfS die Parteibeschlüsse
missachtet worden wären. Prioritäten standen in jeder Hinsicht der SED zu.
Natürlich
erhielt der jeweils 1. Sekretär keinen Einblick in Sachverhalte, die der
Geheimhaltung unterlagen, zum Beispiel laufende operative Maßnahmen oder die
Namen der Inoffiziellen Mitarbeiter. Aber die Hauptrichtung der operativen
Arbeit entsprach grundsätzlich den Beschlüssen der unterschiedlichen
Parteiebenen, und das hieß führende Rolle der Partei. Die Leitungen der
MfS-Diensteinheiten waren verpflichtet, die jeweiligen 1. Sekretäre ständig über
die Sicherheitslage im Territorium zu informieren.
Das
Verhältnis zwischen den Leitern der Diensteinheiten und den 1. Sekretären war
insgesamt gut. Das hing auch davon ab, wie der Leiter der Diensteinheit
Vertrauen erlangte und wie sorgfältig er die politisch-operative Lage
beherrschte. Ich lernte während meiner Tätigkeit als Leiter der
Bezirksverwaltung drei 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitung Halle kennen. Das
waren nacheinander Horst Sindermann, Werner Felfe und in den 80er Jahren Joachim Böhme. Mit allen hatte
ich ein sauberes, vertrauensvolles Parteiverhältnis. Meine Meinung war gefragt
und meine Lageeinschätzungen wurden ernst genommen.
Als
Leiter der BV, aber auch schon als amtierender Stellvertreter, bemerkte ich,
dass einige Leiter und deren Stellvertreter, insbesondere von
Kreisdienststellen, den immer komplizierter werdenden operativen Aufgaben nicht
mehr gewachsen waren. Oft fehlten ihnen Rechtskenntnisse bzw. die Fähigkeit, von diesen in konkreten Situationen
Gebrauch zu machen. Die dadurch entstehenden subjektiven Entscheidungen konnten
das Verhältnis zur Bevölkerung beeinträchtigen. Einige Leiter erkannten ihre
Leistungsschwäche und baten mich, sie von ihren Aufgaben zu entbinden. Sie
fühlten sich, auch aus gesundheitlichen Gründen, überfordert.
Meine
Aufgabe als Leiter der BV bestand folglich auch darin, solche Leiter zu finden
und einzusetzen, die befähigt waren, die z. T. immer komplizierter werdenden
fachlichen und politischen Aufgaben zu lösen. Ich musste mit Bedacht an diese
Aufgabe herangehen, denn nicht alle wollten Zwänge einer personellen
Veränderung verstehen. Handelte es sich doch oftmals um im antifaschistischen
Kampf bewährte Genossen, die sich mit aller Kraft dem Aufbau antifaschistischer
Sicherheitsorgane zur Verfügung stellten und dabei viele persönliche Opfer
gebracht hatten. Inzwischen waren junge Kader herangewachsen, die Hochschulen
und Universitäten absolviert hatten und über einen beachtlichen Bildungsstand
verfügten. Sie standen praktisch in allen Diensteinheiten zur Verfügung und
waren oftmals ihren Vorgesetzten an Leistungsfähigkeit und Entscheidungsfreude
überlegen. Solche gut ausgebildeten Kräfte konnten nach und nach auch als
mittlere leitende Kader (Arbeitsgruppen- und Referatsleiter) eingesetzt werden.
Anspruchsvolle Maßstäbe setzte ich vor allem an Leiter und Mitarbeiter, die
unmittelbar mit der Bevölkerung Kontakt hatten, wie Mitarbeiter der
Untersuchungsabteilung oder Ermittler. Unwohl fühlte ich mich bei
Kaderentscheidungen, die sich in der Praxis nicht bewährten und von mir
Korrekturen verlangten. Das hatte nicht nur negative Auswirkungen für die
betreffenden Kader selbst, sondern es wirkte sich auch auf das
Arbeitskollektiv, das Arbeitsklima nachteilig aus.
Als
BV-Leiter gehörte ich auch der Bezirkseinsatzleitung (BEL) an. Diese unterstand
direkt dem Nationalen Verteidigungsrat. Einer BEL, die dem jeweiligen 1.
Sekretär der Bezirksleitung der SED unterstand, gehörten die Chefs bzw. Leiter
der bewaffneten Organe des jeweiligen Bezirkes an. So der Vorsitzende des Rates
des Bezirkes in seiner Eigenschaft als Leiter der Zivilverteidigung, der Chef
der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, der auch für die Ausbildung und
den Einsatz der »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« verantwortlich war, sowie der
Chef des Wehrbezirkskommando der Nationalen Volksarmee. Die BEL wurde in ihren
Sitzungen durch deren Mitglieder ständig über die politisch-operative Situation
in Halle informiert. Sie tagte jährlich vier bis fünf Mal und behandelte
regelmäßig Maßnahmen, die sich in Spannungsperioden oder im Vorfeld eines
Krieges erforderlich machen könnten. Das waren im Allgemeinen rein theoretische
Überlegungen.
Die
Arbeit der Einsatzleitung orientierte sich an denkbaren Möglichkeiten und
Bedingungen eines NATO-Angriffes, an den Plänen der NATO-Streitkräfte, die den
Aufklärungsorganen der NVA mit ihren spezifischen Diensten und dem MfS bekannt
waren. Zum Beispiel, welche Ziele die NATO für Atomwaffen vorgesehen hat oder
welche Aufgaben die aus der Luft abgesetzten Aufklärungstrupps der NATO haben.
Mir
oblag in diesem Zusammenhang die Aufgabe, im militärischen Spannungszustand die
Sicherheitslage im Bezirk festzustellen und die BEL darüber zu informieren. Das
betraf zum Beispiel die angenommene subversive Tätigkeit von feindlichen Luftlandeeinheiten.
Dazu gehörte, sich einen Überblick zu Personen zu beschaffen, von denen in
militärischen Spannungszeiten oder im Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit
Feindhandlungen zu erwarten wären. Das betraf immer nur Einzelpersonen, keine
vorherbestimmten Kategorien von Personen. Das betraf auch Personen, die wegen
Mord, Totschlag, Raub und anderen Gewaltverbrechen inhaftiert gewesen waren und
von denen in den benannten Spannungszeiten hätten Gefahren ausgehen können.
Natürlich wurden auch Personen erfasst, von denen wir schon wussten, dass sie
als Spione oder für andere Aufgaben staatsfeindliche Verbindungen unterhielten.
Die für diese besonderen Lagebedingungen geplanten Maßnahmen waren
differenziert. Für manche war nur eine kurze Verwahrzeit, für andere eine
längere Zeit der Kontrolle vorgesehen. Wichtig war, jene Personen zu erkennen,
von denen in Spannungszeiten eine Gefahr für Verteidigungsfähigkeit und
Sicherheit der DDR ausgehen konnten.
In
einer meiner Vernehmungen wurde ich 1990 von absolut ahnungslosen Vertretern
der neuen Macht gefragt, warum 1989 Bezirkseinsatzleitungen gebildet und welche
Maßnahmen gegen die Bevölkerung geplant worden wären. Auch eine in
militärischen Dingen unerfahrene Person kann wissen, das militärische
Einsatzleitungen in erster Linie Entscheidungen zur Landesverteidigung gegen
einen Aggressor zu treffen haben. Die Auskunft erheischenden Personen wussten
aber überhaupt nicht, dass solche Einsatzleitungen bereits seit 1953 bestanden.
1989 wurde durch die Bezirkseinsatzleitung lediglich eine Einschätzung der
aktuellen Situation vorgenommen. Zu keiner Zeit wurden daraus Maßnahmen gegen
die DDR-Bevölkerung abgeleitet.
Als
Leiter der MfS-Bezirksverwaltung war mein Hauptpartner des Zusammenwirkens der
Chef der Deutschen Volkspolizei im Bezirk. Er war für die öffentliche Ordnung
und Sicherheit im Bezirk verantwortlich und daraus ergaben sich enge
Kooperationsbeziehungen und gemeinsam zu lösende Aufgaben. Ihm unterstand die
Kriminalpolizei und bei der Aufklärung von Bränden und Havarien und ähnlichen
Vorkommnissen war für erfolgreiches Arbeiten enges Zusammenwirken unabdingbar.
Jeden Morgen erhielt ich die Lagemeldung der Bezirksbehörde der Volkspolizei.
So konnte ich mir über die Schwerpunkte der polizeilichen Situation ein brauchbares
Bild machen und die zuständigen Diensteinheiten meines Verantwortungsbereiches
konkret informieren. Dieser tägliche Rapport der Volkspolizei bestand oft nur
aus zwei A4-Seiten. Es gab kaum schwere Kriminalität. Ein bis zwei
Tötungsverbrechen und andere Verbrechen der schweren Kriminalität im Jahr.
Überfälle waren äußerst selten, so dass sich die Konzentration der vorhandenen
Kräfte auf die rasche Vorkommnisklärung richten
konnte.
Als
BV-Leiter lernte ich Personen aus dem Politbüro der SED und verantwortliche
Funktionäre der anderen Parteien sowie gesellschaftlicher Organisationen
kennen. Ich konnte mit ihnen über Interna der DDR-Politik reden und gelangte so
zu Informationen, die ansonsten nur im kleinen Kreis von DDR-Funktionären zur
Sprache kam.
Eine
vertrauensvolle Zusammenarbeit gab es auch mit dem Vorsitzenden des Rates des
Bezirkes, also dem staatlichen Leiter des Bezirkes. Er war unter anderem für
die Versorgungslage der Bevölkerung zuständig, die häufig Anlass zur Kritik
gab. Außerdem unterstand ihm der Vorsitzende des Bezirkswirtschaftsrates, zu
dessen Verantwortungsbereich wiederum die bezirksgeleitete volkseigene
Industrie gehörte.
Hier
war die vorbeugende Tätigkeit von besonderer Bedeutung. Das betraf auch die
Versorgung der Bevölkerung mit Autos, Industriewaren, aber auch mit
Südfrüchten. Die auf diesem Feld nicht auszuräumenden Unzulänglichkeiten waren
die eigentlichen Ursachen für die wachsende Unzufriedenheit. Der Vorsitzende
des Rates des Bezirkes erhielt Informationen von uns über die Mängel und
Schwächen in verschiedenen Bereichen der staatlichen Tätigkeit und die daraus
entstehende Missstimmung. Aber auch der Ratsvorsitzende war an Pläne und
Vorgaben gebunden, die eine grundsätzliche Behebung der Mängel nicht zuließen.
Noch
öfters beriet die eingesetzte Arbeitsgruppe über die wachsende Zahl der
beantragten Übersiedlungswünsche nach der BRD von DDR-Bürgern. In
Zusammenarbeit mit dem Stellvertreter für Innere Angelegenheiten des
Vorsitzenden des Rates des Bezirkes wurde ständig beraten, wie die
Antragsteller, die oft falsche Übersiedlungsgründe angaben, zur Zurücknahme
bewegt werden könnten. Die Mitarbeiter der Abteilung Inneres haben vielen
Antragstellern geraten, ihren Antrag zurückzuziehen. Mit geringem Erfolg. Nach
1990 behaupteten manche, sie seien von der »Stasi« vernommen worden. Das ist
unwahr. In der Regel waren es Mitarbeiter der Abteilung Inneres. Die
Mitarbeiter des MfS wurden nur tätig, wenn die Antragstellung mit
Gewaltandrohung und anderen Delikten einherging.
Die
Zusammenarbeit mit dem Chef des Wehrbezirkskommandos der Nationalen Volksarmee
beschränkte sich im Wesentlichen auf theoretische Überlegungen zu Maßnahmen im
Falle einer militärische Spannungsperiode oder eines militärischen Angriffs.
Darüber hinaus wurde über die Gewinnung militärischer Nachwuchskader beraten.
Es gab eine Kommission, der auch MfS-Mitarbeiter angehörten, die prüften, ob
unter den Musterungskandidaten junge Männer waren, die den
Einstellungsbedingungen des MfS entsprachen.
Die
Chefs und Leiter der bewaffneten Organe führten die Aufgaben durch, die ihnen
vom Nationalen Verteidigungsrat der DDR sowie von der SED-Bezirksleitung
gestellt wurden. Ich hatte in erster Linie die Weisungen, Befehle und
Anordnungen des Ministers für Staatssicherheit auszuführen.
Notwendige
strafprozessuale, strafrechtliche Maßnahmen standen ausschließlich unter
verantwortlicher Aufsicht des zuständigen Staatsanwaltes. Bei
Ermittlungsverfahren, auch die vom Untersuchungsorgan des MfS geführten, oblag
dem zuständigen Staatsanwalt die Kontrollaufsicht. Diese Aufsicht erfolgte
entsprechend den Richtlinien des Generalstaatsanwaltes der DDR. Im
Ermittlungsverfahren waren die Staatsanwälte weisungsberechtigt. Es gab,
entgegen jetzigen Behauptungen, in diesem Bereich keine Inoffiziellen
Mitarbeiter oder eine inoffizielle Zusammenarbeit.
Ich
hatte als Leiter der BV die Aufgabe, mit den mir unterstellten Diensteinheiten
die Schwerpunkte im Bezirk Halle vorbeugend abzusichern, feindliche Angriffe
und negative Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Das war im Prinzip nichts
Neues für mich, aber nun musste ich Schwerpunkte und Aufgaben für den gesamten
Bezirk setzen. Die ständige aktuelle Analyse über erkannte oder mutmaßliche
innere und äußere Feindtätigkeit gehörte zu den Tagesaufgaben. Die Mitarbeiter
mussten in ihren Verantwortungsbereichen wissen, worauf zu achten war, das
heißt, von wem und warum Angriffe ausgehen konnten. Mögliche feindliche Kräfte
zu erkennen und neuralgische Schwerpunkte in wichtigen Bereichen im Bezirk
abzusichern waren Hauptaufgaben der Mitarbeiter des MfS.
In
den letzten 20 Jahren der DDR wurde immer deutlicher, dass die Angriffe der BRD
gegen die Souveränität der völkerrechtlich anerkannten DDR zunahmen, um diesen
Staat zu beseitigen. Ab Ende der 70er Jahre haben besonders in Westberlin
stationierte Geheimdienste und andere gegen die DDR tätige Institutionen wie
auch die gesamte Medienlandschaft ihre Aktivitäten zur Untergrabung und
Zerstörung der DDR intensiviert. Kein Land der Welt hätte einem solchen Treiben
tatenlos zusehen können. Die MfS-Dienststellen vermochten es, die Zentren der
ideologischen Diversion gegen die DDR, deren Ziele, Mittel und Methoden zu
erkennen und zu analysieren und die Wirkung dieser Maßnahmen einzuschätzen.
Darüber wurden regelmäßig das SED-Politbüro und andere verantwortliche SED-und
Staatsfunktionäre informiert. Leider ohne spürbare, aber immer dringender
werdende politische Reaktionen auf die im Sinne »Wandel durch Annäherung«
modifizierten Pläne der BRD. Für Kenner der Methoden ideologischer Subversion
war es unverständlich, wie zwischen SED und SPD gemeinsame ideologische
Standpunkte gesucht wurden, ohne feindliche Ideologien abzuwehren.
Die
MfS-Diensteinheiten waren nicht für die ideologische Arbeit im Lande
verantwortlich, aber die SED- und Staatsfunktionäre machten das MfS
verantwortlich, wenn dem Gegner ideologische Einbrüche gelangen. Zu jener Zeit
ging die SED- und Staatsführung von völlig falschen Voraussetzungen über die
Lage und Stimmung im Land aus. Die negativen Auswirkungen wollten nicht
wahrgenommen werden und unsere Hinweise blieben unbeachtet. Die mir
unterstellten Mitarbeiter brachten bei vielen Gelegenheiten zum Ausdruck, dass
sie keinen Sinn darin sehen würden, über Mängel und Schwächen der Gesellschaft,
über Sorgen und Wünsche der Bevölkerung zu berichten, wenn unsachgemäß oder
überhaupt nicht darauf reagiert und sich nichts ändern würde. Natürlich sind
heute die Dinge klarer erkennbar. Aber die dauerhafte Negierung der besorgten
Lageberichte musste sich negativ auf die Stimmung und das Bewusstsein der
Bevölkerung auswirken.
Wir
SED-Mitglieder wie auch andere politisch tätige Personen gingen in einem
grenzenlosen Vertrauen davon aus, dass immer gründlich geprüft wurde, inwieweit
eingeleitete Maßnahmen und vorgenommene Einschätzung sich in der Praxis als
richtig erwiesen haben oder ob Korrekturen in der Gesellschaftspolitik
notwendig sind. Offenkundig befanden wir uns im Irrtum.
Zur
Abwehr subversiver Angriffe im Bezirk Halle mit seinen großen chemischen
Kombinaten, den Betrieben des Maschinenbaus, der Lebensmittelindustrie und
nicht zuletzt der starken Landwirtschaft und den stationierten Truppenverbänden
befand ich mich in allererster und schwieriger Verantwortung. Nach
Erkenntnissen marxistischer Klassiker, Lenin, Marx, ist die
Arbeitsproduktivität der ausschlaggebende Faktor für den Sieg einer höheren
Gesellschaftsordnung. Insofern hatte die Absicherung der Volkswirtschaft mit
all ihren Verzweigungen, aber auch der Produktivkraft Wissenschaft und
Forschung höchste Priorität. Für mich war diese Aufgabe enorm wichtig und sie
verdiente es, alle Kräfte und Mittel hierfür einzusetzen. Dabei ging es in der
Abwehrarbeit niemals um irgendwelches Misstrauen gegen Personen wegen negativer
Bemerkungen. Es ging um Verhinderung und Aufdeckung von Spionage, Sabotage oder
aus staatsfeindlicher Grundhaltung begangener Straftaten, wie auch
verfassungsfeindlicher, also staatsfeindlicher Hetze. Die Gesinnung der
Bevölkerung konnten wir nicht beeinflussen, diese hing von den gesellschaftlichen
Bedingungen ab.
Viele
Ermittlungen durch uns wurden in Form von Sicherheitsüberprüfungen zu
Reisekadern in das kapitalistische Ausland geführt oder zu Personen, die sehr
bedeutsame Positionen in Staat und Gesellschaft einnehmen sollten. Das waren
vorbeugende Maßnahmen auch zur eigenen Sicherheit eines großen Personenkreises.
Aus gemachten Erfahrungen war uns bekannt, dass von Konzernen und selbst
staatlichen Stellen der BRD unter Ausnutzung von Reisekadern
wirtschaftsschädigende Angriffe und Handlungen zum Nachteil von DDR-Interessen
geführt wurden. Dabei konnte es sich zum Beispiel um das »Aufschwatzen« von
minderwertigen oder nicht dem zu erwartenden technologischen Standard
entsprechenden Anlagen oder anderweitigen Exportgütern handeln. Es wurde auch
durch Korruption und andere erpresserische Methoden Einfluss auf
Handelsbeziehungen genommen und Verrat von Wirtschaftsgeheimnissen verlangt. Es
galt also für das MfS, keine derartigen Störungen zuzulassen. Diese und andere
Angriffe mit Erfolg abzuwehren, bedurfte es der ständigen Kontrolle und Analyse
störungsanfälliger Schwerpunkte. Die Abwehrmaßnahmen mussten schwerpunktmäßig
dort erfolgen, wo bedeutsame Einrichtungen existierten und sensible
volkswirtschaftliche Prozesse abliefen. Dazu gehörte aber auch, gemeinsam mit
der Volkspolizei und Wirtschaftsstrukturen, mit dafür zu sorgen, Prinzipen der
Sicherheit und Ordnung umzusetzen.
Nun
wird nach 1990 durch Politik und Medien unaufhörlich behauptet, dass durch das
MfS alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens »flächendeckend« überwacht und
kontrolliert worden seien. Auch wenn derartiges in penetranter Weise wiederholt
und verbreitet wird, können solche Behauptungen nicht die höhere Weihe der
Wahrheit erlangen. »Flächendeckende Überwachung« war aus politisch-operativer
Sicht nicht erforderlich und aus personellen und technischen Gründen überhaupt
nicht möglich. Auf diese Problematik wird auch an anderer Stelle nochmals
einzugehen sein.
Eine
Vielzahl von Bürgern arbeitete in ehrenamtlichen Funktionen des Staates und
gesellschaftlichen Organisationen, in der Justiz, den Arbeiter- und
Bauern-Inspektionen, der Volkspolizei, in den Betriebskollektiven, in Beiräten
der Wohngebiete und Schulen und in vielen anderen Einrichtungen. Es war Teil
lebendiger sozialistischer Demokratie, demokratischer Selbstkontrolle und
gesellschaftlicher Mitgestaltung, wenn sich die Menschen an Beratungen in ihren
Betrieben und außerbetrieblichen Einrichtungen beteiligten. Auch aus diesen
Gegebenheiten waren die vorgeblichen »flächendeckenden Überwachungen« eine
völlig abwegiges Thema. Eine solche bewusste gesellschaftliche, freiwillige
Zusammenarbeit mit staatlichen und volkswirtschaftlichen Einrichtungen ist dem
bürgerlichen Staat fremd.
Ohne
Zweifel war die Politik der DDR verfassungskonform auf die stetige Verbesserung
der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen ausgerichtet. Dieser Gedanke
ist trotz der beschriebenen Mängel und Widersprüche und auch angesichts des
letztlichen Versagens der Führungs- und Leitungstätigkeit der SED- und
Staatsführung nicht falsch.
Es
blieb den Bürgern der DDR nicht verborgen, wie die BRD mit aller staatlichen
Präsenz und Autorität von Anfang an eine wüste Hetze gegen die DDR entfachte
und den Spionage- und feindlich gesinnten Organisationen großzügigste
Entfaltungsmöglichkeiten gewährte, wenn sie sich gegen die DDR richteten. Ich
wusste, dass es Menschen gab, die sich überall anpassen konnten, sowohl in der
DDR als auch in der BRD. Die »Übersiedlung« von Bewohnern der Ostzone, der
späteren DDR nach der BRD hielt die ganze Zeit an. Obwohl sie gesicherte
Arbeitsplätze hatten, im Gegensatz zu der Zeit nach 1990, wo sie auf der Suche
nach Arbeit ihre Heimat nach dem Westen verließen. Aus den Informationen über
die Lage in den Aufnahmelagern in Westberlin und Westdeutschland wusste ich,
dass einfache DDR-Bürger, die aus politischen Gründen weder verfolgt wurden
noch Verfolgung zu befürchten hatten, wahrheitswidrig vorgaben, dass sie wegen
Gefahr um Leib und Leben flüchten mussten. Solche verlogenen Argumente, sie
seien damals politisch Verfolgte gewesen, werden auch heute noch mit
Diffamierungsabsichten und in Erwartung finanzieller Entschädigungen oder einer
Opferrente vorgebracht.
Ich
kann aufgrund meiner Tätigkeit und funktionellen Pflichten mit bestem Gewissen
sagen, dass kaum jemand, der sich als politischer Flüchtling ausgab, zwingende
Gründe zum Verlassen der DDR hatte. Man benötigte aber solche Geschichten über
Verfolgung und Folterung durch die »Stasi« und riskante Flucht vor dem
»DDR-Terror«, um Gesetzesverletzungen und die kriminellen Handlungen von
Schleuserbanden zu rechtfertigen. Geschürte Fluchtdramen haben schon immer eine
Rolle gespielt, um Unruhen anzustiften und auszulösen. Die meisten DDR-Bürger,
die sich nach dem Westen als »Flüchtlinge« absetzten, waren Menschen, die man
als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen kann.
Eine
Tageszeitung aus Halle versuchte Aufmerksamkeit zu erzeugen durch einen Artikel
über »Stasi-IM« unter der Ärzteschaft in der DDR. Eine Historikerin stellte
eine Studie vor, wonach drei bis fünf Prozent der Ärzte IM des MfS gewesen sein
sollten. 439 Fälle sollen die Grundlage für die Analyse geboten haben.
In
solchen Veröffentlichungen spielen natürlich Bezeichnungen wie »Bespitzelung
von Berufskollegen«, »Zuträger« und »Ausforscher« eine herausgehobene Rolle.
Die »Spitzel« hätten sich überwiegend aus politischer Überzeugung anwerben
lassen. Hebel für das Ansprechen wäre Konkurrenzdenken unter den Ärzten
gewesen. Einige hätte das MfS auch erpresst. Die IM hätten Informationen über
Kollegen und Patienten geliefert und einige sollen die ärztliche
Schweigepflicht verletzt haben. Das MfS sei an frühzeitige Hinweise zu
fluchtwilligen Ärzten interessiert gewesen. Von Opfern wurde gesprochen, von
ethischen Fehlverhalten und von fehlender Reue bei MfS-Mitarbeitern. So
»informierte« die Mitteldeutsche Zeitung.
Das
MfS hat seine Abwehrarbeit tatsächlich auch aus Sorge um eine ausreichende
ärztliche Betreuung der Bevölkerung auf das Gesundheitswesen ausdehnen müssen.
Zur Lösung dieser Aufgabe wurden auch IM geworben. Die Frage ist wohl erlaubt,
ob es moralisch vertretbar ist, wenn Ärzte, die in und auf Kosten der DDR eine
Ausbildung erhielten, ihres eigenen egoistischen Vorteils wegen ihre Patienten
im Stich und sich nach der BRD ausschleusen lassen? Diesem Treiben konnte man
nicht tatenlos zusehen. Auch für Ärzte galten gesetzliche Regelungen
hinsichtlich ihrer Staatsbürgerschaft und der Ausreisebestimmungen.
Mit
der Existenz der DDR wollte sich die BRD niemals abfinden. Unter den Bedingungen
des kalten Krieges bediente man sich der Erpressung, der Einmischung und
demagogischen Verführung zur Missachtung von Straftatbeständen und gesetzlichen
Reglungen.
Dazu
gehörte auch die Duldung und Organisierung einer Fluchtbewegung mit dem Ziel,
die DDR zu schädigen und völkerrechtlich zu diffamieren. Ab 1962 organisierten
sich kriminelle Banden in Westberlin und der BRD, die mit wohlwollender Duldung
der BRD-Behörden mittels speziell präparierten und umgerüsteten
Transportmitteln gewerbsmäßig DDR-Bürger für horrende Summen nach der BRD
ausschleusten. Dabei wurden geheimdienstliche Mittel und Methoden eingesetzt.
Mittels Qualifizierung der Zollkontrollen und Fahndungen und dem Einsatz
inoffizieller Kräfte konnten zahlreiche Schleuser und Gehilfen der kriminellen
Menschenhändler festgenommen werden. Auch mit Hilfe von IM im
medizinischen Bereich. Außer den professionellen Schleuserbanden beteiligten
sich auch Diplomaten und diplomatisches Personal verschiedener kapitalistischer
Staaten unter Ausnutzung ihres Diplomatenstatus an der illegalen Verbringung
fluchtwilliger DDR-Bürger nach dem Westen. Auch die in Westberlin stationierten
Angehörigen der US-Armee, deren Fahrzeuge bei der Grenzpassage nicht
kontrolliert werden durften, nahmen Personen auf der Transitstrecke auf und
brachten sie nach Westberlin. Mit welchen Begründungen solche Handlungen
heutzutage auch gerechtfertigt werden sollen, es waren und bleiben Verstöße
gegen existierende Gesetze der DDR.
Im
Rahmen des Vierseitigen Abkommens zwischen der UdSSR, Großbritannien, den USA
und Frankreich vom 3. September 1971 einigten sich die DDR und die BRD am 17.
Dezember 1971 auf ein Transitabkommen. Es regelte den Transitverkehr ziviler
Personen und Güter auf Straße, Schienen und Wasserwegen zwischen der BRD und
Westberlin durch das Staatsgebiet der DDR. Der Missbrauch des Transitverkehrs
zur Ausschleusung eskalierte. Die Schleuserbanden suchten fortwährend nach
Lücken und Möglichkeiten im Transitverkehr zur Ausschleusung von Personen.
Kriminelle Menschenhändler fälschten zum Beispiel Pässe und übergaben sie für
horrende Summen an schleusungswillige DDR-Bürger. Den Chefs der kriminellen
Schleuserbanden ging es nicht, wie heute behauptet, um humanitäre Hilfe für
»unfreie Bürger« der DDR. Es waren kommerzielle Firmen, die von
Schleusungswilligen hohe Summen verlangten, aber den Bandenmitgliedern, oft
Vorbestrafte oder Drogensüchtige, das beträchtliche Risiko ihrer Festnahme und
langer Haftstrafen zumuteten. Die Bosse dieser Banden hielten sich aus gutem Grunde
im Hintergrund. Die Duldung dieser Tätigkeit durch staatliche Organe der BRD
und Westberlin war ihnen gewiss. Nach Festlegungen des Transitabkommens und
auch nach geltendem Recht der BRD hätte gegen dieses Treiben polizeilich und
staatsanwaltlich ermittelt werden müssen. § 129 des Strafgesetzbuches der BRD
begründet beispielsweise den Verdacht bandenmäßigen Vorgehens, wenn kriminelle
Vereinigungen existieren, deren Hauptzweck krimineller Gelderwerb durch
Menschenhandel ist. Die Beweisführung der Gerichte der DDR in zahlreichen
Verfahren gegen Menschenhändler bestätigte diesen Verdacht.
Die
vorbeugende Verhinderung von Schleusungsvorhaben war zu einer der Hauptaufgaben
aller Diensteinheiten des MfS geworden. Die Abwehrarbeit konzentrierte sich auf
Personen, die auf Grund ihrer Ausbildung, ihrer beruflichen und politischen
Stellung zu den potentiellen Zielgruppen der Abwerbungsversuche gehörten.
Dieser Personenkreis war überschaubar. Vorzugweise handelte es sich um
Akademiker, Ärzte, Spezialisten und Fachleute, an denen die BRD Interesse
zeigte. Meist standen Verwandte und Bekannte in der BRD dahinter, die
entstehende Kostenforderungen durch Anzahlungen verauslagten und sich in die
konspirative Organisierung des Fluchtvorhabens mit zur Verfügung stellten. Eine
Zeitung in Westberlin schrieb einst hierzu, dass sich ein krimineller
Wirtschaftszweig zu entwickeln begann, der daraus Geschäfte machte. Dieser
Menschenhandel wisse die offizielle Politik und die Medien hinter sich, auch
Geheimdienste hätten zunehmend ihre Finger im Spiel, schließlich sei der
Menschenhandel eine Waffe im kalten Krieg. Und ein Staatsanwalt stellte 1977 in
einer Westberliner Zeitung lakonisch fest: »Was heißt hier Fluchthelfer? Die
wollen doch nicht helfen, sondern Kapital machen. Die DDR hat schon recht, wenn
sie diese Herren Kriminelle nennt …« Solchen Worten und Urteilen ist nichts
hinzuzufügen!
Ausschleusung
und Menschenhandel wurde unter Anwendung geheimdienstlicher Mittel und Methoden
getarnt organisiert. Nach dem »Tippen« von mutmaßlichen schleusungswilligen
Kandidaten erfolgte die verdeckte Verbindungsaufnahme durch einen als Besucher
getarnten Mitarbeiter der Schleuserbande oder über einen Verwandten oder
Bekannten, der meist ebenfalls die DDR verlassen hatte. Lag das Einverständnis
der illegal zu verbringenden Person vor und einigte man sich über den Preis,
wurden der Termin, der Treffpunkt und das Erkennungszeichen übermittelt. Der
Schleuser reiste meist im Transitverkehr ein und nahm die betreffende Person
entsprechend des vereinbarten Modus auf. Die Fahrzeuge waren entsprechend
vorbereitet und präpariert. Es gab auch die Methode des »Bleibers«.
Ein Mitglied der Schleuserbande reiste mit seinen echten Personaldokumenten ein
und händigte sie dem zu schleusenden DDR-Bürger aus. Gegenüber den
DDR-Passkontrolleuren an der Grenzübergangsstelle wurde mit einer erlogenen
Geschichte – meist wurde Diebstahl vorgebracht – der Verlust seines
Ausweisdokuments erklärt.
In
diesem Zusammenhang noch einmal zum Thema Ärzte der DDR. Ihnen wurde bezüglich
ihrer Ausbildung und Fähigkeiten international ein gutes Zeugnis ausgestellt.
Ihre berufliche Ausbildung hatte Staat und Gesellschaft in der DDR viel Geld
gekostet. Zudem wurden sie für die medizinische Versorgung der Bevölkerung
dringend gebraucht. Jede gelungene Schleusung oder jedes ungesetzliche
Verlassen schadete der DDR und den Menschen in unserem Lande empfindlich. Als
gewollter Nebeneffekt wurde mit der gelungenen Abwerbung solcher Spezialisten
zugleich das internationale Ansehen der DDR diskreditiert. Für die BRD war es
allerdings in jeder Hinsicht ein willkommener Vorteil. Eine solche Sicht war
wohl auch das entscheidende Motiv für eine freiwillige Zusammenarbeit mancher
Ärzte mit dem MfS.
Ein
Beispiel soll hier eingefügt werden: Ein Bürger einer Kreisstadt war illegal in
die BRD gelangt. Dort setzte er sich mit einer Menschenhändlerbande in
Verbindung und sicherte zu, ihm persönlich bekannte Ärzte in der DDR zu
kontaktieren, sie zum Übertritt in die BRD zu inspirieren und die Flucht zu
organisieren. Mit diesem Ziel setzte er sich mit dreizehn Ärzten in Verbindung.
Sie wurden von ihm über mögliche Arbeitsstellen, Verdienstmöglichkeiten wie
auch über die Ausschleusungsmethode und die finanziellen Bedingungen
informiert. Fünf der angesprochenen Ärzte erklärten sich bereit und wurden
daraufhin mit ihren Familien ausgeschleust.
Dass
sie ihre Patienten im Stich ließen, obwohl sie der DDR ihre fast kostenlose
Ausbildung zu verdanken hatten, ist doch wohl auch heute noch als eine
unmoralische, dem ärztlichen Eid widersprechende Haltung zu werten.
Die
Anzahl der Ärzte, die verantwortungslos in ihren Entscheidungen die DDR
verließen, damit eben auch die medizinische Versorgung gefährdeten, ist nur der
»BStU- Behörde« bekannt. Waren es 500, 1000 oder noch
mehr?
Es
hat in der Politik der DDR gewiss ausreichend Irrtümer und Fehleinschätzungen
gegeben. Manche Entscheidungen in Wirtschaft und Politik waren schlichtweg
falsch. Da trifft Bert Brechts Zitat zu: »Kommunismus ist eine einfache Sache,
die schwer zu machen ist.«
Unter
den Bedingungen des Kalten Krieges befand ich mich als Leiter der BV in einer
speziellen Verantwortung gegenüber den Menschen meines Landes. Menschen in
anderen Funktionen des Landes hatten andere Aufgaben. Einmal in meine Funktion
gestellt, konnte ich mir meine Pflichten nicht aussuchen. Ich konnte mich aber
stets auf ein gutes Kollektiv von Leitern und Mitarbeitern stützen.
Nach
dem Untergang der DDR maßen sich Politiker und Medien der BRD an, allein für
die Deutung der Verhältnisse in der DDR zuständig zu sein. So wird zum Beispiel
versucht, ein Bild zu vermitteln, wonach die Menschen einer ständigen und
lückenlosen Überwachung unterlagen. Nachfolgend ein Beispiel, welche Wirkungen
solche fortwährenden Beeinflussungen ausstrahlen können. In den letzten Tagen
meiner Amtszeit als Leiter der BV wurde ich mit den Folgen einer derartigen
Behauptung konfrontiert. Der Leiter der Hauswache informierte mich über den
Besuch von zwei Kindergärtnerinnen, die mich unbedingt zu sprechen wünschten,
was eigentlich nicht dafür spricht, dass sie im Kontakt zum MfS von Ängsten
befangen waren. Für mich war es selbstverständlich, beide Frauen zu empfangen.
Wie sich herausstellte, wollten die beiden jungen Frauen wissen, wer »in ihrem
Kollektiv der Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit sei«. Man bedenke:
in einem Kindergarten!
Da
war also schon das ideologische Gift, das von der Westpropaganda eingeschleppte
Misstrauen, aber auch das provokante Auftreten, das bis zur Gegenwart existiert
und sorgsam gepflegt wird. Undenkbar, dass heutzutage einfache Bürger z. B. an
das Tor des Bundesamtes für Verfassungsschutzes klopfen und um eine solche
Auskunft ersuchen. In dieser Zeit wurde ja das Trommelfeuer gegen die DDR und
vornehmlich gegen die Arbeit des MfS maßlos geführt. Erschreckend, welches
Vokabular benutzt und welche ungeheuerliche Lügen verbreitet wurden.
Über
das Thema »flächendeckende Überwachung« habe ich bereits wiederholt berichtet.
Leider gibt es eine Menge Leute, die auch die dümmsten Beschuldigungen glauben
oder gern glauben wollen. Nicht zu verstehen ist jedoch, dass es auch
Funktionäre der SED und anderer Parteien gab, mit denen ich viele Jahre
zusammen arbeitete, die diesem Unsinn Glauben schenkten. Manche warfen uns gar
vor, dass wir durch unsere Arbeit den Unwillen der Bevölkerung hervorgerufen
hätten. Solche Leute hatten wohl keine Erinnerungen mehr an eigenes Handeln.
Einmal
nur wurde in einer Zeitung dem Vorwurf einer flächendeckenden Überwachung
unkommentiert und nicht durch Leserbriefe bekräftigt, widersprochen. Es
handelte sich um einen Artikel der Mitteldeutschen
Zeitung vom 4. Dezember 2007, der sich mit der Aufarbeitung der Unterlagen
der Kreisdienststelle Halle befasst. »Stasiakten für Halle komplett
erschlossen« war dieser Beitrag betitelt und bezog sich auf die Arbeit der
Archivarin.
Das
Jahr 1989 und danach.
In
den letzten Monaten des Jahres 1989 nahmen sowohl die inneren Probleme der DDR
als auch die Angriffe von außen zu. Das BRD-Fernsehen berichtete laufend über
negative Erscheinungen und irgendwelche Vorgänge, welche die DDR aufs
Schlimmste darstellten. Leute, die die DDR nach der BRD verlassen hatten,
schilderten die angetroffenen Verhältnisse auf das Vorteilhafteste. Die Lage
wurde immer schlimmer, die Stimmung der Bevölkerung zur DDR offen und
provozierend ablehnend.
In
jener Zeit, im August 1988, fand für mich ich ein aufschlussreiches Gespräch
statt. Der ehemalige 1. Bezirkssekretär der SED im Bezirk Halle und damalige
Sekretär für Landwirtschaft im Zentralkomitee der SED, Werner Felfe, hatte mich und meine Frau zu einem Besuch in seine
Wohnung nach Wandlitz eingeladen. Wir sollten am vorgesehenen Tag nach dem
Mittagessen da sein und er wollte anschließend in den Urlaub fahren.
Wir
waren pünktlich zur Stelle, nachdem ich von meinem Minister die Erlaubnis zum
Betreten der Wandlitzsiedlung (Waldsiedlung genannt),
eingeholt hatte. Werner Felfe war nicht so pünktlich.
Er hatte Probleme mit einer ausländischen Parteidelegation, die ihn länger als
geplant festhielt. Während der Wartezeit erzählte uns seine Frau, dass sie
nicht gern in Wandlitz wohnen würde und auch Werner sich wie eingesperrt
vorkomme.
Gegen
16 Uhr kam endlich Werner Felfe. Er machte einen
abgehetzten Eindruck. Nach dem Kaffeetrinken zogen wir uns, Werner und ich, in
einen separaten Raum zurück. Dort informierte er mich über seine Sorgen. Seinen
Darlegungen zufolge befand sich die SED in einer argen Lage. Die Mitglieder des
Politbüros bildeten ganz und gar nicht, wie das immer vermittelt wurde, ein einheitliches,
kampfstarkes Kollektiv, sondern waren sich in vielen Dingen uneinig. Er habe
überlegt, ob er vielleicht die Genossen Krenz und Jarowinsky,
mit denen er offene Worte sprechen könnte, zu unserem Gespräch mit hinzuziehen
sollte. Man sei aber übereingekommen, nicht so zu verfahren, weil von einem
solchen Treffen nicht unbedingt der Generalsekretär erfahren müsse.
Nach
Felfes Meinung hätte die Parteiführung seit langer
Zeit schon Probleme anpacken müssen, die für die Stabilität der DDR wichtig
wären. Vor allen Dingen Mittag, als verantwortliches Mitglied des Politbüros
und Zentralkomitees der SED für die DDR-Industrie, möchte sich nicht
hineinreden lassen. Werner Felfe, aus dem Bezirk
Halle kommend, kannte natürlich die Schwierigkeiten in der chemischen
Industrie. Es regte ihn auf, dass die notwendigen Investitionen nicht
eingeplant wurden. Mittag sei in einer der letzten Sekretariatssitzung seiner
Funktion als Sekretär des ZK entbunden worden. Aber während seines
Krankenhausaufenthaltes habe Honecker anlässlich eines Krankenbesuches
mitleidig den Beschluss des Sekretariats über Mittags
Ablösung wieder aufgehoben.
Nach
Felfes Meinung ging es in wichtigen Bereichen der
Industrie bergab. Ich kannte die Situation in der Chemie des Bezirkes sehr
genau und habe mit ihm darüber diskutiert. Werner sagte zu mir: »Ich rate dir,
nimm deine Leute aus der Volkswirtschaft heraus, sonst kommt eine Zeit, wo man
euch alles in die Schuhe schiebt. Ihr habt mehr übernommen, als nur für die
Sicherheit zu sorgen.«
Er
meinte ausschließlich eine Zeit, wo ein neues Führungskollektiv die Arbeit
übernehmen würde, nicht die Möglichkeit einer »Wiedervereinigung«.
In
der Zeit des Gesprächs mit Werner Felfe wurde viel
über die Rolle Gorbatschows diskutiert. Weil dieser Mann in der sowjetischen
Führung eine Zeitlang für die Landwirtschaft verantwortlich war, kannte Felfe ihn ziemlich gut. Er vertrat die Meinung, dass die
DDR mit anderen Leuten an der Spitze einen anderen Kurs einschlagen müsse. Es
dürfe aber kein Gorbatschow sein, der nur Phrasen dresche, aber nichts nach
vorne bringen würde.
Felfe war in diesem Gespräch sehr
erregt. Er wusste natürlich nicht, wie ich zu diesen Informationen stehen
würde. »Du kannst mich ruhig beim Generalsekretär verpfeifen – oder kann man
dir vertrauen?«
Einige
Tage später trat Werner Felfe seinen Urlaub an und
verstarb an einem Herzinfarkt.
Ich
persönlich meine, dass die Sorge um die Zukunft der DDR ihn aus dem
Gleichgewicht brachte und sein Herz nicht mehr mitmachte. Über diese
Zusammenkunft mit Werner Felfe habe ich lange
nachgedacht und schwor mir, alles in meinen Kräften zu tun, damit der begonnene
Weg in eine neue Gesellschaft weiter verfolgt werden kann. Im Gespräch mit
engsten Vertrauten waren wir uns einig, dass vor allem die volkswirtschaftliche
Stabilität zu sichern sei. Diesen Weg durften wir nicht verlassen. Damals
erkannte ich noch nicht bis ins letzte Detail, dass erhebliche Teile der
chemischen Industrie völlig neu erbaut werden müssten, um einen Platz in der
Weltspitze einnehmen zu können.
Es
nahte die Zeit der Vorbereitungen der im Mai 1989 stattfindenden
Kommunalwahlen. Wie immer gab es Ministerbefehle mit Festlegungen, welche
Diensteinheiten für welche Sicherungsmaßnahmen verantwortlich sind. Durch die
SED-Führung gab es die politische Linie, die Wahl anlässlich des 40.
Jahrestages der DDR eindrucksvoll zu gestalten.
Aus
uns zugänglichen Informationsquellen war bekannt, das bestimmte, meist mit der
evangelischen Kirche verbundene Gruppen planten, bereits die Vorbereitungen,
auch die Vorstellung der Kandidaten in öffentlichen Einwohnerversammlungen zu
stören. Wir nahmen solche Informationen zur Kenntnis, informierten die
Veranstalter solcher Versammlungen, legten aber keine operativen Maßnahmen
fest. Tatsächlich gingen einzelne Leute, die sich später als Mitglieder der
Bürgerbewegung verstanden, von Versammlung zu Versammlung und stellten den
Kandidaten naive, oft auch provokante Fragen. Da viel Anwesende diese Aktionen
belustigt und auch verständnislos wahrnahmen und kein besonderer Einfluss zu
bemerken war, wurde nichts Weiteres dagegen unternommen. Die Wahl selbst
verlief bis kurz vor Ende sehr ruhig. In einigen Wahllokalen erschienen vor
ihrer Schließung verschiedene Personen, die an der Auszählung teilnahmen. Es
war nicht Aufgabe des MfS, innerhalb der Wahllokale für Ordnung und Sicherheit
zu sorgen. Das oblag den eigenen Ordnern des Staatsapparates.
Besonders
im zweiten Halbjahr 1989 wurden Aktivitäten von kirchlichen Gruppen bekannt, um
neue Organisationen bzw. Parteien zu schaffen. Unter anderem ging es um das
»Neue Forum«. Die Entscheidung dazu wurde, nach den Gesetzen der DDR, im
Innenministerium getroffen. Es kam zur Ablehnung des Antrages, was aber nicht
akzeptiert wurde. Die Akteure versuchten weiterhin, sich zu formieren und
wurden Teil der gegen die DDR gerichteten Kräfte. Es wurde dahingehend
orientiert, die Entwicklung unter Kontrolle zu halten, aber keine repressiven
operativen Maßnahmen einzuleiten.
Die
Hinweise auf gegen die DDR gerichteten Tätigkeiten nahmen zu. So wurde in der
Botschaft der USA ein kompetenter Mann des Geheimdienstes tätig. Er hatte
offensichtlich die Aufgabe, sich mit DDR-Bürgern, von denen bekannt war, dass
sie gegen die DDR konspirativ vorgingen, in Verbindung zu setzen und sie über
das weitere Vorgehen zu beraten. Das besagten unsere Informationen, wenn sich
dieser Mann im Bezirk Halle aufhielt. Es ging nun nicht mehr um die
Verbesserung der DDR Verhältnisse, sondern um die Liquidierung diese Staates.
Im Bezirk Halle setzte sich dieser als Diplomat getarnter US-Geheimdienstmann
mit bekannten Kirchenleuten in Verbindung und orientierte auf Aktionen zur
weiteren Zuspitzung der Lage. Wie aus den konspirativ gewonnenen Informationen
analysiert werden konnte, ging es dabei auch um die Vernetzung von kompetenten
Gegnern der sozialistischen Ordnung.
Auch
innerhalb der SED wurde kritisch über die Politik von Partei und Regierung
gesprochen. Zeitweilig bildeten sich Gruppierungen, die man durchaus als innere
Opposition bezeichnen konnte. Das Gleiche geschah innerhalb der Blockparteien,
wo sich, wie in der Liberal-Demokratischen-Partei (LDPD), Funktionäre
konspirativ zusammenfanden. Allen ging es aber um die Rettung der DDR und nicht
um einen Anschluss an die BRD.
Von
der Bevölkerung wurden entschiedene Maßnahmen durch zentrale Stellen erwartet,
die zu einer Änderung der Politik, insbesondere zur Verbesserung der Versorgung
und der Reisetätigkeit führen sollten. Auch ich und meine Mitstreiter
erwarteten eine neue Formierung der SED-Führung. Offensichtlich war Honecker
nicht mehr in der Lage, die Situation zu beherrschen.
In
jenen aufregenden Wochen wurde ich krank und musste im Juni einige Wochen ins
Krankenhaus des MfS nach Berlin-Buch. Auch dort spürte ich, insbesondere unter
dem mittleren Personal, gleiche Erwartungen auf politische Veränderungen.
Einige Krankenschwestern hatten an ihren Kitteln ein Konterfei von Gorbatschow
angebracht, um ihre Auffassung zum Geschehen offen zu demonstrieren. In
Gesprächen mit ihnen wurde deutlich, dass sie nicht anders dachten als große
Teile der Bevölkerung. Sie wollten den Staat DDR behalten, aber ein
Warenangebot und freie Reisemöglichkeiten wie in der BRD und anderen Staaten
bekommen.
In
dieser Zeit wuchs die Fluchtbewegung nach dem Westen bedrohlich an. Begünstigt
wurde diese Entwicklung durch Grenzöffnungen in Ungarn und anderen (noch)
sozialistischen Oststaaten. Es entstand eine regelrechte Fluchthysterie. Die
Folgen waren sich ausbreitende Verunsicherung und Vertrauensschwund in die
gesellschaftliche Stabilität und durch Personalmangel verursachte weitere
spürbare Engpässe in der Volkswirtschaft, in medizinischen Einrichtungen, in
der Gastronomie und anderen Bereichen, was die gesellschaftliche Normalität
störte.
Blockparteien
und Organisationen diskutierten und berieten Maßnahmen, die auf das Ende der
DDR hinausliefen. Weiterhin gab es Hinweise auf Aufweichungen im politischen,
ideologischen Verhalten bei Offizieren und anderen Angehörigen der Nationalen
Volksarmee. Mitglieder der Kampfgruppen der Arbeiterklasse lehnten einen
weiteren Dienst zur Sicherung der Betriebe und Einrichtungen der DDR ab. Es gab
allerdings in den Betrieben und Institutionen keine Anzeichen auf Streiks und
Demonstrationen.
Das
alles geschah im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989.
Diese Vorbereitungen erfolgten im Wesentlichen, wie bislang an solchen
Jahrestagen üblich, mit Wettbewerben und Planerfüllung, brachten aber keinen
erkennbaren Stimmungsumschwung.
Die
aktuelle Situation wurde eingehend geschildert, was die dramatische Lage und
Entwicklung deutlich machte. Auffällig war die Zunahme der Kontakte zwischen
BRD-Politikern und ihren Abgesandten zu DDR-Bürgern, die bislang durch ihre
DDR-Kritik aufgefallen und bekannt waren. Wir stellten fest, dass auch die
Geheimdienste aus dem Westen ihre Kontakte zu DDR-Gegnern verstärkten.
Inoffiziell konnten wir erfahren, dass vorgebliche Diplomaten Hinweise gaben,
wie zum Sturz der DDR-Ordnung vorzugehen sei. Sie loteten aus, welche Freiräume
die Gesetze und Verfassung der DDR für weitere destabilisierende Aktionen
zulassen.
In
den vorangegangenen Jahren hatten DDR-Gegner in kirchlichen Einrichtungen als
Hausmeister, Friedhofsgärtner und anderen Berufen Unterschlupf gefunden. In
kirchlichen Räumlichkeiten wurden konspirativähnliche Zusammenkünfte und
Diskussionsrunden organisiert. Zum Beispiel wurden Antragsteller auf Entlassung
aus der Staatsbürgerschaft beraten, wie sie zweckmäßiger Weise vorgehen
sollten. In einigen Orten kam es zu unangemeldeten Demonstrationen, die nach
oder mit dem Kirchengang organisiert wurden. Das wurde von den staatlichen
Organen, vor allem der Abteilung Inneres beobachtet mit dem Schluss, dass
nunmehr Anträge auf Übersiedlung nach der BRD durch die
Demonstrationsteilnehmer unverzüglich zu genehmigen seien. Man war der Annahme,
damit unzufriedene Bürger loszuwerden. Das war jedoch eine Fehlentscheidung. Es
sprach sich herum und die demonstrative Gegnerschaft zur DDR wurde verstärkt,
um mit Ausreiseanträgen Erfolg zu haben. Die Teilnehmer solcher Aktionen wussten,
dass diese Aktionen vom MfS dokumentiert werden.
Es
gab Demonstranten, die sich dem MfS anvertrauten oder die Dienststellen des MfS
aufsuchten. Sie boten sich als IM an für die Zusicherung, nach einer bestimmten
Zeit ausreisen zu dürfen und auch danach für uns arbeiten zu wollen. In einigen
Fällen wurde von diesem Angeboten Gebrauch gemacht. Wir erfuhren dadurch, wer
maßgeblich solche Aktionen organisiert, welche Verbindungen sie unterhalten und
welche Aktivitäten geplant waren.
Als
Teil der Bevölkerung bewerteten auch die MfS-Mitarbeiter die Situation in der
DDR kritisch. Sie waren unzufrieden mit der Inaktivität zentraler Stellen im
Staat und bemängelnden die von der SED-Führung herausgebrachten
unrealistischen, wirklichkeitsfremden Informationen zur gesellschaftlichen
Entwicklung. Viele erwarteten einen Rücktritt von Erich Honecker und anderen
führenden Personen. Hans Modrow als späterer Ministerpräsident gehörte aber
nicht zu den Personen, von denen man sich positive Veränderungen versprach. Man
setzte mehr auf die Wahl von Egon Krenz. Es wuchs aber der Zweifel, dass in
dieser Situation durch die Diensteinheiten des MfS noch etwas bewirkt werden
könne. Andererseits suchten Menschen den Kontakt zum MfS. Das waren Leute aus
allen Schichten der Gesellschaft. Sie warnten vor politischen Veränderungen in
der DDR und machten sich darüber ernste Sorgen. Sie baten uns, alles in unseren
Kräften zu tun, damit die Gesellschaftsordnung der BRD mit all ihren Gebrechen
nicht von der DDR Besitz nimmt.
Die
von der so genannten Bürgerbewegung ausgehenden Aktivitäten konzentrierten sich
vorwiegend auf Kritiken an der Versorgungslage, zu ökologischen Problemen sowie
zu nicht gewährten problemlosen Reisemöglichkeiten in das kapitalistische
Ausland. Sie versuchten, die von ihnen nicht akzeptierten staatlichen
Entscheidungen mit öffentlichen Gegenaktionen zu verhindern. Da die Aktivisten
aber einen Lebensstil demonstrierten, dem nur wenige Leute folgen konnten,
wurden sie nicht eigentlich ernst genommen.
Je
näher der 40. Jahrestag heranrückte, umso mehr verstärkten sich die Aktivitäten
gesellschaftsfeindlicher Gruppierungen. Die Ablehnung der unbefriedigenden
gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Bevölkerung wurde immer spürbarer und
nahm Formen von Auflehnung und Trotz an. Die meisten wollten zwar notwendige
Veränderungen hin zum Guten und Besseren, mochten aber auch keine Vereinigung
mit der BRD beziehungsweise pure BRD-Bedingungen. Sie hatten nichts gegen
sozialistische Verhältnisse, spürten aber, dass alles auf die Beseitigung der
DDR-Gesellschaft hinauslief. Man kann sagen, dass die Bevölkerung zerrissen
war, wobei die Unzufriedenheit und die Abkehr von der DDR die Oberhand gewann.
Die
Festveranstaltungen zum Jahrestag verliefen wie üblich. Die vorgeblichen Erfolge
in der DDR wurden, bei Teilnahme vieler ausländischer Gäste, trotz tiefgehender
Spannungen herausgestellt wie immer. Gegenüber dem Rumoren im Volk stellte man
sich taub. Man glaubte wohl, dass nach den Feierlichkeiten sich die Situation
wieder normalisieren könnte. Viele zweifelten nicht am richtigen Ziel zum
Sozialismus, sondern am Weg nach 40 Jahre DDR, gemessen im Vergleich mit der
BRD. Hierum drehten sich viele Diskussionen, auch in den Diensteinheiten des
MfS. Immer mehr leitende Kader im Bezirk und den 23 Kreisen mit den vier großen
Kombinaten des Bezirkes Halle wandten sich vertrauensvoll und sorgenerfüllt an
die Leiter der Diensteinheiten des MfS, obwohl sie ahnten und befürchteten,
dass auch wir machtlos sind, die Fahrt nach unten aufzuhalten.
Wie
seit Jahren praktiziert, wurden auch in dieser Situation die 1. Sekretäre der
Bezirksleitung und der Kreise der SED mit aktuellen Informationen versorgt.
Aber auch sie konnten wenig damit anfangen, obwohl sie die reale Darstellung
der Lage und der Bevölkerungsmeinung widerspiegelten. Der neu eingesetzte 1.
Bezirkssekretär wunderte sich über die ihm zugestellte Stimmungslage. Der Mann
brachte es fertig, bei Einladung zu weiteren Sitzungen der Bezirksleitung jene
Mitglieder »zu vergessen«, die ihm nicht passten. Er fürchtete, in Verruf
zukommen, wenn der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS an den Sitzungen
teilnimmt.
In
Leipzig wiederholten sich an jedem Montag nach dem Gottesdienst mit wachsender
Zahl die Demonstrationen, die als »Montagsdemonstrationen« in die
Geschichtsschreibung eingegangen sind. Dorthin begaben sich viele Menschen,
auch aus anderen Städten der Republik, aber auch aus der BRD trafen immer mehr
Leute mit Bussen als »Demonstrationstouristen« ein. Die ab Oktober auch in
Halle organisierten Montagsdemonstrationen begannen nach der Arbeitszeit. Die
Teilnehmer kamen aus allen Schichten der Bevölkerung, auch aus der
Martin-Luther-Universität. Einfache Arbeiter waren aber kaum präsent. In Halle
richteten sich die Demonstrationen gegen die SED-Führung und deren
Führungsanspruch. Es wurde viel gehetzt und Lügen verbreitet beziehungsweise
normale Geschehnisse und Gegebenheiten überhöht dargestellt. Beim Vorbeizug an
der SED-Bezirksleitung erklärte eine junge Mutter ihrer kleinen Tochter: »Hier
arbeiten die Bösen, die gegen uns Gute sind«!
In
Erinnerung bleibt mir der tragische Tod des 1. Kreissekretärs der SED in
Köthen. Es war ein ehrlicher, geradliniger und beliebter Funktionär. Als er
seinen 50. Geburtstag beging, waren viele Delegationen gekommen, um zu
gratulieren. Er erhielt zahlreiche Geschenke aus Betrieben und anderen
Einrichtungen zu seinem Jubiläum. Unter anderem auch ein Jagdgewehr durch die
Mitglieder der Kreiseinsatzleitung.
Auf
einer von »Bürgerrechtlern« organisierten öffentlichen Veranstaltung im
Sportstadion, zu der er eingeladen worden war, wurde er in aggressiver,
ehrverletzender Weise von Bürgerrechtlern aufgefordert zu berichten, welche
Geschenke er erhalten habe und weshalb er sich gestattete, Volkseigentum
anzunehmen. Nach dieser öffentlichen Brandmarkung und Herabwürdigung kehrte er
in die Kreisleitung zurück und erschoss sich mit seiner Dienstwaffe. Als
Kommunist wurde er in den Tod getrieben von Menschen, denen das Wort von
»menschenverachtenden Verhältnissen in der DDR« täglich zum Gebrauch zur
Verfügung steht.
Die
Bezirkseinsatzleitung tagte fast jeden Tag zur Lageeinschätzung. Dabei wurde
offen und ungeschminkt die Situation erörtert. Ein Mitglied der Einsatzleitung
machte den Vorschlag, die Mitglieder der SED, die Kommunisten, ebenfalls
demonstrieren zu lassen, mit roten Fahnen. Es sollte glaubwürdig die Frage
geprüft werden, welche Bürger sich an solchen gegen die Beseitigung der DDR
gerichteten Aktionen beteiligen würden. Wegen unsachgemäßen, nicht
beschlossenen Herangehens an diesen Gedanken, besonders durch Überspitzungen im
Kombinat BUNA, wurden begonnene Vorbereitungen wieder aufgehoben.
Nach
wie vor galten die Gesetze der DDR. Sie waren nicht außer Kraft gesetzt worden.
Deshalb wurde mit strafrechtlichen Mitteln gegen Personen vorgegangen, die
glaubten, angesichts von Auflösungserscheinungen ungestraft die Bevölkerung
durch Aufforderung zum Streik, Verbreitung von Hetzschriften gegen die
Souveränität der DDR die Lage noch mehr anheizen zu können. Es gibt heute noch Leute,
die sich wundern, warum die zuständigen Organe der DDR in einer solchen
Situation noch Festnahmen durchführten, die alle nach Recht und Gesetz
realisiert wurden. Solchen Leuten wäre zu wünschen, von den brutalen
Polizeiaktionen betroffen worden zu sein, die in den 90er Jahren bei den
Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen in Berlin-Friedrichsfelde vorgenommen
wurden. Polizisten drangen damals ohne Not betont gewalttätig in die
Menschenmenge mit Schlagstöcken ein, um u a. eine Person herauszuholen, die eine
Sonnenbrille trug und damit angeblich gegen das Vermummungsverbot verstieß. Die
Polizisten selbst waren übrigens so vermummt, dass nicht zu unterscheiden war,
ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
Ende
August 1989 fand auf Weisung des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke in
Berlin eine Dienstberatung statt. Es wurde die Situation in der DDR behandelt.
Die Leiter, die sich zu Wort meldeten, schilderten die angespannte,
komplizierte Lage im Land und betonten die Unzufriedenheit in staatlichen
Organen und bei den Leitern der Betriebe und Institutionen darüber, dass keine
effektiven Veränderungen in den Führungsetagen von SED und Regierung erfolgen.
Die weitere »Marschrichtung« war, dass es nicht nur um die Absicherung der
Betriebe und Einrichtungen ging, sondern um die Hilfe des MfS, angehäufte
Probleme in staatlichen Organen lösen zu helfen. Damit schien der Minister die
Lage unterschätzt zu haben. Die angehäuften Probleme, Mängel in der Versorgung,
Reisemöglichkeit usw. mussten zentral gelöst werden, konnten nicht Aufgabe der
MfS-Dienststellen sein.
Die
Demonstrationen in den Städten wurden fortgesetzt, oftmals begleitet mit Lügen,
aufrührerischen Losungen und Schmähungen gegenüber der Regierung wie auch der
Sicherheitsorgane. In Medien wurde später zum Beispiel behauptet, dass auf dem
Marktplatz in Halle Wasserwerfer gegen Demonstrationen zum Einsatz bereit
waren. Tatsache war aber, dass in Halle Wasserwerfer überhaupt nicht zur
Verfügung standen. Nicht einen einzigen Wasserwerfer besaß Halle!
Im
zweiten Halbjahr 1989 änderte sich spürbar die ideologischen Einstellungen bei
einer Reihe von Mitgliedern und Funktionären der SED. Man glaubte nicht mehr an
die Überzeugungsfähigkeit der Partei und ihres Programms. Hier ist nicht der
Ort, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum eine in komplizierten,
schweren Klassenkampfsituationen bewährte Partei ihre Kraft zum Kampf, zur
Führung der Menschen verlor. Dass einreisende BRD-Bürger, meist im Auftrage von
bürgerlichen Parteien, immer offener Einfluss nahmen auf die Stimmung im Land,
blieb nicht ohne Wirkung. Vor allen Dingen in Kreisen der Intelligenz und der
studentischen Jugend wurden alle Argumente und Hinweise aufgenommen. So traten
an den »Montagsdemonstrationen« in Halle Wissenschaftler und Studenten in
Erscheinung und bestimmten das Bild und den Inhalt solcher Veranstaltungen und
auch das allgemeine öffentliche Leben.
Das
war m. E. auch eine Auswirkung der seit Jahrzehnten bestehenden Verbindungen
einiger Sektionen der Martin-Luther-Universität in die BRD und andere
kapitalistischen Staaten, u. a. nach den USA. Selbst Mitarbeiter der Sektion
Marxismus-Leninismus und anderer, die sich mit der gesellschaftlichen
Entwicklung im Sozialismus beschäftigten, änderten abrupt ihre Meinungen zur
DDR und den Thesen, die sie gelehrt und vertreten hatten.
In
dieser Zeit musste mit Angriffen gegen das Gebäude unserer Bezirksverwaltung am
Gimritzer-Damm gerechnet werden. Deshalb wurden
spezielle Maßnahmen zur eigenen Sicherheit befohlen. Die Offiziere, die zur
verstärkten Wache gehörten, waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Beim
Eindringen aufgeputschter Menschen sollte allerdings nur von den vorhandenen
Wasserschläuchen Gebrauch gemacht werden.
Im
November erschien eines Tages der stellvertretende Militärstaatsanwalt des
Bezirkes Halle an der Spitze von Vertretern der SED, der Blockparteien und
nicht berechtigten weiteren Personen – vielleicht »Bürgerrechtler« –, die sich
ungemein aufsässig, bewusst provokant benahmen, ohne dass sie gerügt wurden.
Der
Militärstaatsanwalt gab die Besetzung der Behörde und die Versiegelung aller
Panzerschränke bekannt. Er verstieß damit gegen geltendes Recht und gegen die
Verfassung der DDR. Offenbar gefiel ihm aber diese Rolle. Vielleicht erwartete
er, sich bei der »neuen Macht« feilbieten zu können. Er kam allem nach, was von
ihm verlangt wurde. Damals ahnte er wohl noch nicht, dass die willfährig
übernommene Büttelrolle ihn später nicht davor
bewahren sollte, ebenfalls als »Staatsnaher« diskriminiert zu werden.
Es
begann die Zeit der Arbeit unter der »Besetzung« so genannter Bürgerrechtler
und unter Bewachung der Volkspolizei, die sich sichtbar nicht wohl fühlten in
dieser ihnen aufgezwungenen Aufgabe. Trotzdem wurde geplündert, Lager und
Magazine ausgeraubt und ein schwunghafter Handel mit erbeuteten Uniformen,
Orden und Ehrenzeichen sowie Auto-Ersatzteilen geführt.
Anfang
Dezember wurde eine Dienstkonferenz in Berlin unter Leitung des neuen
Ministers, Wolfgang Schwanitz, befohlen. Dort wurde beraten, wie eine neue
Staatssicherheit geschaffen werden kann. Ich habe dort mit Unterstützung
weiterer Teilnehmer den Antrag gestellt, als Leiter der Bezirksverwaltung
abgelöst zu werden, weil sich die Stimmung der Bevölkerung gegen die alten
Strukturen richtete. Ein neues Amt lässt sich mit alten Kadern nicht schaffen.
Mein Antrag wurde zwar abgelehnt, aber einige Tage später erhielt ich
fernschriftlich meine Beurlaubung. Mein 1. Stellvertreter wurde mit der
weiteren Wahrnehmung der kommenden Aufgaben betraut. Er hat auftragsgemäß mit
einem weiteren kleinen Kreis von Mitarbeitern der Bezirksverwaltung bis April
1990 die Auflösung der nunmehr »Amt für nationale Sicherheit« genannten
Institution betrieben.
Mit
Wirkung vom 15. Januar 1990 erfolgte meine Entlassung aus dem Ministerium für
Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik bzw. dem in »Amt für
Nationale Sicherheit« umbenannten Dienst.
Das neue Leben
muss anders werden, als dieses Leben,
als diese Zeit
Von
Fritz Hausmann
Jahrgang
1936; Diplom-Industrieökonom; Dr. jur.; MfS/AfNS
1964-1990; Oberstleutnant a. D.; zuletzt Stellvertretender Abteilungsleiter in
der HA XVIII des MfS
Nachdem
ich das Studium der Industrieökonomie an der Hochschule für Ökonomie in Berlin Karlshorst mit einer Diplomarbeit zur Entwicklung
mathematischer Modelle für die betriebliche Leitung und Planung mit
Auszeichnung abgeschlossen hatte, trat ich im August 1964 den Dienst im
Ministerium für Staatssicherheit auf der Linie Sicherung der Volkswirtschaft
(HA XVIII) an. Die in dieser Zeit unter Walter Ulbricht vorgenommenen
Änderungen in der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, wie sie das Neue
Ökonomische System und die zunehmende Bedeutung der EDV erwarten ließen,
erforderten Mitarbeiter mit wissenschaftlich fundierten Kenntnissen auf diesen
Gebieten. Durch meine langjährige Tätigkeit in der FDJ, in der ich mich
besonders mit der Jugendarbeit in der Industrie beschäftigte, besaß ich
Kenntnisse über die Aktivitäten westdeutscher und westlicher Einrichtungen und
Institutionen, den Aufbau einer von Ausbeutung freien Gesellschaft in der DDR
und in den anderen sozialistischen Ländern zu stören und letztlich zu
verhindern.
Bereits
seit meiner frühen Jugend interessierte ich mich für die Frage, welche
Perspektiven wir, die Generation, die den Krieg als Kinder erlebt hatte und für
die 1945 die kindlichen Vorstellungen des weiteren Lebens zusammengebrochen
waren, in der Zukunft hatten. Den Anfang dieser Entwicklung, die mich von einem
politisch interessierten Jugendlichen zu einem Kommunisten werden ließ,
markiert ein Buch. Dieses Buch über Edison unter dem Titel »Der Zauberer vom Mendlopark«, enthält einen Einkleber:
» Als Anerkennung für die beste Schularbeit im Kampf des deutschen Volkes um
seine Einheit und einen gerechten Frieden überreicht: 3. Deutscher
Volkskongress Kreisausschuss Auerbach (Vgtl.)«.
Die
deutsche Einheit und ein gerechter Frieden, das waren die zwei Zielstellungen,
die mich und viele Jugendliche zur damaligen Zeit ansprachen. In den ersten
Zeilen eines damals sehr populären Jugendliedes, »Das neue Leben muss anders
werden, als dieses Leben, als diese Zeit, da darf’s kein Hungern, kein Elend
geben, packt alle an, dann ist es bald so weit«, kam der Wunsch nach Frieden
und Aufbau zum Ausdruck. Leider wurden diese Ziele durch die Gründung der BRD
und den Wiederaufbau von Streitkräften in der BRD schnell von westlicher Seite
durchkreuzt. Die in diesen Jahren von der BRD ausgehende immer stärkere
Diffamierung, Diskreditierung und Schädigung der DDR, jenes Staates, der aus
der Volkskongress-Bewegung hervorgegangen war, ließ mich 1952 als Delegierter
des IV. FDJ-Parlamentes mit voller Überzeugung den Beschluss zur Übernahme der
Patenschaft der FDJ über die Kasernierte Volkspolizei (KVP) zum Schutze der
jungen DDR zustimmen. Für die Nachgeborenen-Generation sei zur
zeitgeschichtlichen Einordnung dieses Beschlusses hinzugefügt, dass in eben
diesem Jahr der für seine Verbrechen an italienischen Zivilisten von einen
englischen Militärgericht 1948 zum Tode verurteilte Generalfeldmarschall
Kesselring in der BRD begnadigt wurde.*
Während
meines gesamten Berufslebens bis 1989 hatte ich mich in allen Tätigkeiten mit
den von der BRD ausgehenden Störungen, Schädigungen und Spionagehandlungen
auseinander zu setzen. In der Lehre musste ich Anfang der 50er Jahre im VEB
Filz- und Filtertuche Rodewisch miterleben, wie wichtige Lieferungen
hochwertiger Merinowollen aus Westeuropa nicht oder nur verzögert erfolgten und
so die Produktion der für die Papierproduktion erforderlichen Filze ernsthaft
gestört wurde. In guter Erinnerung ist mir noch, dass ich mich in meiner
Tätigkeit im Jugendverband mit der Beschwerde einer Jugendbrigade zu
beschäftigen hatte, die über die schlechte Qualität des Stahls der Rohlinge,
aus denen sie die Nadelbetten für die Rundstickmaschinen herstellten,
Beschwerde führten. Die in der DDR neu entwickelten Rundstrickmaschinen, für
die die Nadelbetten produziert wurden, hatten auf dem Weltmarkt großes
Interesse gefunden. Die westlichen Stahllieferanten hatten kurzfristig die Lieferung
des für die Nadelbetten benötigten Spezialstahles an die DDR gestoppt. Die
äußerst aufwendige und kostenintensive Entwicklung der Speziallegierung in der
DDR erforderte einige Zeit und erheblichen Aufwand.
Zwei
weitere Erlebnisse, die ich zu Beginn meines Studiums in Berlin hatte, sind mir
noch gut in Erinnerung. Es war damals selbstverständlich, dass jeder Student
einen Platz im Studentenwohnheim bekam. Freilich konnte man sich die
Mitbewohner nicht aussuchen, aber ein sicherer Wohnheimplatz und die Vollverpflegung
an sieben Tagen der Woche in der Mensa haben wir sehr geschätzt. Ich wohnte mit
einem Kommilitonen zusammen, der aus Trebbin stammte
und dessen Vater Eigentümer eines großen Gärtnereibetriebes war. Im Verlaufe
des zweiten Semesters vertraute er mir an, dass er einen Lehrling aus der
Gärtnerei seines Vaters geschwängert hätte und er deshalb schnellstens über
Westberlin in die BRD müsse, da sein Vater ihn verprügeln und rausschmeißen
würde. Er sei auch nicht bereit für das Kind zu bezahlen. Alle meine
Bemühungen, ihn von dem Plan abzubringen, blieben erfolglos, und er kam bald
nicht mehr zu den Lehrveranstaltungen. Wenige Wochen später tauchte er im
Studentenwohnheim bei mir wieder auf. Er bat mich inständig, meine Beziehungen,
die ich als Studentenvertreter im Prorektorat für Studentenangelegenheiten
hatte, dafür zu nutzen, dass er schnellstens die schriftliche Ausfertigung
seiner Exmatrikulation erhalte, da sonst die fristgerechte Immatrikulation in
Westberlin gefährdet sei.
Von
allergrößter Wichtigkeit für ihn war darüber hinaus, dass als
Exmatrikulationsgrund die Einfuhr westlicher Publikationen angeführt sei. Um
dies zu belegen, sei er mehrere Tage über den U-Bahnhof Warschauer Straße mit
größeren Mengen Zeitungen, Zeitschriften und anderen Druckmaterialien
eingereist. Das wäre sicher ein politischer Grund für die Exmatrikulation. Nur
so würde er in Westberlin als politischer Flüchtling anerkannt und sofort zu
günstigen Bedingungen immatrikuliert werden. Dieses Ansinnen habe ich
selbstverständlich zurückgewiesen. Die Exmatrikulation ist damals erfolgt.
Gut
in Erinnerung ist mir ein Erlebnis kurz vor dem 13. August 1961. Trotz des
durch ein auskömmliches Stipendium wirtschaftlich gesicherten Studiums haben
wir während des Studiums oft in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet. Einmal
um fehlende Arbeitskräfte zu ersetzen und natürlich um Geld zu verdienen. Neben
einigen anderen Stellen, wo ich in Wochenend- und Nachtschichten arbeitete,
hatte ich seit Herbst 1960 eine feste Beziehung zu einer Produktionsbrigade in
der Koksmüllerei im VEB Elektrokohle Berlin. Als ehemaliger Siemens-Betrieb war
das Werk nach dem Krieg als Reparationsgut für die Sowjetunion demontiert
worden.
Der
in den 50er Jahren erfolgte Wiederaufbau war noch nicht abgeschlossen, so dass
die Arbeit körperlich sehr anstrengend und durch den Staub belastend war. Ich
hatte bei den Arbeitern, obwohl Student, einen guten Stand. Sie waren sofort
bereit, mich von Juni bis Anfang August 1961 als Arbeiter im Dreischichtbetrieb
auf zu nehmen. So erlebte ich in einem der schmutzigsten und schwersten Jobs in
Berlin die Zeit unmittelbar vor dem »Mauerbau«. In dieser Zeit war ich in der
Brigade nicht nur der einzige Student, sondern auch das einzige SED-Mitglied.
Im Arbeitsablauf gab es zu dieser Zeit ein permanentes Problem. Drei bis vier
der zwölf Brigademitglieder kamen nur zur Arbeit, wenn sie in Westberlin in der
Beuselstraße oder anderen Orten keinen Tagesjob
gefunden hatten, oder sie kamen anschließend müde und kraftlos zur Arbeit. Den Arbeitsplatz
bei Elektrokohle brauchten sie, um die Sozialleistungen der DDR voll in
Anspruch nehmen zu können.
Im
Juli eskalierte die Situation, so dass die Arbeitsleistungen pro Schicht und
damit der Verdienst erheblich zurückgingen. Da die Grenzgänger die Forderungen
des Brigadeleiters und der Brigademitglieder, das Arbeitsverhältnis bei
Elektrokohle zu kündigen, ablehnten, beschloss die Brigade, die Grenzgänger
auszuschließen. Nun begannen die Aktivitäten der SED-Betriebsparteiorganisation
und der Betriebsgewerkschaftsleitung, um die Brigade zur Rücknahme des
Beschlusses zu veranlassen. Bei einer Entlassung bestand die Möglichkeit, dass
die Arbeiter ganz in Westberlin arbeiten gehen würden. Auch ich wurde von der
Parteileitung angesprochen und aufgefordert, unter den Brigademitgliedern für
eine Rücknahme des Beschlusses zu wirken.
Es
gab in der Brigade und in einigen angrenzenden Produktionsbereichen lange
intensive und oft sehr konträre Diskussionen, ohne dass es eine Lösung des
Problems gab. Die Vorstellung, durch staatliche Maßnahmen das Arbeiten in
Westberlin zu unterbinden, war sehr verbreitet, auch der Ausschluss von den
Sozialmaßnahmen, billigen Mieten u. a. war sehr verbreitet. Die Lösung
beinhaltete dann den kleinsten gemeinsamen Nenner: Bei der Leistungsberechnung,
auf der die Berechnung des Leistungslohnes basierte, wurden nur die zur Schicht
anwesenden Arbeiter gerechnet. Das Verlassen des Arbeitsplatzes während der
Schicht, sowie Arbeitsantritt währen der Schicht, führte mit der neuen Leistungsabrechnung
zu erheblichen Lohneinbußen der betreffenden Kollegen, da sie aus der
kollektiven Lohnabrechnung heraus fielen. Mit diesen Erlebnissen aus der Welt
Berliner Arbeiter vor dem 13. August 1961 und der Unzufriedenheit mit der
Klärung, reiste ich Anfang August in den Sommerferien in meine vogtländische Heimat.
Mit
Beginn des neuen Studienjahres bekamen wir Studenten sofort die grundsätzliche
Änderung bei den Arbeitskräften in Berlin zu spüren. Die Nachfrage nach
studentischen Arbeitskräften war stark gesunken.
Im
September/Oktober1961 habe ich noch ein oder zwei Mal in der Brigade
gearbeitet. Verinnerlicht ist mir noch gut ein Gespräch mit dem Brigadier und
einigen Arbeitern. Sie hatten große Probleme, wie sich die Kontakte zu ihren
Westberliner Verwandten gestalten würden. Die Auswirkungen auf ihre Arbeit
beurteilten sie positiv, die Entwicklung hätte ihnen mit ihrer Forderung nach
einer grundsätzlichen Lösung des Grenzgängerproblems
Recht gegeben.
Die
nach 1961 einsetzende langsame Stabilisierung der Wirtschaft der DDR und die
Wandlungen in der Leitung und Planung der Volkswirtschaft weckten in mir den
Wunsch, aktiv an der Fortführung dieser Entwicklung mitzuarbeiten. So sah ich
es als eine Ehre an, nach der gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung in der
Phase der Umgestaltung der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, mit an der
Sicherung vor feindlich terroristischen Angriffen arbeiten zu können.
In
welcher Breite, Tiefe, Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit die Angriffe bereits
gegen die Wirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone und mit Beginn der 50er
Jahre gegen die DDR mit dem Ziel vorgetragen wurden, den Aufbau eines
friedlichen und ausbeutungsfreien sozialistischen Landes zu verhindern, wie die
Aufgaben und Arbeitsschwerpunkte der jeweiligen konkreten Lage angepasst
wurden, sind im Sachbuch »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS« exakt
beschrieben. Darin wird belegt, dass Aufgaben, Handlungsrahmen und
Handlungstiefe des MfS entscheidend von den aggressiven Angriffen gegen die
Volkswirtschaft bestimmt wurden.
In
der Biografie über Carl Steinhoff, der das Gesetz zur Gründung des MfS
erarbeitete und im Ministerrat und Volkskammer einbrachte, wird anschaulich
beschrieben, dass bereits seit den Jahren 1946/1947 folgenschwere Stör-, Sabotage-,
und Spionageaktionen gegen die Wirtschaft der Sowjetischen Besatzungszone
erfolgten und diese Sabotage- und Terrorangriffe entscheidend für die Gründung
des MfS durch die Regierung der DDR waren.
Heute
ist es in Mode, Entwicklung und Leben in der DDR unter der Staatsdoktrin
»Aufarbeitung des SED- Unrechtssystems« darzustellen und zu verteufeln. Dabei
ist der Focus besonders auf das Wirken des MfS gerichtet. Die auf die
Liquidierung der DDR und deren Einverleibung in die BRD gerichteten Aktionen,
wie sie von einer ganzen Armada unterschiedlicher staatlicher und
nichtstaatlicher Institutionen, Organisationen und Einrichtungen ausgingen,
sind in der »Wissenschaftlichen Aufarbeitung » nicht zu finden. Der Zugang zu
den Quellen ist nur offen für Kräfte und Einrichtungen, die den
antikommunistischen Zeitgeist bedienen. Die Embargopolitik der Jahre vor 1989
lässt grüßen.
Ein
wesentliches Arbeitsgebiet stellte für mich in den 60er/70er Jahren die
Sicherung der sich entwickelnden Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) dar. In
dieser Zeit kristallisierten sich zwei Schwerpunkte heraus. Zum einen musste in
allen Bereichen ein Verständnis für die sich aus der neuen Technologie der
Informationsverarbeitung ergebenden geänderten Sicherheitsanforderungen
geschaffen werden. Dies geschah in enger Zusammenarbeit mit dem Apparat des
damaligen Staatssekretärs für EDV, Kleiber, durch die Inkraftsetzung wirksamer
Datenschutz- und Sicherheitsordnungen in allen EDV-Anlagen. Andererseits
mussten wir schnell feststellen, dass die von den DDR- Universitäten und
-Hochschulen ausgebildeten EDV-Fachkader auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt
sehr gefragt waren und deshalb von kriminellen Schleuserbanden gezielt
abgeworben und ausgeschleust wurden. Durch die Zerschlagung solcher Schleuserorganisationen
konnten wir die Aktivitäten zumindest temporär unterbinden bzw. stören.
An
der Aufdeckung einiger im zweibändigen Sachbuch »Die Sicherheit« geschilderten
Spionageangriffe habe ich aktiv mitgearbeitet. Besonders ist mir der Fall eines
Mitarbeiters der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik in Erinnerung. G.
war in den frühen 50er Jahren als Bürolehrling von einer älteren Mitarbeiterin
der Zentralverwaltung zu einem Volksfest nach Tegel eingeladen worden. Dort
lernte er einen »Gönner für junge, aufgeschlossene Leute« kennen, der ihn nach
weiteren Besuchen in Westberlin für den französischen Geheimdienst anwarb. Da
dieser Geheimdienst aber nach einigen Jahren das Interesse an ihm verlor, wurde
er im Eldorado der sich in Westberlin tummelnden Geheimdienste herumgereicht.
Als er nach dem BND beim US-amerikanischen Geheimdienst gelandet war, wusste er
nicht mehr genau, mit welchen Diensten er Kontakte hatte. Obwohl er vor dem 13.
August 1961 noch mit geheimen Nachrichtenmitteln zum Agenten-Funkverkehr
ausgerüstet worden war, brach nach dem »Mauerbau« die Verbindung ab. Seine
technische Spionageausrüstung hatte er auftragsgemäß getarnt auf einer
Brachfläche abgelegt.
Baumaßnahmen
auf dieser Fläche führten zum Totalverlust der Spionageausrüstung. G., der nach
dem vom Geheimdienst geforderten und finanziell unterstützten Studium als
wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Zentralverwaltung Bereich Verkehr
arbeitete, war über den Verbindungsabbruch nicht böse, da er die Verbindung zum
Geheimdienst als eine Bedrohung seiner zwischenzeitlich gegründeten Familie
empfand.
Zu
einer Katastrophe wurde es für G., als ihn Ende der 60er Jahre der
USA-Geheimdienst wieder aktivieren wollte. Da er eine weitere Arbeit für den
Geheimdienst ablehnte, wurde er mit der Androhung massiv unter Druck gesetzt,
ihn dem MfS auszuliefern. Der Geheimdienst konnte aber nicht wissen, dass G.
bereits enttarnt war und die Einleitung des Ermittlungsverfahrens kurz bevor
stand.
Im
Ermittlungsverfahren gegen den Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission
(SPK), S., der von 1952 bis 1970 als Agent für die CIA tätig war, gehörte ich
zu den Mitarbeitern der Hauptabteilung XVIII, die mit der Suche und Sicherung
der erforderlichen Beweismittel beauftragt waren. Dadurch erhielt ich Einblick in
dessen umfangreiche Spionagetätigkeit. Nachdem S. 1952 der CIA zugeführt und
angeworben wurde, hatte er bis zum 13. August 1961 etwa 200 reguläre und etwa
120 außerplanmäßige Treffs mit Mitarbeitern des US-Geheimdienstes. Nach dem 13.
August 1961 wurde der Kontakt über Blindfunkdienst gehalten, insgesamt hatte er
in 401 Sendungen Aufträge und Anweisungen empfangen und 230 nummerierte und
chiffrierte Geheimschriftbriefe mit Spionageinformationen übermittelt.
Im
Jahre 1956 wurde ihm mitgeteilt, er habe den Status eines Mitarbeiters der CIA
erhalten. Für seine spätere Verwendung in der BRD sei gesorgt. S. erhielt
zunächst monatlich 150, später 400 DM. Gelegentlich gab es auch Sonderprämien
für wichtige Informationen. Hinzu kamen »Treuegelder« für 5, 10 und 15 Jahre
Mitarbeit und Weihnachtsgratifikationen. Die »Honorare« wurden auf ein Konto in
Westberlin eingezahlt, insgesamt 170.000 DM, wovon ihm 22.000 DM zum Verbrauch
ausgezahlt wurden.
S.
lieferte der CIA neben politischen und militärischen Informationen vorwiegend
Angaben über die Volkswirtschaft der DDR und bestimmte Personen. In der Zeit
von 1952 bis etwa 13. August 1961 bespitzelte er Funktionäre und Mitarbeiter
staatlicher Organe und der Wirtschaft. Er lieferte etwa 2.000 Charakteristiken.
Davon »tippte« er 400 aus seiner Sicht für eine Anwerbung geeignete Personen
und lieferte zum Teil Fotos von ihnen.
Seine
Tätigkeit im Staatlichen Komitee für Materialversorgung (SKM) und im
Staatlichen Chemiekontor (SCK) verschaffte ihm einen Überblick über wichtige Einrichtungen,
die für die Gesamtentwicklung der DDR-Volkswirtschaft von Bedeutung waren.
Während er im SKM über Informationen verfügte, die sich auf volkswirtschaftlich
bedeutsame Produkte in der Chemieindustrie bezogen, weiteten sie sich im SCK
auf alle dort bilanzierten Erzeugnisse, einschließlich der Vereinigung der
Volkseigenen Betriebe (VVB) und Großbetriebe der Chemie aus. Durch den hohen
Verflechtungsgrad erhielt S. weitreichende Einblicke in Probleme der
Zulieferindustrie (Kohle, Energiewesen Maschinenbau, Elektrotechnik/Elektronik,
Nichterzbergbau, Importwirtschaft), sowie der abnehmenden Zweige
(Leichtindustrie, Elektrotechnik/Elektronik, Nahrungsgüterwirtschaft,
Maschinenbau, Verkehrswesen, Exportwirtschaft). Damit besaß S. fundamentale
Kenntnisse über Hauptkettenglieder und Engpässe in der Volkswirtschaft, über
die Struktur und sonstige Querschnittfragen bis hin zu Kaderproblemen.
Im
Urteil des Obersten Gerichts der DDR hieß es zu den Konsequenzen dieser
Spionage, dass S. von seinen Kontaktpartnern bei der CIA klargemacht worden
war, dass sie über »enge Verbindung mit Regierungsstellen, Konzernen und
anderen Wirtschaftsunternehmen« verfügten und auf diese Weise in der Lage
seien, »auf entsprechende vom Angeklagten erlangte Informationen hin, empfindliche
Störungen zu veranlassen«. In Kenntnis dessen forderte S. von seinen
Auftraggebern, dass wichtige Rohstoffe und Zwischenprodukte auf die
Embargo-Liste gesetzt wurden. So benannte er Erzeugnisse, die aus dem
sozialistischen Staatenverbund nicht kurzfristig lieferbar waren und
denunzierte Zwischenhändler, die spezifische Erzeugnisse an die DDR lieferten.
Von
einem ihm berichtspflichtigen Mitarbeiter erfuhr S. im Jahre 1958, dass über
griechische Zwischenhändler in der Türkei 6.700 Tonnen Bor-Erz gekauft und mit
dem griechischen Schiff »Marta« in die DDR unterwegs waren. Aus dieser Ladung
Bor-Erz sollte Borax produziert werden. Borax wurde zur Herstellung von
Spezialgläsern für optische Geräte, Emaille-Erzeugnisse, Sanitärkeramik,
Verbundlager, Kachelplatten und bestimmte Pharmaka benötigt. Die Ladung der
»Marta« sollte anderthalb Jahre Boraxproduktion in
der DDR sichern. S. übermittelte der CIA bei einem Sondertreff diese Fakten und
Zusammenhänge.
Ende
März 1959 wurde der griechische Frachter in neutralen Gewässern in der Nähe von
Gibraltar von US-Kriegsschiffen aufgebracht und gezwungen, einen griechischen
Hafen anzulaufen. Dort wurde die Ladung unter Verweis auf Embargo Bestimmungen
beschlagnahmt. Mitte des Jahres 1961 (!) wurde von den griechischen Behörden
die Ladung freigegeben mit der Auflage, sie an ein NATO-Mitgliedsland zu
verkaufen. Für die DDR entstand daraus ein erheblicher Schaden. Allein für die
Aufwendungen durch Beschlagnahme der Ladung mussten ca. 1.700.000 Valutamark gezahlt werden. Infolge des Ausbleibens der
Lieferung entstand für den Herstellerbetrieb durch Produktionsausfall ein
Gewinnverlust von ca. 2.360.000 Mark.
Die
Folgeschäden für Betriebe der ersten Verarbeitungsstufe führten zu einem
Verlust an Warenproduktion von 15 Millionen Mark. In den nachgelagerten Stufen
waren die Ausfälle ebenfalls beträchtlich. Umstellungen waren weitere
Begleiterscheinungen. Durch die Kenntnis der absoluten Abhängigkeit der DDR
wurden die Preise für Borax und Bor-Mineralien zum Schaden der DDR-Volkswirtschaft
manipuliert und hochgetrieben.
Bei
den Angriffen gegen die Volkswirtschaft der DDR wurden von westlichen
Dienststellen vielfältige Mittel und Methoden angewandt. So hatte ich an der
Aufdeckung und Liquidierung einer besonders perfiden Methode mitzuarbeiten.
Ende der 60er Jahre lernte eine Sekretärin aus dem Sekretariat des
Stellvertreters für Wissenschaft und Technik der Staatlichen Plankommission in
einer Bar am Berliner Alexanderplatz einen arabisch stämmigen Mann kennen.
Neben intimen Beziehungen veranlasste er sie, für ihn gegen Kosmetika und
andere Geschenke dienstliche Unterlagen aus dem Sekretariat mitzubringen. Da er
nicht in der Lage war, die Interessen seiner Auftraggeber genau zu benennen,
übergab sie bei den Treffs die Tagesablagen. Während sie mit ihrem Auftraggeber
an unterschiedlichen Orten in Berlin zusammen war, wurden die Unterlagen von
seinem »Freund« nach Westberlin verbracht und dort von sachkundigen
Geheimdienstagenten gesichtet, bewertet und kopiert. Nach Rückkehr des Kuriers
erhielt die Sekretärin die Unterlagen zurück, die sie am nächsten Tag als
besonders fleißige Bürokraft vor Dienstbeginn zurückstellte. Da der arabische
Amigo und sein Freund diplomatischen Status hatten, konnten sie zu jeder Zeit
unkontrolliert über den Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße ein- und
ausreisen. Als der Geheimdienst begann, die Verbindung zur gezielten
Informationsgewinnung auszubauen, war es gelungen, die Verbindung zu enttarnen
und zu liquidieren. Die Amigos reisten nicht mehr in die DDR ein, die
Sekretärin wurde rechtskräftig verurteilt.
In
der zweiten Hälfte der 70er und zu Beginn der 80er Jahre verlagerte sich mein
Arbeitsschwerpunkt auf die Sicherungsaufgaben in der Land-, Forst- und
Nahrungsgüterwirtschaft. In der DDR war ein hoher Stand der Tiergesundheit
erreicht. Sowohl im Bereich der veterinärmedizinischen Forschung als auch der
Staatlichen Leitung und Planung auf diesem Gebiet waren international hoch
anerkannte Ergebnisse erreicht worden. In der von Thomas Moeller 1999 an der FU
Berlin eingereichten Dissertation »Wirtschaftlich bedeutsame Erkrankungen des
Rindes in der ehemaligen DDR, Ursachen und Bekämpfung«2 wird dies analysiert
und detailliert dargestellt. Auch US-amerikanische Fachleute mit diplomatischen
Status zeigten in mehreren von der US-Botschaft in der DDR organisierten
Besuchen und Reisen dafür größtes Interesse. Es bedarf daher keiner besonderen
Begründung, dass der allseitige Schutz der Tierbestände vor Anschlägen jeder
Art und die Sicherung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diesem Gebiet
einen hohen Stellenwert in unserer Arbeit hatten.
Im
Vorfeld des 100. Geburtstages des international renommierten
Friedrich-Löffler-Instituts auf der Insel Riems (FLI) – heute
Friedrich-Löffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit – ist
in der Ärztezeitung vom 20. September
2010 der Artikel »Ratten und Spitzel in DDR-Forschungsinstitut« aus der Feder
der Mitarbeiterin des ADN-Büros
Rostock, Frau Dr. Rathke, erschienen. In ihm äußert sie sich – neben einer
nicht ganz vollständigen und tendenziös gewichteten Aufzählung von Ereignissen
aus der 100-jährigen Geschichte des FLI – auch zu Seuchenausbrüchen im Umfeld
des Instituts und benutzt diese, um das MfS zu diffamieren.
In
meiner Tätigkeit in den Jahren 1975 bis 1989 nahmen die von der Linie XVIII
(Sicherung der Volkswirtschaft) zu lösenden Aufgaben auf dem Gebiet der
Tiergesundheit einen zentralen Platz ein. Deshalb sind mir die Vorgänge um das
FLI, auf die sich Frau Dr. Rathke bezieht, bekannt. Aus dieser meiner Sicht ist
festzustellen, dass ihr Artikel oberflächlich recherchiert ist. Er ist nur
insoweit recherchiert, bis die Aussage dem Geist heutiger Zeit, »DDR, ein
maroder Überwachungsstaat«, entspricht. Es ist deshalb notwendig, zunächst in
aller Kürze einige Fakten und Zusammenhänge darzulegen, die Frau Dr. Rathke
geflissentlich übersehen hat.
Die
Maul- und Klauenseuche (MKS) trat im Umfeld von Greifswald seit Beginn der
Forschungsarbeit von Friedrich Löffler, der 1888 als Professor für Hygiene an
die Universität Greifswald kam und 1898 den Erreger der MKS als erster
beschrieb, immer wieder auf. Löffler hat zunächst in Greifswald geforscht. Dazu
war die Arbeit mit aktiven Viren notwendig. Das führte zu Seuchenausbrüchen im
Umfeld der Löfflerschen Forschungseinrichtung, so
dass die Einrichtung selbst zu einem großen Risiko für die Klauentierbestände
in Vorpommern wurde. Deshalb kaufte Preußen 1908 die Insel Riems und verlegte,
bei striktester Isolation, das Institut auf die Insel. Aus seuchenhygienischen
Gründen wurde die Insel für jeglichen Besucherverkehr gesperrt. Dieser Umstand
brachte bei erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit in der landschaftlich
reizvollen Gegend ein in späteren Zeiten oft hoch gelobtes Flair von Riems
hervor. Die Gründung des Instituts auf einer Insel war 1910 eine erfolgreiche
Seuchenschutzmaßnahme des Preußischen Staates, die der damaligen Zeit
entsprach, aber den Anforderungen ab den 60er/70er Jahre des vorigen
Jahrhunderts nicht mehr gerecht wurde.
Seuchenausbrüche,
die ihre Ursache in einem Tierseuchenforschungsinstitut hatten, gab es nicht
nur in der DDR. Aus umfangreichen Presseveröffentlichungen sind
Seuchenausbrüche in Südengland bekannt. Die Ursachen waren auch hier
Virusausbrüche, aber nicht aus einem »maroden DDR-Institut«, sondern aus dem
weltweit führenden Institut in Pirbright
(Referenzzentrum des Internationalen Tierseuchenamtes), von dem u. a. 2002 ein
großer Seuchenzug in England ausging. Auch Ausbrüche in späteren Jahren hatten
ihren Ursprung in diesem Institut bzw. den dazugehörigen Produktionsanlagen.
Im Tagesspiegel vom 25. August 2007 war zu
lesen, dass sich der englische Inlandsgeheimdienst MI5 mit den Ursachen des
MKS-Ausbruchs und möglichem Zugriff von Terroristen auf Virusbestände befasst
hat.
Nach
dem Zweiten Weltkrieg wurden zur Erfüllung der durch das Potsdamer Abkommen
Deutschland auferlegten Reparationsverpflichtungen auf der Riems die
Ausrüstungen und Einrichtungen nahezu vollständig demontiert. Obwohl der
Wiederaufbau durch die wirtschaftlichen Probleme der frühen DDR-Jahre und, was
den Zugang zu wissenschaftlichen Geräten betraf, durch das von den USA
initiierte Wirtschaftsembargo geprägt war, führte bereits 1950 die breit
angelegte Forschungsarbeit zur Entwicklung der RIEMSER Maul- und Klauenseuche-Konzentratvakzine. Diese ermöglichte die Reduzierung der
Impfdosis von 30 ml auf 5 ml. Die Klauenseuche-Konzentratvakzine
waren die Grundlage für die Einführung der Impfpflicht für Rinder über zwei
Jahre, die 1950 in der DDR als erstes Land weltweit eingeführt wurde.
Zahlreiche europäische Länder folgten diesem Beispiel.
Ab
1956 erfolgte gegenüber der Insel, in einem Neubau in Riemserort,
der heute ein Teil der RIEMSER Arzneimittel AG ist, die Entwicklung und
Produktion von Impfstoffen und Diagnostika zur Behandlung virusbedingter
Tierkrankheiten. In den 70er/80er Jahren konnten durch umfangreiche Arbeiten in
der angewandten Forschung die Impfstoffproduktion bedeutend erweitert werden.
Eine Reihe neuer Impfstoffe und Diagnostika kamen auf den Markt, darunter die heute
noch bekannten Präparate RIEMSER® Schweinepestvakzine, RIEMSER®IBR/IPV-Vakzine
und RIEMSER®Rinderleukose-Testbesteck.
1991
konstatierte der Wissenschaftsrat den Nutzen des Instituts und empfahl dessen
Erhaltung.
Die
aus der Gründungszeit des FLI stammende Seuchenschutzkonzept-Insellage
entsprach ab Mitte der 70er Jahre nicht mehr der gewachsenen Forschungs-
und Produktionsentwicklung. Das führte im unmittelbaren Umkreis Ende der 70er,
Anfang der 80er Jahre mehrfach zu regional eng begrenzten MKS-Ausbrüchen, als
dessen Erreger stets der MKS-Produktionsstamm ermittelt wurde. Diese
MKS-Ausbrüche im Umfeld des FLI waren in dieser Zeit die einzigen in der
ansonsten MKS-freien DDR. In gleicher Zeit waren in der BRD und Westeuropa
mehrere auf die Fläche verteilte MKS-Ausbrüche festzustellen.
Durch
das Institut, die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften, das zuständige
Landwirtschaftsministerium sowie die regionalen und zentralen Veterinärorgane
wurden die Ursachen der Seuchenausbrüche ermittelt und Maßnahmen zu ihrer
sofortigen Beseitigung eingeleitet. Im Zusammenhang mit Erweiterungen in
Forschung und Produktion erfolgte die Planung und Realisierung eines Neubaus,
der Ende der 80er Jahre fertig gestellt wurde und der den modernen Ansprüchen
des Seuchenschutzes entsprach.
Dass
sich das MfS mit Tierseuchen beschäftigte, ist eine unbestrittene Tatsache und
ergibt sich aus den Aufgaben zur Sicherung der Landwirtschaft gegen feindliche
(terroristische) Angriffe jeder Art. Im Tagesspiegel
vom 5. August 2007 las man, dass sich auch der englische Inlandsgeheimdienst
MI5 mit den MKS-Ausbrüchen befasst hatte.
Wie
in anderen Ländern auch oblag die Bekämpfung von Tierseuchenausbrüchen in der
DDR einer zentralen und territorialen Tierseuchenkommission. Ob die Inlandsgeheimdienste
in anderen Ländern in Tierseuchenkommissionen vertreten sind, ist nicht
bekannt. In der DDR war das MfS in diesen Kommissionen nicht vertreten.
Das
MfS hatte äußere und innere terroristische Angriffe gegen die Tierbestände zu
erkennen und zu verhindern, sowie strafrechtlich relevante grob fahrlässige
Verhaltensweisen, die zur Schädigung der Tierbestände führten, aufzuklären. In
diesem Sinne hat das MfS immer selbstständige Untersuchungen der Ursachen von
MKS-Ausbrüchen im Umfeld des FLI durchgeführt, in die vergleichsweise die
Ergebnisse der offiziellen staatlichen Ursachenermittlungen einflossen.
Aus
den Untersuchungen ergab sich, dass bis auf den einen Ausbruch 1982 allen
Ausbrüchen ein Grundmuster zu Grunde lag. Kontaminiertes Material, welches in
vorgeschriebenen thermischen Desinfektionsprozessen nicht oder nicht
hinreichend sterilisiert worden war, ist über Wirtstiere, im wesentlichen
Möwen, aber auch Schadnager, auf die Futterflächen der umliegenden
Landwirtschaftsbetriebe gelangt. Dort lösten sie eine Infektion mit einem meist
leicht beginnenden Krankheitsverlauf aus. Da die Tiere sofort gekeult und unter
speziellen veterinärhygienischen Maßnahmen entsorgt wurden, kam es zu keiner
Ausbreitung der Krankheit. Für die Leitung des FLI war deshalb die Verbesserung
der thermischen Desinfektion der Abwässer und die Verhinderung des Eindringens
von Wirtstieren eine permanente Aufgabe. Zur schnellen Klärung der Ursachen war
es für uns wichtig, schnellstmöglich mit eigenen Erkenntnissen den Ursachenkomplex
einzugrenzen.
Deshalb
nahm die MfS-Kreisdienststelle Greifswald diesen neuralgischen Bereich mit
Inoffiziellen Mitarbeitern unter Kontrolle. Obwohl nach jeden MKS-Ausbruch
dieser Bereich weiter entschärft wurde und auch im Umfeld Maßnahmen ergriffen
wurden, um die Übertragung durch Wirtstiere auszuschließen (Halteverbot von
Klauentieren in einem Umkreis um das FLI), war unstrittig, dass nur ein
Institutsneubau das Problem lösen konnte. Dieser Neubau wurde dann auch Ende
der 80er Jahre fertig gestellt.
Wichtigstes
Indiz für die Beurteilung der Ausbruchsursachen war für das MfS die
Differenzierung des Virustyps durch das FLI selbst, sowie eines ausländischen
Instituts. So konnte in allen Fällen, bis auf den Ausbruch 1982, festgestellt
werden, dass es sich um den in der Produktion verwendeten Virusstamm handelte.
Wie
richtig und wichtig diese Vorgehensweise für die MfS-spezifische Beurteilung
der Ursachen des MKS-Ausbruchs war, zeigte sich beim Ausbruch 1982, der sich zu
einem Seuchenzug durch die Bezirke Neubrandenburg und Rostock entwickelte. In
der für MKS-Ausbrüche günstigen meteorologischen Lage, feuchte, trübe, aber
frostfreie Wetterlagen, kam es 1982 in einer Rinderanlage in Murchin im Bezirk Neubrandenburg zu einen MKS Ausbruch, der
sich zu einem Seuchenzug entwickelte.
Bei
der Analysierung der Lage mussten wir feststellen, dass dieser Seuchenausbruch
wesentliche Besonderheiten zu den bisherigen MKS-Ausbrüchen hatte. So ergaben
erste Differenzierungen des Ausbruchsvirus, das in der Folge die Bezeichnung« Murchin« erhielt, dass es sich nicht um den
Produktionsstamm vom FLI oder eines Mutanten davon handelte.
Weiterhin
wich der Verlauf des Krankheitsausbruches wesentlich von dem bei früheren
Ausbrüchen, sowie dem in der Standardliteratur beschriebenen Verlauf ab. Die
Krankheit trat sofort mit sehr großer Heftigkeit auf. Diese wird in der
Literatur erst für den Höhepunkt der Erkrankung beschrieben. Gerade dieser
untypische Ausbruchsverlauf war als ein starker Hinweis auf eine
Fremdeinwirkung, mit dem Ziel, einen Seuchenzug auszulösen, zu interpretieren.
Die größte räumliche Entfernung des Ausbruchsortes der Seuche zur
DDR-Staatsgrenze West konnte ein Hinweis sein, dass mögliche Täter ein
Übergreifen auf die Tierbestände der BRD verhindern wollten. Die Entfernungen
und räumlichen Gegebenheiten schlossen eine Übertragung durch die bei
bisherigen Ausbrüchen aufgetretenen Wirtstiere aus.
Nachdem
sich der Murchiner MKS-Ausbruch zu einem Seuchenzug
entwickelt hatte und aus seuchenhygienischen Gründen Sperrmaßnahmen erlassen
werden mussten, wurden verstärkte Interessen der US-amerikanischen
Militärverbindungsmission aus Potsdam festgestellt. Obwohl es in dieser Zeit in
der DDR ein effektives Meldesystem gab, waren in vielen Fällen die Fahrzeuge
der Militärverbindungsmission noch vor der zentralen Ermittlergruppe, die sich
sofort nach Eingang der Meldung von Berlin aus zum befallenen Rinderbestand
begaben, vor Ort. Dafür, dass die US-amerikanische Militärverbindungsmission
nicht im Verteilerschlüssel von Seuchenmeldungen stand, kann sich der Autor
verbürgen. Das Seuchengeschehen von 1982 stand also im Interesse der CIA, die
das Meldesystem der DDR zu Spionagezwecke angezapft haben musste.
Diese
Besonderheiten waren nicht dazu angetan, einen gezielten Eintrag des MKS-Erregers
von außerhalb auszuschließen. Auch in den staatlichen Leitungsorganen und im
Parteiapparat der SED stand man dem Gedanken des äußeren Einflusses nicht
ablehnend gegenüber. Besonders die Tatsache, dass der Ausbruchsvirus nicht zum
Produktionsstamm gehörte, führte vielfach zu der Feststellung, dass es sich um
äußere Einwirkungen zum Schaden der DDR handeln könnte.
Diese
Haltung wurde im Bezirk Rostock am deutlichsten. In der Rindergroßanlage Born
auf Usedom war nach einem ersten MKS-Ausbruch, der Keulung
des Bestandes, der Desinfektion der Ställe und der Neuaufstallung
ein erneuter MKS-Ausbruch erfolgt. Eine Kontrolle der desinfizierten, aber noch
nicht neu aufgestellten Ställe ergab, dass die Desinfektion nicht mit der
erforderlichen Sorgfalt erfolgt war, so dass sich noch in erheblichem Umfang
kontaminiertes Material fand. Nach dem Neuausbruch wurde der Leiter der
Bezirksverwaltung Rostock zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung bestellt, der
ihm vorhielt, dass wohl mit dem erneuten Ausbruch auf dem Born der Hinweis auf
feindliches Handeln gegeben sei und das MfS nun seiner Aufgabe, den Feind zu
finden, nachkommen müsse.
Diese
Feindvermutung konnte mit dem Nachweis der ungenügenden Desinfektion entkräftet
werden.
Es
war also nicht zu übersehen, dass die Besonderheiten des Seuchenausbruchs in Murchin durchaus Ansatzpunkte äußerer Einwirkungen, beim
MI5 »terroristische Handlungen« genannt, aufwiesen. Es existierten auch
zahlreiche, teils sehr skurrile Mutmaßungen zu den Ausbruchsursachen. Eine hat
sich teilweise bis heute erhalten – die Seuche sei aus Polen eingeschleppt
worden. Sie wurde in die Welt gesetzt, um nach einem Seuchenausbruch auf der
dänischen Insel Fünen vom Riems abzulenken.
Unabhängig
von der gesamten Hektik um mögliche Ursachen hat die HA XVIII/6 mit großer
Gründlichkeit und, gestützt auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, die
o. g. Lageanalyse erarbeitet und zur Grundlage der weiteren Untersuchung
gemacht. Unsere Untersuchungen ergaben, dass sich der Virusstamm, der den
Ausbruch in Murchin verursacht hat, im Bestand des
Forschungsbereiches des FLI befand. Weiterhin konnten wir ermitteln, dass zu
Forschungszwecken in der Inkubationszeit – also der Zeit zwischen der
Ansteckung und Ausbruch der Krankheit – mit dem Virusstamm Untersuchungen an
Schweinen durchgeführt wurden. Zu diesem Zweck wurden Schweine mit diesem Virus
infiziert. Es ergaben sich auch Hinweise, dass Mängel bei der sterilen
Beseitigung des infizierten und hoch aggressiven Materials aufgetreten sind.
Unsere Ermittlungen wurden durch die Differenzierung des entsprechenden
Virusstammes vom Riems und des Ausbruchsstammes von Murchin
und der Bestätigung ihrer Identität bewiesen.
Damit
konnte auch das zweite Problem des untypischen Ausbruchsverlaufes, die sofort
aufgetretene hohe Aggressivität, geklärt werden. In der Literatur und den
Erfahrungen der Forschung ist belegt, dass MKS-Viren, die von erkrankten
Schweinen ausgeschieden werden, mit einer vielfach höheren Aggressivität auf
Rinder wirken als Viren, die von erkrankten Rindern stammen. Dies wurde auch im
Verlauf des Seuchenzuges sichtbar, in dem der Krankheitsausbruch und Verlauf
sich immer mehr dem typischen, in der wissenschaftlichen Literatur
beschriebenen Verlauf annäherte, bis keine Besonderheiten mehr auftraten.
Um
eine Fremdeinwirkung zweifelsfrei auszuschließen, musste auch der
Übertragungsweg geklärt werden. Zu Beginn der 80er Jahre des vorigen
Jahrhunderts waren die Kenntnisse zur Windübertragung noch nicht in dem Maße
gesichert wie heute. Bei einer Reise zum europäischen Reverenzzentrum
für MKS im englischen Pirbright konnte ein
DDR-Wissenschaftler, der in unserem Auftrag die Differenzierung des
Ausbruchsvirus und des Forschungsvirus hatte durchführen lassen, die aktuellen
Fähigkeiten des englischen Instituts ermitteln und durch eine
Computersimulation die Möglichkeit der Luftübertragung prüfen. Das veranlasste
uns, die erforderlichen meteorologischen Daten zu ermitteln und in Pirbright eine Simulation zu erstellen. So konnte der Weg
des Virus vom Riems nach Murchin und auch die
Überlebensfähigkeit nach dem Lufttransport nachgewiesen werden.
Bleibt
noch die Klärung des hohen aktuellen Interesses der Militärverbindungsmission
an den Seuchenobjekten. Mit dem Abklingen des Seuchenzuges und der Lockerung
bestimmter Sperrmaßnahmen gingen auch die Feststellungen o. g. Fahrzeuge
zurück. Eine endgültige Klärung ergab sich einige Zeit später, als uns die
Linie II (Spionageabwehr) bat, eine Information zu bewerten. Ein mit Kenntnis
des MfS mit der CIA zusammenarbeitender DDR-Bürger war ausführlich zu dem
Seuchengeschehen im Frühjahr 1982 befragt worden, mit dem Hintergrund, ob es
sich evtl. nur um Scheinmaßnahmen gehandelt haben könnte, um die Verlegung
sowjetischer Raketen zu tarnen.
So
konnte das MfS und der MI5 gegenüber ihren Regierungen hinsichtlich eines
feindlichen Angriffs, wie es in der DDR hieß, oder eines Terroranschlags
abwinken. Auf Grund welcher Erkenntnisse der MI5 abgewunken
hat, wird man wohl nie erfahren, was das MfS gemacht hat, ist nun bekannt.
Die
Ergebnisse unserer Arbeit wurden stets zur gegebenen Zeit mit dem Leiter der
Hauptabteilung Veterinärwesen im Ministerium für Land-, Forst- und
Nahrungsgüterwirtschaft (MfLF) ausgewertet. Dies
schon deshalb, weil er unsere Untersuchungen wesentlich unterstützt hat und
unsere legalisierte wissenschaftlich belegte Analyse über die Ursache des
Seuchenausbruchs für ihn eine wichtige Arbeitsgrundlage war.
Zusammengefasst
wurden die Ergebnisse unserer Arbeit in einer Information an Erich Honecker
gegeben. Ob er diese im Original oder wie üblich erst in der Westpresse gelesen
hat, vermag ich nicht zu sagen.
Zum
Abschluss noch drei Bemerkungen:
Einige
fordern, dass sich die Mitarbeiter des MfS bei der »Aufarbeitung ihrer
Vergangenheit« entschuldigen mögen. Ja, ich will mich entschuldigen: bei den
Wissenschaftlern, Veterinären und allen anderen ehemaligen DDR Bürgern, die uns
aus ehrlicher Überzeugung geholfen haben, so komplizierte und komplexe Aufgaben
wie die oben beschriebenen zu lösen. Es ist nicht möglich gewesen, nach dem
Untergang der DDR den Schaden, der sich für sie aus der Unterstützung, die sie
uns gewährt haben ergeben hat, abzuwenden.
Dem
Leiter der Hauptabteilung Veterinärwesen im MfLF der
DDR wurde bei der ersten Sitzung des internationalen Tierseuchenamtes in Paris,
nach dem Ende des Seuchenzuges, zur erfolgreichen Überwindung des
MKS-Seuchenzuges Gratulation und Anerkennung ausgesprochen. Seine Kollegen,
insbesondere auch aus der BRD, zeigten allergrößtes Interesse an den in der DDR
bei der Seuchenbekämpfung erlangten Erfahrungen. Es mag heute komisch klingen,
dass die Chefs der europäischen Veterinärbehörden in entsprechender Form die
Ergebnisse des MfS zum Seuchenausbruch 1982 in den folgenden Jahren zur
Kenntnis erhielten. Sie waren also nicht erst auf die oberflächlichen und
tendenziösen Ergüsse einer Frau Dr. Rathke vom ADN-Büro Rostock in 2010 angewiesen.
Ich
habe aber auch noch eine weitere herbe Enttäuschung für Frau Dr. Rathke: Auf
dem Gelände des FLI wurde in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein neuer
Gebäudekomplex errichtet, in dem die Forschungs- und Produktionsbedingungen
sowie die des Seuchenschutzes wesentlich verbessert werden konnten. Um dem
neuesten internationalen Stand zu entsprechen, waren Expertengruppen auch in
der BRD unterwegs. Aus Gesprächen mit Verantwortungsträgern auf dem Gebiet des
Veterinärwesens, der Tierproduktion und der Agrarwissenschaft weiß ich, dass
die Informationen des MfS nicht alleinige Entscheidungsgrundlage für Neubau und
den Seuchenschutz waren, dazu hatten wir ja auch nur eine spezifische Seite des
Seuchengeschehens zu untersuchen, aber unbedeutend für die Entscheidungsträger
waren sie nicht. Die Behauptung von Frau Dr. Rathke, die DDR sei nicht in der
Lage gewesen, entscheidende bauliche Veränderung vorzunehmen und auch das MfS
hätte daran nichts ändern können, ist schlichtweg falsch, gelogen,
offensichtlich um zu diffamieren und zu diskreditieren.
Aufgrund
staatlicher Regelungen, Informations- und Entscheidungsstrukturen wurden wir
mit einer Vielzahl von Vorkommnissen und Prozessen konfrontiert, die mit der
originären Abwehrarbeit nicht unmittelbar zu tun hatten, aber aufgrund der
komplizierten Lage die Aufmerksamkeit der zuständigen Diensteinheiten
erforderten. Zwei Ereignisse, die beide mit der Nahrungsgüterversorgung der
Sowjetunion im Zusammenhang standen, halte ich für wichtig genug, sie hier zu
erwähnen.
Ende
Januar 1979 erfolgte der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan. Darauf
verhängte die USA ein Getreideembargo gegenüber der Sowjetunion. Die Sowjetunion
hatte im Herbst, bis das Wintereis den Schiffsverkehr auf den Großen Seen im
Nordosten der USA und Kanada zum Erliegen brachte, die erforderliche
Getreidemenge gekauft, die zu diesem Zeitpunkt bereits in den Russischen Häfen
angelandet waren oder sich noch auf See befanden.
In
der ersten Woche des Jahres 1980 unterrichtete mich der Generaldirektor des
Außenhandelsbetriebes Nahrung in einem vertraulichen Gespräch, dass durch
Vermittlung der Hamburger Getreidehandelsfirma Alfred C. Toepfer International,
US-amerikanische Landwirtschaftsexperten und Getreidehändler zu Verhandlungen
in der DDR weilten, um Wege zu erkunden, wie das noch in den Getreidespeichern
an den großen Seen lagernde Getreide, welches für den sowjetischen Markt
bestimmt ist, trotz des Embargos in die Sowjetunion gelangt. Die amerikanische
Seite hat sehr nachdrücklich auf entsprechende Hilfe der DDR bestanden, da das
Getreide nach der Winterperiode rechtzeitig verschifft werden musste, um
Lagerkapazität für die neue Ernte zu schaffen. Auf diesem Weg gelangten auch
umfangreiche Interna über die Ausgestaltung und Handhabung des Embargos durch
die US-Behörden in die DDR. Ohne auf Details einzugehen, ist mir heute noch
erinnerlich, dass die DDR den USA-Händlern und der Sowjetunion geholfen hat,
das Getreideembargo der US-Administration zu umgehen.
Eine
interessante Frage kann sich heute, nach fast 35 Jahren, für den aufmerksamen
Leser ergeben: Hat die DDR damit dem sowjetischen Bündnispartner oder dem
Klassenfeind geholfen? Zur Hilfe für den Bündnispartner war die DDR sicherlich
verpflichtet, aber insgesamt hat die DDR an den Geschäften zur Umgehung des
Embargos, inklusive aller Folgegeschäfte, nicht schlecht verdient. Dazu gehörte
auch, dass die Sowjetunion in nicht unerheblichem Maße die zur Kompensation des
Embargos aus der DDR erfolgten Getreide-, Futtermittel- und Fleischlieferungen
mit Erdöl bezahlte, welches nach Verarbeitung in der Raffinerie in Schwedt als
Treibstoff in Westeuropa verkauft wurde. Heute kann man in einschlägigen Quellen
nachlesen, wie viele Handelslinien und Länder an dem Getreideembargo verdient
haben, indem sie den USA halfen, Jahr für Jahr das Getreide zu den Verbrauchern
in der Sowjetunion zu bringen. Damit wird aber auch sehr klar, welcher zahnlose
Papiertiger das Getreideembargo der US-Administration war. Wirksamer war da
schon die Aufrüstung der Taliban unter Osama Bin Laden. Aber die negativen
Folgen dieser gegen die Sowjetunion gerichteten Aktion trafen die Amerikaner
schneller als gedacht selbst. Nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus
Afghanistan zeigen schon mehrere Jahrzehnte, dass es den USA ergeht wie dem
Zauberlehrling in Goethes gleichnamiger Ballade. Während Goethes Zauberlehrling
mit den Worten »Die ich rief, die Geister, / werd’
ich nun nicht los« den Meister ruft, kann der mit den Worten »In die Ecke,
Besen, Besen! Seid’s gewesen« die Situation
bereinigen, jedoch hat der nach dem Abzug der sowjetischen. Truppen aus
Afghanistan einsetzende Terror unzählige Menschenleben gekostet und Leid
gebracht, und das bis in das Zentrum der USA mit den Anschlägen gegen das World
Trade Center.
Wenn
ich heute Medien-Berichte aus der »Stasi«-Unterlagenbehörde lese, fällt mir
immer wieder auf, wie undifferenziert von den laufenden Metern Akten als
Ausdruck der »Unterdrückung« der DDR-Bevölkerung gesprochen wird. Auch wegen
der Aktionen zur Umgehung des Getreideembargos, die auf Bitten der US-Vertreter
in der DDR eingeleitet wurden, sind in meiner Abteilung mindestens ein
laufender Meter Akten angefallen, dazu kommt in anderen Diensteinheiten durch
die Ablage von Berichten und Informationen vermutlich ein gleicher Aktenumfang.
In
den letzten Jahren meines Dienstes im MfS war ich nochmals mit
Nahrungsgüterlieferungen in die Sowjetunion befasst. Auch für sie trifft hinsichtlich
der angefallenen Papiermenge dasselbe zu wie beim eben Erwähnten. Der
Ausgangspunkt lag weit außerhalb der von uns zu lösenden Aufgaben. Die Gorbatschowsche Perestroika hatte für die sowjetische
Landwirtschaft, wie auch in anderen Bereichen, katastrophale Auswirkungen. Das
veranlasste den KPdSU-Generalsekretär, sich 1987 persönlich an den
Generalsekretär des ZK der SED, Honecker, zu wenden und um eine größere
Lieferung Kartoffeln für die Winterversorgung der Moskauer Bevölkerung zu
bitten. Die Lieferungen erfolgten im Herbst 1987.
Das
MfS hatte damit weder etwas zu tun geschweige denn davon Kenntnis.
Nach
meinen Erinnerungen brach 1988 für den Bereich Sicherung der Landwirtschaft der
HA XVIII ein Sturm los, weil sowohl über das ZK der SED als auch über die
sowjetische Dienstelle in Karlshorst energische
Proteste einliefen, da die von der DDR auf Bitten von Gorbatschow, nach Weisung
von Honecker, gelieferten Kartoffeln von äußerst schlechter Qualität gewesen
waren, so dass sie nicht zur Versorgung der Moskauer Bevölkerung geeignet
waren. Auch die Verdächtigung, dass damit der Sowjetunion und Gorbatschow nicht
geholfen, sondern in dem komplizierten Prozess der Perestroika eher geschädigt
werden sollte, lag in der Luft.
In
dieser Situation erhielt ich den Auftrag, die Ursachen zu ermitteln und für
qualitätsgerechte Lieferungen zu sorgen. Die Ursache war schnell gefunden. Laut
Vertrag hatte die DDR die Kartoffeln am Kai im Rostocker Hafen bereitzustellen.
Ab Kai Rostock war der weitere Transport in der Verantwortung der sowjetischen
Seite. Praktisch sah es so aus, dass die Kartoffelzüge teilweise Tage im
Rostocker Hafen standen, weil keine geeigneten Schiffe eintrafen. Die Sowjets
wollten Hafenschuten, teilweise sogar offen, und andere für den Transport
von Kartoffeln ungeeignete Fahrzeuge nutzen. Zum Beladen wurden Soldaten
der Roten Armee abgestellt, die keinerlei Kenntnisse zur Verladung von
Kartoffeln hatten und auch alle Angebote, sie in der Verladung zu unterweisen,
zurückwiesen. Nachdem wir das geklärt hatten, erhielten wir den Auftrag, dafür
Sorge zu tragen, dass die Kartoffeln in hoher Qualität nach Moskau gelangten.
Da
das Transportsystem nicht geändert wurde, war das ein ziemlich kompliziertes
Problem. Der Kartoffelexport in die Sowjetunion war politisch so hoch
angehängt, dass wir täglich zu berichten hatten. Selbst während der Tagung des
Politisch Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages 1989 wurde täglich
mit der Kuriermaschine um 6 Uhr die Tagesinformation nach Bukarest geschickt.
Etwa
im Herbst 1990 las ich in der Zeitung, dass Kanzler Helmut Kohl auf persönliche
Bitte von KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow für die Winterversorgung der
Moskauer Bevölkerung die Lieferung von Speisekartoffeln zugesagt habe. Mit der
Abwicklung sei der Stellvertretende Kanzleramtsminister Horst Teltschik
beauftragt worden. Da Teltschik mit der Koordinierung der Geheimdienste in der
damaligen Zeit befasst war, hat wohl Gorbatschow in Erinnerung an den
reibungslosen Ablauf des Kartoffelexportes unter der Regie der
Nachrichtendienste der DDR auf der Abwicklung in gleicher Weise bestanden.
Gern
hätte ich meine Erfahrungen Herrn Teltschik zur Verfügung gestellt, aber wir
waren ja zwischenzeitlich zu Unpersonen geworden, und die Unterlagen zu den
Kartoffellieferungen galten und gelten, gemessen in laufenden Metern, als
Ausdruck der Unterdrückung.
Am
Ende meiner Dienstzeit im MfS wurde ich zu einer Arbeitsgruppe in Erfurt
abkommandiert, die im Auftrag der Modrow-Regierung für die Zusammenarbeit mit
dem »Runden Tisch« bei der Auflösung der Dienststellen der Bezirksverwaltung
für Staatssicherheit Erfurt zuständig war.
Im
Februar 1990 erhielt der Leiter der Arbeitsgruppe die Information, dass im März
in Erfurt eine Großkundgebung mit Bundeskanzler Helmut Kohl stattfinden wird.
Alle vorbereitenden Maßnahmen liefen über die Bezirksverwaltung der Deutschen
Volkspolizei (BDVP). Wohl aus den ersten Arbeitskontakten der Sicherungsgruppe
Bonn des Bundeskriminalamtes und des Operativstabes der BDVP erfuhren wir, dass
von den zuständigen Beamten der Sicherungsgruppe Bonn, die offensichtlich aus
früheren Einsätzen die Erfurter Verhältnisse gut kannten, die zuständigen
Mitarbeiter der Bezirksverwaltung des MfS vermisst wurden. Daraus ergab sich
eine mehrtägige Erörterung der Lage durch die Herren des »Runden Tisches«, in
die ich nicht involviert war.
Schließlich
erhielt ich den Auftrag, nach einer Liste Akten zusammenzustellen, die wir
übergeben sollten. Diese Akten sind dann in Räumen der MfS-Bezirksverwaltung
von mir genau nach der Aufstellung an einen mir namentlich nicht mehr bekannten
Kirchenmann übergeben worden, der sie sofort an den Stabschef der BDVP übergab,
der wiederum für den Abtransport an die Beamten der Sicherungsgruppe Bonn
verantwortlich war.
Ob
die Beamten der Sicherungsgruppe Bonn zu den entlassenen Mitarbeiten der BV
Erfurt, die sie aus früheren Einsätzen offensichtlich kannten, Kontakt
aufgenommen haben, ist mir nicht bekannt, die uns übergebene sehr exakte
Aufstellung der zu übergebenden Akten sind aber ein starkes Indiz dafür. Da die
Akten im Auftrag des Erfurter »Runden Tisch« und ordentlich dokumentiert
übergeben worden waren, hatte sich die Sache für uns erledigt.
Äußerst
erstaunt war ich, als etwa im Herbst 1990 bis zum Frühjahr 1991 in Presse und
Rundfunk eine Meldung auftauchte, die immer wiederholt wurde, dass im Februar
1990 durch noch in Erfurt tätige MfS-Mitarbeiter aus Berlin mit Lkw Akten aus
der ehemaligen Bezirksverwaltung abtransportiert worden seien. Schließlich fand
ich diese Darstellung in einem Spiegel-Artikel.
Hier wurde die unbewiesene und pauschale Behauptung aufgestellt, die Akten
seien durch uns der Aufarbeitung entzogen worden. Als Beweis dienten
offensichtlich die aufgefundenen Entnahmevermerke und Berichte von Bürgern, die
die Lkw der Volkspolizei beobachtet hatten. »Aufmerksame Bürger haben den
Abtransport der Akten beobachtet« hieß in den Pressebeiträgen. Ordentliche
Journalisten hätten mit einer Anfrage bei den Mitgliedern des »Runden Tisches«,
der Polizei oder den damals in Erfurt eingesetzten Beamten der Sicherungsgruppe
Bonn die Wahrheit ermitteln können, nur die Wahrheit ist für die
Diskreditierung der Mitarbeiter des ehemaligen MfS ungeeignet.
Der
Sensationsgehalt der Meldung über die in Erfurt verschwundenen Akten wurde noch
mit einer weiteren Lüge aufgepeppt. Da im Januar/Februar 1990 bestimmte Gruppen
begannen, ihre Aktivitäten in den Bezirken der DDR zentral von Berlin zu
steuern, erfolgten regelmäßig Reisen nach Berlin. Der »Runde Tisch« hatte dazu
festgelegt, dass aus dem Bestand der Bezirksverwaltung des MfS an einige
Vertreter Pkw mit Tankkreditheften zu übergeben seien. Bei der ersten Fahrt
rutschte ein Pkw bei Glatteis auf dem Berliner Ring von der Autobahn. Uns
wurden sofort Manipulationen an dem Auto als Unfallursache unterstellt. Der
Unfallbericht der Volkspolizei wies unangemessenes Fahren bei Straßenglätte,
also zu hohe Geschwindigkeit, als Ursache aus, bei dem es Schäden am Fahrzeug
gegeben hatte.
Nachdem
wir, wie mir erinnerlich ist, Kopien des Unfallberichtes dem »Runden Tisch« und
dem Fahrer zugestellt hatten, beruhigte sich damals die Sache. Erstaunt war ich
nun, dass der Vorwurf, wir hätten mit einem manipulierten Auto einen Anschlag
auf einen Angehörigen des »Runden Tisches« verübt, nunmehr offiziell publiziert
wurde. Der Schreiber hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, darüber
nachzudenken, dass der von ihm behauptete Sachverhalt strafrechtliche
Konsequenzen hätte nach sich ziehen müssen, die aber bei der Unfallursache –
nicht angemessene Fahrweise bei glatter Fahrbahn – nicht einzuleiten waren.
Wahrheitsgemäße Berichterstattung waren und sind für die Verteufelung des MfS
und ihrer Mitarbeiter aber nicht geeignet.
Am
28. Februar 1990 schied ich nach 25 Dienstjahren aus den MfS aus und nahm am 1.
März 1990 eine Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen auf. An der Erhaltung und
dem Ausbau dieser Einrichtung unter den neuen rechtlichen und wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen, sowie einen möglichst störungsfreien Übergang in der
Patientenversorgung bei sicheren Arbeitsplätzen des Personals, konnte ich in
verantwortungsvoller Tätigkeit mitwirken. Auch einiges Bewährte aus dem
Gesundheitssystem der DDR konnte dadurch trotz aller Anfeindungen in der BRD
erhalten werden. Erwähnenswert scheint mir noch, dass die Erfahrungen bei der
Überführung von Einrichtungen aus dem sozialistischen Gesundheitswesen in das
BRD-Gesundheitsrecht in verschiedenen Projekten auch den Russischen
Gesundheitsbehörden vermittelt werden konnten.
Es
stellt sich auch mir – wie meinen ehemaligen Mitstreitern – die Frage: Was ist
aus dem anderen Leben, welches besser sein sollte, für welches ich mich Ende
der 40er Anfang der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts bekannte, geworden?
Heute muss ich feststellen, dass der Versuch, im letzten Jahrhundert in einem
umfassenden weltumspannenden revolutionären Prozess eine
frei von Ausbeutung, eine sozial gerechte Welt zu schaffen, gescheitert ist.
Die heutige Zeit wird m. E. durch die Aussage eines Kindes in der Sendung des Hessischen Rundfunks am 19. Januar 2014
treffend charakterisiert. Auf die Frage nach seinen Wünschen antwortete das
Mädchen, »dass ihre Mutter so viel Geld haben solle, dass sie immer ausreichend
Brot kaufen kann«. In diesem Sinne hat das Lied »Das neue Leben muss anders
werden, als dieses Leben, als diese Zeit, da darf’s kein Hungern, kein Elend
geben, packt alle an, dann ist es bald soweit …« in dem reichen Deutschland
heute nicht an Aussagekraft verloren – im Gegenteil, es ist mit seiner
Botschaft aktueller denn je. Das Ziel der USA, als Weltgendarm alle auf die
Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch Menschen gerichteten Aktivitäten
auszumerzen, auch mit militärischen Mitteln, ist die Realität unserer Tage.
Wenn man einen Beweis für diese Hegemoniebestrebungen braucht – siehe die Rede
von US-Präsident Obama vom 17. Januar 2014.
Die
Verteufelung der DDR, allen voran ihres Geheimdienstes, dient nur dem Ziel, das
Andenken an den Versuch eines ganzen Volkes unter Führung einer marxistischen
Arbeiterpartei, eine sozial gerechtere Gesellschaft aufzubauen, auszulöschen.
Karl
Kautsky schrieb 1909 in seinem Buch »Vorläufer des
neueren Sozialismus«: »Aber die wütenden Angriffe, welche die Anwälte der
herrschenden Klassen seit Luther und Melanchthon bis auf unsere Tage gegen
Münzer mehr als gegen jeden anderen Kommunisten und Revolutionär seiner Zeit
[…] richten, sind gerade das mächtigste Mittel geworden, das Andenken an ihn im
Volke wachzuhalten und ihm dessen Sympathien ungeschmälert zu bewahren. Münzer
war und ist heute noch im Volksbewusstsein die glänzendste Verkörperung des
rebellischen, ketzerischen Kommunismus.«
und einen
Turbinenpapst
Von
Gerd Vogel
Jahrgang
1939; Diplom-Staatsrechtler; MfS 1957-1989; Oberstleutnant a. D.; zuletzt
Referatsleiter in der HA XVIII
Als
14-jähriger Geraer, Sohn eines Angestellten, erhielt ich die Möglichkeit, bis
zum Abitur die Internats-Oberschule Wickersdorf,
Kreis Saalfeld, zu besuchen. Ich gehöre also zu den »Wickersdorfern«,
deren Leben angeblich durch die menschenverachtenden Methoden der »Stasi«
dauerhaft geschädigt wurde. So zumindest lautet das Ergebnis der so genannten
Aufarbeitung, wie sie u. a. von den Fernsehanstalten des öffentlich-rechtlichen
Fernsehens mit dem Film »Stasi auf dem Schulhof« nun schon seit mehreren Jahren
dem herrschenden Zeitgeist dienend, betrieben wird.
Historisch
verbürgt ist die jahrzehntelange humanistische Tradition der Wickersdorfer Lehrstätte, die 1906 als »Freie Schulgemeinde
Wickersdorf« gegründet und damit eine Alternative zur
überkommenen preußisch-deutschen Bildungs- und Erziehungsarbeit angestrebt
wurde. Mit Unterbrechung während der faschistischen Herrschaft in Deutschland
wurden junge Menschen zu sich frei entscheidenden Persönlichkeiten geformt,
ausgerüstet mit Verantwortungsbewusstsein und Selbständigkeit für die
Gestaltung ihres Lebens.
Nach
1945, mit dem Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung im Osten
Deutschlands, wurde die Erziehung von den Gedanken des Friedens unter den
Völkern, sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität geprägt. Einen
hohen Stellenwert hatte das Erlernen der russischen Sprache, eine Tradition
seit Gründung der Wickersdorfer Internatsoberschule
zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1964 wurde sie als »Spezialschule zur
Vorbereitung auf das Russischlehrer-Studium« eingerichtet. Den Anschluss der
DDR an die BRD überlebte die »Spezialschule« nicht. Der Bedarf an
Russischlehrern schwand und eine so genannte Rote Kaderschmiede passte schon
gar nicht in die Konzepte des bürgerlichen Rechtsstaates. Durch das
Kultusministerium des Freistaates Thüringen wurde die traditionsreiche Schule
1991 endgültig geschlossen.
Ich
war Wickersdorfer Schüler von 1953 bis 1957. Im
Abiturjahr erhielten mehrere meiner Klassenkumpels ein Angebot aus Gera, der
Bezirksstadt, sich als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
verpflichten zu lassen. Vor diese Frage wurde auch ich gestellt. Alle
Angesprochenen sagten zu und ich war dabei. Diese Entscheidung entsprach meinem
bisherigen Lebensweg, nichts Spektakuläres. Eher erwartete ich eine spannende
und nützliche Arbeit – später sagt man dazu gesellschaftlich nützlich – egal
wie, ich hatte nach den Gesprächen mit dem Werbeoffizier aus Gera meine
Entscheidung getroffen. Diese Gespräche fanden nicht heimlich auf einem Hinterhof
oder auf Waldwegen statt, sondern im Schulhaus des Internates. Das alles war
mit keinen geheimnisumwitterten Aufträgen zur Beschaffung von Informationen u.
ä. gekoppelt. Ich erhielt die Perspektive, nach erfolgreichem Besuch einer
speziellen Hochschule im so genannten operativen Dienst zu arbeiten, und zwar
an einem Ort, der vom MfS bestimmt werden wird. Operativer Dienst habe zum
Inhalt, verschiedene Vorkommnisse zu klären, Menschen zu suchen, die dabei
Hilfe geben könnten und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Im Vordergrund der
Gespräche mit dem Werbeoffizier stand die politische Motivation zur
Notwendigkeit des Schutzes unseres Staates und seiner Bürger vor feindseligen
Anschlägen von außen und dem Auffinden von Helfershelfern im eigenen Land. Mein
Vater hatte mit meiner Entscheidung kein Problem, meine Mutter war
überängstlich. Das beruhigte sich aber, nachdem ich in meinen ersten Urlauben
gesund und munter zu Hause wieder auftauchte.
Wir
Schulkumpels trafen uns also wenige Tage nach dem Abitur in der
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Gera wieder – als Wachsoldaten im
Range von Anwärtern. Dieser Dienst ging bis September und dann wurde wieder die
Schulbank gedrückt – zwei Jahre als Offiziersschüler an der Schule des MfS in
Potsdam-Eiche, Absolvent mit dem Dienstgrad Unterleutnant und wieder Einsatz in
der BV Gera. Nach einem reichlichen Jahr mit operativem Dienst stand die Frage
meiner Versetzung nach Berlin in eine Abwehrdiensteinheit, die Verantwortung
für die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im Industriezweig der
chemischen Industrie der DDR trug. Ich sagte zu und damit endgültig dem
Thüringer Land ade. Im chemischen Fach gelandet, hatte ich lediglich den völlig
bedeutungslosen Vorteil, Begriffe wie Caprolactam
oder Dimethyltherephtalat ohne zu stolpern hersagen
zu können – alles andere war Neuland und ich erneut ein lernender Anfänger.
Im
Folgenden geht es um Begebenheiten aus meiner dienstlichen Tätigkeit auf der
Linie III (später als Linie XVIII bekannt), die vor über 50 Jahren geschehen
sind und seinerzeit nach mehrjähriger intensiver Arbeit ein vorläufiges Ende
gefunden hatten. Vorläufig deshalb, weil der konkrete Fall zwar geklärt werden
konnte, aber an anderen Orten und Situationen gleiches Übel erneut vorbereitet
wurde und geschah. Viele Einzelheiten meiner Darstellungen können zurzeit nicht
durch Dokumente belegt werden. Auch mir als ehemaligen Mitarbeiter des MfS wird
immer noch der Zugriff auf wesentliche Teile des beim »Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR« (BStU) eingelagerten Schriftgutes verwehrt. Dazu müsste man
sich schon einen so genannten privilegierten Archivzugang »erarbeitet« haben,
z. B. durch Andienen bei Springer oder anderen politikkonformen Einrichtungen,
Stiftungen und Anstalten.
Die
operativen Arbeitsunterlagen, insbesondere die Operativen Vorgänge (OV) der
Sicherheitsorgane und schon gar die Akten über durchgeführte Prozesse an
DDR-Gerichten, sind für die BStU und deren
eigentliche Auftraggeber aus Wirtschaft und Politik begreiflicherweise eine
äußerst heiße Ware. Es handelt sich dabei um Aktenkilometer des Archivbestandes
1 und 2 der Behörde, welche Einblick in die Pläne und Aktionen der westlichen –
nicht nur der bundesdeutschen – Konzerne, staatlichen und privaten
Einrichtungen und Organisationen gegen die DDR und die anderen sozialistischen
Länder geben würden. Stattdessen bleibt die dargebotene Wahrheitsfindung beim
Spektakel über enttarnte Inoffizielle Mitarbeiter und Offiziere im besonderen
Einsatz (OibE) stehen. Die eigentliche Schieflage
besteht jedoch darin, dass alle archivarischen Überlieferungen der DDR offen
liegen, für die Bestände, welche die BRD betreffen, dagegen die 30-jährige
Benutzersperre gilt, für sensible Bereiche (Außenministerium, Geheimdienste)
kann das auch länger sein.
Also
– meine nachfolgend zu Papier gebrachten Erinnerungen umfassen nur einen
spaltbreiten Blick auf meinen Anteil in der politisch-operativen
Sicherungsarbeit im Industriezweig der chemischen Industrie der DDR. Die uns
übertragene Aufgabe lautete: Knapp fünfzehn Jahre nach Kriegsende zu
verhindern, dass die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges im Osten Deutschlands
enteigneten und abgestraften Ostlandritter doch noch ihre Ziele, die sie nie
aufgaben, erreichen. Und wir hatten diese Vorhaben speziell in unserem
Aufgabenfeld, den Betrieben und Einrichtungen der chemischen Industrie, zu
verhindern.
Die
Lage dort stellte sich uns in ihrer Entwicklung nach 1945 folgendermaßen dar:
Nach Zerschlagung des Hitlerfaschismus mussten die bundesdeutschen Chemieführer
keinen besonders starken Druck auf die Adenauer-Regierung ausüben, um die
Enteignung des IG Farben-Imperiums zu verhindern. Im Ergebnis wurde die so
mächtige deutsche Chemieindustrie nicht abgewickelt, sondern lediglich halbherzig
entflochten. Heute sind die IG-Nachfolger Bayer, Hoechst und BASF jede für sich
reicher, als es das IG Farben-Kartell jemals war. Eine Wiedergeburt der IG
Farben nach den Vorstellungen der ehemaligen Wirtschaftsführer konnte nicht
erfolgen, da nur weniger als die Hälfte des Besitzes in den Westzonen lag.
Allein daraus erweist sich schon der revanchistische Anspruch auf die sich in
den späteren sozialistischen Ländern befindlichen und verloren gegangenen
Werke.
Die
Strategie der gegen die DDR angetretenen Kräfte wurde recht deutlich
ausgesprochen zur Aktionärsversammlung der IG-Farben im Mai 1955 in Frankfurt
am Main unter Leitung des Bankiers Hermann J. Abs. Dessen Ausführungen wurden
in der Wochenzeitung Die Zeit vom 19.
Mai 1955 so kommentiert: »Die Liquidatoren rechnen damit, dass die Abwicklung
des West-Vermögens der IG noch etwa sechs bis acht Jahre dauern wird. Aber auch
dann wird die Löschung des Namens im Handelsregister nicht erfolgen können,
weil die Firma als solche mit Rücksicht auf das Ost-Vermögen erhalten bleiben
muss. Eine Verwertung jenes gewaltigen Ost-Vermögens ist für die Liquidatoren
erst nach dem Tage X der Wiedervereinigung übersehbar. Soweit Nachrichten
vorliegen, kann gesagt werden, dass die großen ostdeutschen IG-Betriebe gegenwärtig
(1955 – d. Verf.) etwa 100.000 Menschen, davon Bitterfeld 13.000, Film
Wolfen (AGFA) 14.000, Buna/ Schkopau
16.000, Leuna 25.500 beschäftigen. Aufgaben neuer Art und besonderen Ausmaßes
stehen nach der Wiedervereinigung den Liquidatoren bevor.«
Das
war der Kalte Krieg, der den neuen Staat im Osten Deutschlands und im
besonderen Maße seine Sicherheitsorgane vor immer neue Herausforderungen
stellte. Und die als »Liquidatoren« bezeichneten Damen und Herren waren seit
1945 mit der von den Siegermächten beauftragten Entflechtung des
IG-Farben-Imperiums befasst – sie taten das widerwillig und ohne große Eile an
den Tag zu legen.
Die
Strategie, welche später als Kalter Krieg bezeichnet wird, war bereits vor Ende
des Zweiten Weltkrieges ein Bestandteil der Planungen der Westalliierten im
Bündnis mit deutschen Wirtschaftsunternehmen geworden, als abzusehen war, dass
der Vormarsch der Sowjettruppen bis nach Deutschland hinein nicht mehr
aufgehalten werden konnte. Gemäß den Vereinbarungen der Kriegsgegner Hitlerdeutschlands
in den Konferenzen von Jalta und Teheran sowie der so genannten Berliner
Erklärung vom 5. Juni 1945 war geregelt, dass die Westalliierten keine
Ansprüche auf Gebiete im Osten Deutschlands erheben können. Ende Juni 1945
wurden die Alliierten Vereinbarungen über die Besatzungszonen vollzogen, die
britischen und amerikanischen Truppen räumten die Gebiete, die der Sowjetunion
zugewiesen worden waren.
In
der britischen Sonntagszeitung Reynolds
News vom 20. April 1947 berichtete der Journalist Gordon Schaffer: »In
Leuna und Buna, den großen Werken in
Mitteldeutschland, die einmal Hitler mit synthetischem Öl und Gummi versorgten,
befand sich der Sitz des Weltreiches der IG-Farben. […] Die Amerikaner
übernahmen als Erste dieses Gebiet, aber Ende Juni 1945 zogen sie sich zurück.
[…] Während sie sich auf die Abreise vorbereiteten, wurden führende
Wissenschaftler der Leuna- und Buna-Werke und einer
anderen Fabrik in Böhlen bei Leipzig zu dem
amerikanischen Kommandeur gerufen. Er erklärte ihnen: ›Auf Anforderung der
amerikanischen Regierung werden Sie morgen abreisen.‹ Es wurde den
Wissenschaftlern mitgeteilt, dass sie ihre Familien mitnehmen könnten, aber als
Gepäck nur zwei Koffer. Die Amerikaner rückten ab und führten auf Lastwagen die
Spezialisten – zusammen 200 Personen – mit sich.«*
Auch
vom Mitglied des Vereins »Sachzeugen der chemischen Industrie e.V. Merseburg«,
Heinz Rehmann, ist dokumentiert worden: »… Die US-Armee, die am 15. April 1945
unser Gebiet besetzte, hatte es sehr eilig, aus den Leuna- und Buna-Werken Schkopau wertvolle
Rohstoffe, Patente und Verfahrensbeschreibungen abzutransportieren. […] Als sie sich im Juni 1945 zurückzog, nahm
sie am 22. Juni aus Leuna 27 und aus Schkopau 25 der
führenden Chemiker und Ingenieure einschließlich ihrer Familien mit in ihre
Besatzungszone und internierten sie in Rosenthal/Hessen. Die gesamte
hochqualifizierte Führungsschicht fehlte in Zukunft.«**
Im
Operativen Vorgang (OV) gegen den »Turbinen-Papst der DDR« konnte bewiesen
werden, dass neben diesem Vorgehen der Alliierten vor allem seitens der alten
und neuen Besitzer der deutschen Großkonzerne eine Praxis verfolgt wurde, die
mit ausgesprochen subversiven Aktivitäten der gleichen Zielstellung diente.
Dieses Vorgehen war durchaus nicht neu, wie in Strafprozessen bereits in den
50er Jahren bewiesen werden konnte.
Dazu
aus dem Urteil des Obersten Gerichts der DDR im Solvay-Prozess vom 20. Dezember
1950: »Die in den Prozessen gegen leitende Mitarbeiter der DSGG (Deutsche
Continental- Gas-Gesellschaft, Sitz Dessau) und der DSW (Deutsche Solvay-Werke)
aufgedeckten Mittel und Methoden waren charakteristisch für die gegen die DDR
gerichtete wirtschaftliche Störtätigkeit. Die Eigentümer ließen leitende
Angestellte als Vertrauenspersonen zurück und schafften Abhängigkeitsverhältnisse
durch Korruption. Dabei wirkten sie sowohl mit Auftraggebern in der BRD bzw.
Westberlin als auch Erfüllungsgehilfen in der DDR zusammen. Objektiv trat eine
wirtschaftliche Schädigung der DDR ein.«***
Und
all diesen Aktivitäten war gemeinsam, dass sie mit Methoden durchgeführt
wurden, die als geheimdienstlich zu bezeichnen sind – was bedeutet: die
eigentlichen Absichten und Ziele des Handelns wurden getarnt, sie hatten im
Verborgenen zu bleiben. Die Akteure stellten ihr gesamtes Verhalten, ja ihre
Lebensweise, darauf ein, über ihre gegen die Entwicklung der DDR gerichteten
Aufträge hinwegzutäuschen. Es ist erklärlich, dass es mit solch umsichtig
vorbereiteter, professionell ausgeübter schädigender Tätigkeit über längere
Zeit möglich war, die feindliche Gesinnung zu verbergen, das private und
berufliche Umfeld zu täuschen und Vertrauensverhältnisse zu missbrauchen.
Bei
der Beurteilung der Tätigkeit des MfS aus unserer Sicht, der Sicht der
Abwehrenden, wird auch klar, warum wir heute als die »Bösewichter der Nation«
herhalten müssen. Die von uns in vier Jahrzehnten operativer Arbeit zugefügten
Niederlagen, auch Nadelstiche und das speziell in der Volkswirtschaft
geschaffene Sicherheitsregime mit den gebotenen Stoppzeichen können im
Rückblick von den alten und neuen Dienern des Rechtsstaates nicht so einfach
verkraftet werden, vergessen schon gar nicht. Es ist die gängige westliche
Variante zur Erforschung der Wahrheit, immer wieder neu die gesellschaftlichen
Verhältnisse in der DDR mit dem Begriff der » zweiten deutschen Diktatur« zu
strapazieren und das alte und neue Spiel der Kräfte, das bereits während des
zweiten Weltkrieges auf Hochtouren gebracht wurde – also weit vor Gründung der
DDR – schlicht zu vernachlässigen.
Ich
wurde gegen Ende des Jahres 1960 nach Berlin versetzt. Wir waren vier
Mitarbeiter im operativen Dienst, arbeiteten im Referat Chemie, wurden geführt
von einem Referatsleiter, der ein echter Mecklenburger »Durchreißer« war.
Mitarbeiter im operativen Dienst zu sein bedeutete vor allem ausdauernd
arbeiten zu können und Mitverantwortung bei der Durchführung wichtiger Aufgaben
zu haben. Das lässt sich im Nachhinein so einfach aussprechen – in der
täglichen Arbeit aber mussten selbständig und oft sofort die richtigen
Entscheidungen getroffen werden.
Und
die Tätigkeit als operativer Mitarbeiter hatte es außerdem an sich, immer
einsatzbereit und bei klarem Verstand sein zu müssen, von einer Stunde auf die
andere an Orte zu gehen, die man noch nicht gekannt hat; oder auf Menschen
zuzugehen, sie anzusprechen und für eine Aufgabe zu gewinnen oder sie von einem
Vorsatz abzubringen. Wie oft musste ich zum Telefonhörer greifen, wählen, dann
warten, den Angerufenen entsprechend des vorher erdachten Ablaufes ansprechen
und dann mit ihm eine Vereinbarung aushandeln. Oder eine interessierende Person
zu einer vorher erkundeten Gelegenheit auf der Straße, in einem Verkehrsmittel
oder wo auch sonst immer so zu kontaktieren, dass sich daraus nicht sofort ein
öffentlichkeitswirksamer Skandal entwickelte.
Und
der Begriff der Öffentlichkeit konnte in einem sehr weiten Bogen gespannt
werden, ich habe es als Neuling erfahren – und das ging so: Ich hatte, wie ich
glaubte, unter einem ausgetüftelten Vorwand eine Ärztin, die etwas älter war
als ich, angesprochen und eigentlich ihre Zustimmung für ein weiteres Gespräch
erhalten. Am darauf folgenden Tag stand sie in der Anmeldung – einem für jeden
Bürger zugänglichen Trakt im MfS-Gebäude – und meldete dem dort diensttuenden
Mitarbeiter ihr Erlebnis mit mir, mehr nicht. Mein Plan, mit ihrer Hilfe
Erkenntnisse zu uns interessierenden Personen zu erhalten, hatte sich damit
erledigt. Die Abreibung folgte auf dem Fuß, natürlich dienstlich – und als
Mitglied der SED wurde parteiseitig »nachgewaschen«. Es durfte eben nichts
daneben gehen. Ein halber Pluspunkt für mich war, dass ich das eigentliche Ziel
ihr gegenüber nicht zu erkennen gegeben hatte. Einige Zeit später erwies sich,
dass die Angesprochene einen eleganten Weg gefunden hatte, dem MfS
auszuweichen.
Es
war Herzklopfen kostenlos! Das Ziel einer Handlung zu verdecken ist nicht Sache
eines jeden Menschen und es darf zu keinem Missbrauch für Privates kommen. Zur
Frage, ob man auch weiterhin ein ehrlicher Mensch ist, wenn man andere hinters
Licht führt und täuscht, musste sich jeder operative Mitarbeiter entscheiden.
Die Fähigkeit, Informationen zu gewinnen, ohne seine eigentliche Herkunft und
Zielstellung zu offenbaren, sich gewissermaßen zu tarnen, gehörte schon zum
Handwerkszeug eines jeden Operativen, um feindlich tätigen Kräften auf die Spur
zu kommen und dafür schließlich auch den Beweis führen zu können.
Wir
vier Mitarbeiter im Referat hatten unterschiedliche
Erfahrungen in der Arbeit der Sicherheitsorgane. Es war kein ausgebildeter
Chemiker oder Techniker unter uns. Eine auf die operative Abwehrarbeit
zugeschnittene Ausbildung befand sich Ende der 50er Jahre noch in ihren
Anfängen. In den Diensteinheiten wurden nach einheitlichen Vorgaben
Schulungsmaßnahmen durchgeführt. Das spezielle, für die konkrete Aufgabenstellung
notwendige Wissen, wurde »im Prozess der Arbeit« erworben.
Die
Ausstattung mit Technik war bescheiden, aber von uns akzeptiert.
Schreibmaschine, von uns mit »System Adler« bedient, zwei Telefone mit der
Möglichkeit der Einwahl ins öffentliche Netz, ein gemeinsames Arbeitszimmer und
für besondere Aufgaben und Dienstreisen der Pkw »Wartburg« des Referates. Der
Referatsleiter hatte ständig mehrere Dosen mit Autolack vorrätig – es misslang
ihm mitunter das Einbiegen in die Garage; mit der chemischen Industrie eng
verbunden war diese Bevorratung aber die kleinste Hürde.
Mit
den Maßnahmen am 13. August 1961 veränderte sich unsere Arbeitswelt von einem
Tag auf den anderen. Den Plänen der Gegenseite war zunächst einmal die Kraft
genommen. Es ist bekannt, mit wie viel Ideenreichtum und Einsatz in den
weiteren Jahrzehnten daran gearbeitet wurde, doch noch zum erhofften Erfolg,
der Beseitigung der DDR, zu kommen.
In
den Monaten nach dem August 1961 ging es in der operativen Arbeit richtig zur
Sache, das große Umdenken auf die neue Situation war gefordert. Ich habe noch
heute vor Augen, dass ich in dieser Zeit mit unserem Referatsleiter zu einer
Besprechung beim Abteilungsleiter gerufen wurde. Zugegen war ein Mitarbeiter
der Spionageabwehr, also Linie II im MfS. Nach einigem Drumherum – Belehrung! –
kam das Anliegen zur Sprache:
Es
stand die Aufgabe, die für Spionageabwehr verantwortliche Diensteinheit bei der
Suche nach einem Spion eines USA-Geheimdienstes zu unterstützen. Der Spion war
nach den Grenzsicherungsmaßnahmen im August 1961 darauf angewiesen, seine
Spionageberichte an den ihn von Westberlin aus steuernden Residenten nunmehr
durch mit Geheimschrift präparierte Briefe zu übermitteln. Die benutzte
Deckadresse und die Geheimschriftmethode waren den Fahndungsspezialisten des
MfS bekannt geworden, so dass schon mitgelesen werden konnte. Die Suche nach
dem Schreiber hatte begonnen, war aber wie immer eine komplizierte und mit
äußerster Vorsicht durchzuführende Arbeit.
Der
Spion übermittelte immer Begriffe chemischer Substanzen, die wegen ihrer
Vielfalt zunächst nicht zugeordnet werden konnten. Es begann mit Düngemitteln,
ging über Lösungsmittel, Bestandteile von Erdölprodukten, Elasten bis hin zu
Fotochemikalien usw. Erst als der seltsame Begriff »Molekular-Siebe«, verbunden
mit Namen und weiteren Daten, verwendet wurde, bestand eine größere Chance, die
Spur eingrenzen zu können und den Spion zu identifizieren. Unsere Hilfe als
Referat Chemie wurde abgerufen. Der Begriff »Molekular-Siebe« war in keinem
Katalog oder Lehrbuch gefunden worden und mit chemischen Begriffen bewanderte
Personen konnten nicht einfach befragt werden, denn der Spion hatte gewiss
damit zu arbeiten. Das weitere Vorgehen war geklärt: höchste Vorsicht, nur über
Umwege heranarbeiten und nur auf ihre Zuverlässigkeit überprüfte und an das MfS
gebundene Personen – also Inoffizielle Mitarbeiter – einbeziehen. Ich führte
mehrere IM aus dem Chemiehandel im Berliner Raum, denen ich eine kleine
aufgelistete Auswahl chemischer Produkte, darunter den gesuchten Begriff, mit
der Bitte vorlegte, anzugeben, ob sich darunter Ausgangsstoffe für Sprengsätze
befinden könnten. Nur einer der befragten IM konnte mir weiterhelfen. Er klärte
mich auf, dass Molekular-Siebe Stoffe sind, die in der Laborchemie, aber auch
in größeren technischen Anlagen zur Trennung von Gasen und Flüssigkeiten
eingesetzt werden, d. h. eine spezielle Filterfunktion haben. Er konnte auch
benennen, dass generell mit Bedarfsermittlung, Beschaffung und Verteilung von
Chemikalien im Republikmaßstab ein Handelsbetrieb in Berlin-Lichtenberg zu tun
habe. Es wurde immer spannender, denn diesen kleinen staatlichen Handelsbetrieb
konnten wir vom Fenster unserer Diensträume aus sehen. Dieses Unternehmen hatte
auch Funktionen beim Import chemischer Produkte. Und das traf auf
Molekular-Siebe zu, eine Chemikalie, die über Umwege (sie stand unter Embargo,
d. h. Ausfuhrverbot) in kleinsten Mengen aus dem westlichen Ausland importiert
werden musste. Das brachte etwas mehr Klarheit in die Geheimschrift-Meldungen.
Wie
in solchen Fällen immer: als nächster Schritt musste der Schreiber durch
Schriftenvergleiche ausfindig gemacht werden. Es lag nahe, im genannten Betrieb
damit zu beginnen. Doch halt! Nicht einfach in das Personalbüro gehen und die
dort befindlichen Akten zu den Beschäftigten neben die Geheimschrift legen und
dann vergleichen. Zunächst wurden vom übergeordneten Handelsunternehmen die
Daten aller Mitarbeiter unseres Zielobjektes beschafft. Das war eine übliche
und für die Sicherheitsorgane bekannte, oft belächelte und als Bequemlichkeit
angesehene Vorgehensweise – nach der heutigen Lesart gewisser Behörden sogar
als Begründung für »flächendeckende Überwachung durch die Stasi« genutzt. Also
– diese Namensaufstellung wurde in den Karteien des MfS überprüft und u. a.
festgestellt, dass eine ältere weibliche Angestellte bereits einmal Kontakt zum
MfS unterhalten und ihre Sache gut gemacht hatte. Um was es dabei ging, stand
nicht in den Akten, denn aus Gründen der Konspiration hatten Einzelheiten zu
unterbleiben. Das war ein Grundsatz in der Aktenführung im MfS.
Dann
erfolgten zu dieser möglichen Quelle Ermittlungen im Wohngebiet derselben und
weitere Überprüfungen. Schließlich wurde der Entschluss gefasst, den
persönlichen Kontakt herzustellen – selbstverständlich nicht öffentlich. Sie
lebte alleinstehend und konnte in ihrer Wohnung aufgesucht werden. Wir waren
gut beraten, alles Weitere verlief erfolgreich. Es fand sich die Möglichkeit,
an einem Wochenende den unbesetzten Betrieb zu betreten und mittels mobiler
sowjetischer Kopiertechnik aus den Personalakten die zum Schriftenvergleich
erforderlichen Handschriften in Originalgröße zu kopieren. Unsere Quelle war
bereit, mögliche Störungen zu signalisieren oder abzuwenden. Alles ging gut.
Von
der Auftragserteilung bis zu diesem Arbeitsstand vergingen etwa zehn Wochen.
Sie waren für mich selbstverständlich nicht nur mit dieser Aufgabe angefüllt.
Der Schriftenvergleich über die Beschäftigten des Chemiehandels-Betriebes
führte zur Klärung: der Schreiber war ein Angestellter, der einen Überblick
über den Bedarf an chemischen Produkten führte, Bestellungen für Chemikalien
auslösen konnte, ihre Anlieferung verfolgte und quittierte, soweit sie zum
Handelsbetrieb geliefert wurden. Über diesen Chemiehandelsbetrieb wurde auch
die Lieferung so genannter Embargo-Waren abgewickelt.
Dazu
ein kurzer Abzweig in die große Politik: Die USA führten 1945 eine
Exportkontroll-Liste ein. Im November 1950 wurde schließlich eine
»Koordinierungsstelle für Multilaterale Exportkontrolle« (COCOM = Coordinating Commitee on
Multilateral Export Controls) eingerichtet. In der praktischen Durchführung
sollten die Exportbeschränkungen der aufgelisteten Güter einen
Technologietransfer in die DDR und weitere Länder, nicht nur des Ostens,
sondern z. B. für Kuba bis in die Jetztzeit, verhindern. Verstöße dagegen
wurden im Westen strafrechtlich verfolgt – ein besonderes Kapitel des Kalten
Krieges.
Als
Embargo-Händler wurden Unternehmer aus dem westlichen Ausland bezeichnet, die
aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus bereit waren, die COCOM-Regelungen zu
umgehen und diese Güter auf Umwegen in die DDR bzw. andere von den Regelungen
betroffene Länder zu liefern. Der Vorgang der Linie II/Spionageabwehr konnte
beendet werden, denn die Identifizierung des Spions war gelungen, das
Schriftenvergleichs-Gutachten war eindeutig. In mehreren seiner
Geheimschrift-Berichte wurde das polizeiliche Kennzeichen eines Holländers
verschlüsselt aufgeführt. Dieser war einer der Embargohändler, der auf dem
Innenhof des Chemiehandelsbetriebes in Berlin-Lichtenberg seine Waren
ablieferte. Offensichtlich hatten die Meldungen des Spions an den Residenten
des amerikanischen Geheimdienstes zu Maßnahmen gegen den Händler geführt. Er
war nicht mehr erreichbar. Der Spion hatte zur Zeit der noch offenen Grenze
über Berlin die DDR verlassen und wurde im berüchtigten Aufnahmelager
Berlin-Marienfelde vom USA-Geheimdienst angeworben und mit Spionageauftrag in
die DDR zurückgeschickt.
Nicht
nur am Rande bemerkt: Aus den Vernehmungen des inhaftierten Spions war uns auch
bekannt, dass in Verwertung seiner Spionageinformationen durch die Navy, also
die US-Kriegsmarine, ein Frachter der Deutschen Seereederei mit einer Ladung
Salpeter aus Chile auf hoher See aufgebracht und die gesamte Fracht beschlagnahmt
wurde. Chile-Salpeter, in der DDR als Düngemittel eingesetzt, stand auf der
Embargo-Liste.
Und
hierzu eine Feinheit: Die Festnahme des Spions erfolgte geheim, er war für
seine Umwelt einfach nicht mehr da, und auf Grund seiner persönlichen Verhältnisse
gab es auch keine Fragen nach seinem Verbleib. Die Fahndungsspezialisten des
MfS gewannen ihn für ein sogenanntes Nachrichtenspiel: Er schrieb an seine
amerikanischen Auftraggeber weiterhin Berichte, nunmehr jedoch mit fingierten
Inhalten. Er hatte darauf verzichtet, die gebotenen Sicherheitscodes, die bei
Gefahrensituationen an den Geheimdienst zu übermitteln waren, zu aktivieren. So
konnte die Desinformation des Geheimdienstes etwa drei Monate lang
aufrechterhalten werden, dann wurde die Gegenseite doch stutzig.
Obwohl
sich die Spezialisten der Spionageabwehr selbst uns gegenüber an die Grundsätze
der Konspiration hielten, glaube ich aber doch verstanden zu haben, dass mit
diesem Spiel der Gegner ordentlich beschäftigt wurde. So wurde zum Beispiel die
US-Navy zum Auslaufen veranlasst, um auf hoher See nach neuer Beute zu suchen.
Wegen der besonderen Umstände mit Sicherheit ohne Erfolg.
Warum
diese »Nachrichtenspiele«? Weil der Kontrahent auf der anderen Seite des
Grabens im Kalten Krieg sich ein paar Beulen holen sollte und für uns viel
wichtiger, weil sein Verbindungswesen über diesen Zeitraum studiert werden
konnte. Aber auch wir »Chemiker« durften die Hände nicht in den Schoß legen.
Die fingierten Inhalte mussten in Kleinarbeit bis ins Detail unter Zuhilfenahme
versierter und absolut zuverlässiger Fachleute zusammengestellt werden.
Erprobte IM haben den größten Anteil bei diesem
Nachrichtenspiel geleistet! Und noch
eine Zugabe: Im Verlaufe der Untersuchungsarbeit, d. h. den Vernehmungen des
inhaftierten Spions, entstand der Verdacht, dass es möglicherweise einen
Nachfolger bzw. Ersatz für den Fall seines unfreiwilligen »Ausscheidens« geben
könnte. Eine solche Annahme war nicht aus der Luft gegriffen, weil Agenten von
ihren Auftraggebern immer nach weiteren möglichen Werbekandidaten abgefragt
wurden. Ich begann also, zumal ein gewisser Erkenntnisstand zur personellen
Zusammensetzung des Chemiehandels-Betriebes vorlag, die Lage weiter zu
sondieren.
Ein
Mitarbeiter war auffällig geworden, der in den 50er Jahren aus der BRD in die
DDR übersiedelte und mit ähnlichem Aufgabengebiet im näheren Umfeld des Spions
arbeitete. Auffällig zunächst deshalb, weil er unermüdlich als Patriot, der in
der BRD wegen seiner Mitgliedschaft in der FDJ drangsaliert worden sei, auftrat
und dies auch durch das Tragen des blauen FDJ-Hemdes öffentlich kundtat. Das
war selbst unter DDR-Bedingungen Anfang der 60er Jahre sehr ungewöhnlich. Um
weiteren Aufschluss zu erhalten, sprach ich unter einer Legende, d. h. unter
einem Vorwand, die bereits am Anfang meines Beitrages genannte Ärztin an, weil
sie zu seinen engeren Verbindungen zählte. Den Ausgang dieser meiner Aktion
habe ich ja bereits geschildert.
An
einem weiteren Schwerpunkt der Abwehrarbeit unseres Referates Chemie konnte ich
über mehr als drei Jahre tätig sein. Es war zu keiner Zeit leicht, die als
wichtig erkannten Aufgaben bis zu ihrer Klärung zu bearbeiten.
Die
Schließung der Staatsgrenze zur BRD und der offenen Grenze nach Westberlin im
August 1961 brachte schon kurzfristig mehr Übersichtlichkeit in die operative
Arbeit, insbesondere in Bezug auf den so genannten grenzüberschreitenden
Verkehr. Damit wurde die Ein- und Ausreise von Bürgern der DDR, der BRD sowie
Ausländern über die Grenze zur BRD und Westberlins bezeichnet. Es gelang, eine
solche Ordnung einzuführen, wie sie an Grenzen jedes souveränen Staates zu
dieser Zeit noch ohne Ausnahme üblich war. Dem Treiben der Bonner
Menschenhändler und Revanchepolitiker wurde zwar ein Stoppsignal geboten,
jedoch kein Ende gesetzt. Die Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Unternehmen der DDR und der BRD gingen in eine
neue Phase.
Die
ab Mitte der 50er Jahre merklich gestiegene Anzahl von Bränden, Havarien und
Störungen machte es erforderlich, die Zusammenarbeit der verschiedenen
Dienststellen und Dienstzweige des MfS mit der Deutschen Volkspolizei sowie den
Arbeitsschutz- und Sicherheitsinspektionen in den Produktionsbetrieben
auszubauen. Der Volkswirtschaft waren beträchtliche Sachschäden entstanden,
auch waren Menschenleben zu beklagen.
Deshalb
sollten gewonnene Erkenntnisse aus der Arbeit der Schutz- und Sicherheitsorgane
deutlicher an die Öffentlichkeit gebracht und die Werktätigen in ihrer
Einstellung zu Sicherheitsfragen noch mehr sensibilisiert werden. Vorkommnisse
waren auszuwerten und klare rechtliche Konsequenzen zu ziehen.
Der
Werkleiter der Leuna-Werke führte in diesem Zusammenhang 1957 auf einer
Beratung mit Gewerkschaftsfunktionären aus, dass insbesondere mittlere
Führungskader, die seit den 20er Jahren dem IG Farben-Konzern angehörten, sich
immer noch mit dem Konzern eng verbunden fühlen würden und nicht im
erwarteten Umfang auf reibungslose
Produktionsabläufe und die Planerfüllung orientiert seien.
Zu
einem Dreh- und Angelpunkt für das Wirtschaftswachstum war die Erzeugung von
Elektroenergie geworden. Das hatte objektive Ursachen. Sie lagen in den für den
Osten Deutschlands wesentlich schwierigeren Startbedingungen nach dem Zweiten
Weltkrieg, insbesondere auf Grund historisch entstandener Unterschiede in den
ost- und westdeutschen Wirtschaftsstrukturen. Sie erforderten im Osten eine
vorrangige Entwicklung von Produktionsstätten der Schwerindustrie und Chemie,
und das war wiederum mit umfänglichen Investitionen, besonders in der Energiewirtschaft,
verbunden. Aber auch die Reparationsleistungen Ostdeutschlands und später der
DDR an die Sowjetunion in den Jahren von 1946 bis 1953, notwendige Demontagen
und Entnahmen aus laufender Produktion, waren weitere Ursachen für anhaltende
Disproportionen.
Für
die chemischen Großbetriebe im Hallenser Raum war die störungsfreie
Verfügbarkeit von Elektroenergie in der Tat eine Existenzfrage, denn die
chemischen Prozesse wurden überwiegend kontinuierlich betrieben, d. h. es
musste durchgängig ausreichend Elektroenergie zur Verfügung stehen. Die
Einspeisung und Entnahme von Elektroenergie erfolgte hauptsächlich über den so
genannten Chemiering. Das war ein Verbundsystem zwischen Kraftwerken und
Großbetrieben und betraf die Produktion der Leuna-Werke, des Buna-Werkes in Schkopau, des
Chemiewerkes Bitterfeld, der Farbenfabrik und der Filmfabrik Wolfen, des
Mineralölwerkes Lützkendorf, des Chemiewerkes Böhlen und weiterer Betriebe. Die Einspeisung in den
Chemiering erfolgte darüber hinaus auch aus den Industriekraftwerken der
einzelnen Chemiebetriebe, funktionierte jedoch faktisch zu keiner Zeit ohne
Störungen. Dieser unbefriedigende Zustand wurde deshalb auch zu einem
Schwerpunkt der operativen Arbeit des MfS, also der Suche nach den Ursachen.
Einen
Anfang für die Auflösung dieses Knäuels zu finden war die erste Schwierigkeit.
Jedes Vorkommnis musste erfasst und die Erkenntnisse mit einfachen, ja nach
heutigen Maßstäben, primitiven Mitteln festgehalten werden. Vieles hing in
dieser Zeit vom Erinnerungs- und Denkvermögen der operativen Mitarbeiter des
MfS ab, von ihren Fähigkeiten zum Erkennen von Zusammenhängen aus einer
Vielzahl von Informationen.
Grundsätzlich
waren wichtige Kennziffern volkswirtschaftlicher Vorhaben in Plandokumenten auf
den verschiedenen Ebenen festgeschrieben. Ausgewiesen wurden u. a. Umfang,
Terminstellungen, Finanzierung und Verantwortung für ihre Realisierung. In der
Praxis handelte es sich um eine Vielzahl von Dokumenten, die zudem aus
verschiedenen Gründen Änderungen unterworfen waren. Für unsere operativen
Aufgabenstellungen bildeten diese Dokumente wichtige Ausgangspunkte, ging es
doch immer um die Aufklärung von Störungen im Ablauf wichtiger beschlossener
Vorhaben. Ohne sachkundige Hilfestellungen war für uns diese Problematik jedoch
nicht zu überblicken. Nach zielgerichteter Suche konnten wir schließlich aus
einem kleinen Arbeitsstab im Ministerium für Chemie eine solche Hilfe finden.
Es handelte sich um einen sehr agilen und engagierten Mitarbeiter. Zu ihm
bauten wir eine vertrauensvolle und für Außenstehende nicht erkennbare
Verbindung auf.
In
abendfüllenden Gesprächen ging es zunächst um die Erweiterung unseres
technischen Verständnisses und das Eindringen in das umfangreiche Material zur
Lage und Perspektive der Energieversorgung der großen Chemiewerke. Diese
Zusammenkünfte fanden von Anbeginn mit seiner Zustimmung unter Einhaltung der
Regeln der Geheimhaltung in einer Konspirativen Wohnung (KW) statt.
Es
war die Zeit, als nach einer mehrstündigen, meist abendlichen Sitzung nicht nur
unsere Köpfe rauchten, sondern von mindestens drei erwachsenen Männern wohl an
die 40 Kippen im Aschenbecher verglühten, ohne Filter! Für die Gardinenpflege
erhielten die Wohnungsinhaber mehrfach Zuwendungen. Später wurden mit dem
Mitarbeiter des Arbeitsstabes auch Einschätzungen zu Handlungen von Personen,
die Entscheidungsträger waren, ihrem Verhalten in Verhandlungen sowie ihren
Reaktionen auf Ereignisse im jeweiligen Verantwortungsbereich erarbeitet. Und
in einem weiteren Arbeitsschritt musste die Aufarbeitung der gewonnenen
Erkenntnisse für unsere eigenen politisch-operativen Arbeitspläne und auf Linie
erfolgen. Auf Linie bedeutete, die für die Chemiebetriebe verantwortlichen
Diensteinheiten in den Bezirken und Kreisen auf das konkrete Anliegen einzustellen.
Wir hatten uns entschieden, den Schwerpunkt der weiteren Arbeit auf die
Leuna-Werke, dem größten Chemiewerk der DDR, zu legen. Wir konnten uns auf die
Erfahrungen qualifizierter und hoch motivierter operativer Mitarbeiter stützen.
Für die Tätigkeit des MfS in den Leuna-Werken waren spezifische Bedingungen zu
beachten.
Leuna
wurde 1906 als Ammoniakwerk Merseburg gegründet, 1925 Zweigwerk der IG Farben
und war 1939 bei Kriegsbeginn das größte produzierende Hydrierwerk der IG
Farben. Nach dem Prinzip der Braunkohleverflüssigung sind Treibstoffe und
Flugbenzin produziert worden. Die Produktion kam nach massiven alliierten
Bombenschlägen aus der Luft am 4. April 1945 endgültig zum Erliegen. Das im
Krieg schwer zerstörte Werk verlor weitere 40 bis 50 Prozent der Anlagen durch
die – wie schon beschrieben – Demontagen für Reparationen gegenüber der
Sowjetunion.
Der
IG Farben-Konzern wurde 1945 zumindest in Ostdeutschland zerschlagen. Die
Leuna-Werke wurden Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) und 1954 ein
volkseigener Betrieb der DDR. Durch die aufopferungsvolle Arbeit der
Leunawerker konnte nach Kriegsende bald der Teilbetrieb mit vielen Provisorien
aufgenommen werden. Jahre später, 1959, wurde mit der Errichtung von Leuna II,
einem modernen Produktionskomplex der Petrolchemie, begonnen. Diese neuen
Anlagen wurden aus der BRD, UdSSR, Großbritannien und dem Anlagenbau der DDR
geliefert.
Die
Energieerzeugungsanlagen der Leuna-Werke waren aus der jahrzehntelangen
Zugehörigkeit zum IG-Farben-Konzern natürlich durch die traditionellen
deutschen Anlagenbauer Siemens, Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN),
Babcock und andere errichtet worden. Diese Struktur blieb auch nach Kriegsende
erhalten. In den späteren Jahren entwickelten sich die Wirtschaftsbeziehungen
zu den westdeutschen Unternehmen weiter. Der Maschinen- und Anlagenbau der DDR
konnte sich jedoch nur schwer mit der Konkurrenz, die in Leuna jahrzehntelang
ihre Einflusssphären geschaffen hatte, messen.
Durch
den Einsatz sachkundiger IM der beteiligten Diensteinheiten und unserer eigenen
Quellen wurde ein Bearbeitungsstand zum Problem der Versorgungssicherheit der
Chemiebetriebe des Hallenser Raumes mit Elektroenergie erreicht, der zunächst
die Aussage zuließ: Westdeutsche Unternehmen wie der Siemens-Konzern und MAN
sind den Anlagenbaubetrieben der DDR mit ihren Angeboten immer einen Schritt
voraus, können mit besseren Parametern, besseren Service-Angeboten und Terminen
auftreten. Sie bleiben damit immer im Geschäft, sowohl beim Import von
Neuanlagen als auch bei Wartung und Reparaturen. Die Offerten aus dem Westen
passten einfach immer besser als die der Anlagenbau- und Reparaturbetriebe der
DDR.
Aufgetretene
Störfälle werden überwiegend an westdeutsche Unternehmen zur Bearbeitung
übertragen. Es kommt jedoch ständig entgegen den vertraglichen Zusicherungen zu
Terminüberschreitungen sowie in mehreren Fällen nach kurzer Betriebsdauer zu
erneuten Schäden, deren Ursachen in technischen Mängeln, wie Unwucht, Schaufel-
bzw. Lagerschäden an Dampfturbinen, lagen.
Dieser
Arbeitsstand, zusammengeführt mit Erkenntnissen aus der Aufklärung von
Sabotage- und Diversionsakten in den 50er Jahren, führte zu einer
Arbeitsrichtung, die auf einen Teilerfolg bei der Bewertung aktueller Störfälle
hoffen ließ. Das bedeutete, über die Untersuchung rein technischer
Details hinaus sollte die Rolle der beteiligten Unternehmen und ihrer
handelnden Vertreter zum Schwerpunkt unserer Nachforschungen werden.
Kritischer
zu bewerten war nunmehr die in den Leuna-Werken langjährig übliche Praxis, dass
bei Störungen im Werk die Vertreter westdeutscher Anlagenbauer ein und aus
gingen und das als hilfreicher Beistand angesehen wurde. So war es schon
beinahe selbstverständlich, dass die Vertreter des Siemens-Konzerns und der MAN
auf Störungen in den Chemiebetrieben sehr schnell reagierten, dem
Betriebspersonal mit Sachkunde zur Seite standen und ihre Empfehlungen zur
Abhilfe gaben. Auch war es nicht ungewöhnlich, dass die übergeordneten
Wirtschaftsleitungen der meist alternativlos angebotenen Hilfe aus dem Westen
folgten, obwohl es um Devisengeschäfte ging.
In
der DDR musste die Notwendigkeit des Importes von Produkten, Anlagen und
Dienstleistungen in einem vorgeschriebenen Prüfungsverfahren festgestellt
werden. Das Ergebnis war in einem so genannten Negativattest zu fixieren. Damit
wurde bestätigt, dass die konkrete Leistung nicht mit den Kapazitäten der
eigenen Industrie erreicht bzw. termingerecht geliefert werden konnte. Das
betraf nicht nur komplette Anlagen, sondern auch Teil- und Zulieferungen. In
der Wirtschaftspraxis gingen die Prüfung der DDR-seitigen Liefermöglichkeiten
und die Aufnahme von Import-Verhandlungen mit möglichen ausländischen
Handelspartnern fast immer inhaltlich und zeitlich ineinander über. Sie waren
deshalb in ihrem Einfluss auf die spätere Entscheidung nur schwer
nachvollziehbar.
Aus
den erarbeiteten operativen Materialien verdichteten sich die Hinweise auf
Manipulation mit solchen Importanträgen, meist verbunden mit Korruption, aber
auch aus der Einstellung heraus, der Westen sei sowieso überlegen. Wenn es um
den Vergleich von technischen Parametern, Garantiebedingungen, Terminstellungen
und anderen Faktoren ging, wurde der DDR-Anlagenbau oft »ausgebootet«. So zum
Beispiel der VEB Görlitzer Maschinenbau, der VEB Bergmann-Borsig
Berlin und der VEB Reparaturwerk »Clara Zetkin« in Erfurt. Letzterer
war in der DDR führend für Reparaturen an Energieerzeugungsanlagen, speziell
der Turbinen-Reparatur.
Die
zunächst noch nicht beweisbaren Ansätze über möglicherweise unbegründete Importentscheidungen
mussten in mühevoller Vergleichsarbeit konkretisiert werden, wobei der Bezug zu
handelnden Personen über den Betrieb hinaus bis zu den zuständigen
Außenhandelsunternehmen der DDR hergestellt werden musste.
In
den Leuna-Werken hatten wir begonnen, vorhandene Betriebs-Unterlagen zu
dokumentieren. Insbesondere sollten die so genannten Lebenslaufakten
ausgewählter Energieerzeugungsanlagen durch Anfertigung von Kopien gesichert
werden. Diese Akten gaben über Jahre zurückliegend Auskunft zu den jeweiligen
Betriebszuständen, über Störungen, Instandsetzungen sowie Wartungen,
Entscheidungen, Unterschriften usw.
Bei
der Vorbereitung und Durchführung der Dokumentation solcher Akten waren wir uns
durchaus über die Brisanz einer derartigen Aktion im Klaren. Alles erfolgte
deshalb unter Bedingungen strengster Geheimhaltung. Außerdem erschien es nach
Durchsicht der Lebenslaufakten sinnvoll, auch ausgewählte Unterlagen über
Angebote, Vertragsverhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen zu sichern,
weil sie Aufschluss über Zusammenhänge geben konnten, die für eine spätere
rechtliche Bewertung bedeutsam wären. Die kleinste Indiskretion des Interesses
des MfS an solchen Unterlagen, zumal in der Größenordnung unseres Vorgehens,
hätte die gesamte Arbeitsrichtung gefährdet, von einer Schädigung des Ansehens
der Sicherheitsorgane ganz abgesehen.
So
begann eine zumeist an Wochenenden durchgeführte Suche nach operativ relevanten
Unterlagen und ihrer Sicherung vor Ort mittels sowjetischer Fotokopiertechnik.
Es mussten die Dienstabläufe in den betreffenden Büroetagen ermittelt und
unsere Aktivitäten darauf eingestellt werden. Dem umsichtigen Handeln aller
Beteiligten, darunter auch Beschäftigten des Leuna-Werkes, war es zu danken,
dass diese Aktion ein Geheimnis blieb. Gleichlaufend wurden solche Maßnahmen
von den Dienststellen, die für die Sicherungsarbeit in der Farbenfabrik Wolfen,
dem Chemiewerk Bitterfeld und dem Mineralölwerk Lützkendorf
zuständig waren, durchgeführt. Diese im Geheimen ablaufende operative
Arbeitsrichtung war jedoch allein nicht geeignet, ein mögliches schuldhaftes
Verhalten für die Instabilität der Energieversorgung zu erkennen. Der
zunehmende Ermittlungsdruck aller für die Anlagensicherheit zuständigen Organe,
insbesondere die unmittelbare Gegenwart der Mitarbeiter des MfS bei Havarien,
Bränden und Störungen führte zu den verschiedensten Reaktionen bei den
Beschäftigten. Neben erhöhter Disziplin und Ordnung mussten wir auch damit
rechnen, dass mögliche Täter nun vorgewarnt waren und mit noch größerer Vorsicht
zu Werke gingen.
Entscheidend
für unser weiteres Vorgehen war der Hinweis eines IM einer
Erfurter Dienststelle des MfS. Er führte in seinem Bericht aus, dass die
Reparatur einer Turbine, die im VEB Reparaturwerk »Clara Zetkin« ausgeführt
werden sollte, umdisponiert und dem westdeutschen MAN-Konzern übertragen wurde.
Einsprüche seitens des Erfurter Reparaturwerkes und diesbezüglich geführte
Verhandlungen wurden übergangen, insbesondere weil – wie so oft –Termindruck
bestand. Derartige Korrekturen waren im normal üblichen Betriebsablauf nicht
ungewöhnlich. Belege dafür waren in den sichergestellten Unterlagen zu finden.
Ein
interessantes Detail in dem hier beschriebenen Vorgang war, dass wir erstmalig
mehrere Verantwortungsträger aus Ost und West mit den von ihnen vertretenen
Positionen in Aktion erlebt haben und sie damit in unser »operatives Blickfeld«
gerieten. Operatives Blickfeld bedeutete nichts anderes als die Verdichtung von
Hinweisen zu bestimmten Personen und ihren Handlungen.
Vom
normalen Menschenverstand aus gesehen konnten wir nur mit dem Kopf schütteln,
was hier abgelaufen war. Der IM hatte als unmittelbar Beteiligter den gesamten
Ablauf bis zur Entscheidungsfindung verfolgt und intern für seinen
Führungsoffizier dokumentiert.
Ausschlaggebend
für die getroffene Entscheidung war schließlich die Argumentation des
langjährigen Experten für Fragen des Kraftwerksbetriebes aus den Leuna-Werken.
Seine Urteile waren in der Fachwelt zwar auch nicht unumstritten, wurden jedoch
mittlerweile republikweit bald wie ein Evangelium mit den Worten befolgt:
verkündet vom »Turbinenpapst der DDR«!
Eine
eher nebensächliche Frage zur Arbeit der Sicherheitsorgane spreche ich hier
trotzdem an: Wieso war es eigentlich möglich, dass die Feststellungen der
Erfurter Dienststelle in unserer Berliner Diensteinheit bekannt werden konnten?
Es war ein großer Vorteil in der Arbeitsweise des MfS, dass mit einem
besonderen und doch einfach zu handhabenden System zur Erfassung von
Informationen und der Möglichkeit auf sie wieder zugreifen zu können,
gearbeitet wurde. Und zwar seit Zeiten, als an eine elektronische
Datenerfassung und -verarbeitung noch nicht zu denken war. Es hat auch im hier
beschriebenen Vorgang funktioniert.
Die
vom Erfurter IM gegebenen Hinweise konnten zunächst nicht durch Informationen
aus anderen Quellen überprüft oder konkretisiert werden. Jedoch schon nach
wenigen Wochen erhielten wir Gewissheit zur angenommenen Lage. Aus dem
westdeutschen Reparaturbetrieb kamen wiederum Hinweise, dass es zu Terminverzögerungen
kommen könnte. Letzten Endes wurden auch in diesem Falle die vertraglichen
Vorgaben erneut nicht erfüllt. Alle Umstände belegten die operative Version der
Erfurter Dienststelle, dass bereits in der Entscheidungsphase zur
Reparaturvergabe mit »unsauberen« Mitteln gearbeitet wurde. Die eingetretene
Lage wäre ohne die vorhandenen inoffiziellen Informationen wiederum als eine im
technischen Prozess vorkommende Komplikation durchgegangen und mit einem kurzen
Bedauern zur Kenntnis genommen worden. Der nunmehr erreichte operative
Kenntnis- und Bearbeitungsstand rechtfertigte die Entscheidung, den gesamten
Komplex in einem Operativen Vorgang weiter zu bearbeiten.
Die
Zielstellung der Vorgangsarbeit ergab sich aus dem Verdacht einer Straftat nach
Paragraph 23 (»Schädlingstätigkeit und Sabotage«) des
Strafrechtsergänzungsgesetzes der DDR (StEG) vom 11.
Dezember 1957. In dem hieß es: »Wer mit dem Ziel, die Tätigkeit der staatlichen
Organe oder die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik zu
untergraben oder den Aufbau des Sozialismus zu stören, es unternimmt,
staatliche oder genossenschaftliche Einrichtungen oder Betriebe in ihrer
geordneten Tätigkeit zu behindern, wird mit Zuchthaus bestraft; auf
Vermögenseinziehung kann erkannt werden.«
Neben
der Fortsetzung der operativen Arbeit zur Verhinderung von Havarien und
Störungen in der Chemischen Industrie wurde der Schwerpunkt jetzt auf die
Aufklärung von Personen gelegt, die Einfluss insbesondere auf energetische
Prozesse in den Chemiebetrieben des Hallenser Raumes nehmen konnten. Des
Weiteren musste erforscht werden, warum die handelnden Personen sich so und
nicht anders entschieden und ob sie aus einer feindlichen Einstellung zur DDR
heraus agiert haben.
Mit
der Eröffnung des Operativen Vorganges waren uns weitergehende Möglichkeiten
gegeben, die Klärung von Sachverhalten zu beschleunigen. So konnten zusätzliche
operative Kräfte einbezogen werden, insbesondere aus den Diensteinheiten, die
für die Sicherung der Energiewirtschaft und des Kraftwerksanlagenbaus der DDR
Verantwortung trugen. Auch von diesen Diensteinheiten wurden Hinweise zu
Störungen wirtschaftlicher Abläufe operativ bearbeitet. Ein Austausch der
notwendigen Informationen und die unmittelbare gemeinsame Durchführung
abgestimmter operativer Maßnahmen waren in der Zeit zu Anfang der 60er Jahre
noch recht unkompliziert zu verwirklichen. Es handelte sich um relativ kleine
Diensteinheiten, teilweise auch nur um ein oder zwei operative Mitarbeiter. Es
bestanden persönliche Kontakte untereinander, die Verantwortungsbereiche waren
bekannt. Man wusste, wohin man sich zu wenden hatte. Nach Bestätigung durch die
vorgesetzten dienstlichen Leiter konnte eine Zusammenarbeit beginnen.
Erfolge
in der operativen Arbeit waren überhaupt erst möglich durch das Zusammenführen
von Erkenntnissen aus den verschiedenen Diensteinheiten. Jedoch ohne
realitätsnahe Ideen und ihre Umsetzung durch den einzelnen Mitarbeiter ging gar
nichts. Und herausragende Talente mussten teamfähig sein und sich auf die
Arbeit des Nebenmannes verlassen können. Jeder Mitarbeiter hatte mit
Eigenleistungen zum Erfolg beizutragen.
Es
sollte fast ein weiteres Jahr ins Land gehen, aber wir wollten dem
bevorstehenden Aufwand nicht ausweichen, und es forderte den beteiligten
Mitarbeitern wiederum den Verzicht auf viel Persönliches ab. Dieses weitere
Arbeitsjahr steht mir deshalb noch heute so deutlich vor Augen, weil es für uns
mit ständigen Dienstreisen in den Hallenser Raum verbunden war. Einzelne
Mitarbeiter hatten über mehrere Wochen vor Ort Aufgaben zu erfüllen. Es waren
Dienstfahrten bei Schnee, Eis und dem berüchtigten Hallenser Nebel. Die
Einsätze zu den Leipziger Messen im Frühjahr und Herbst führten trotz der
Verlockungen der Messe-Metropole zu messbaren operativen Erkenntnissen über die
uns interessierenden Personenkreise. Nicht zu vergessen unsere eigenen Aktionen
im Frühsommer des Jahres, als wir nach längerer Vorbereitung selbst in die
Tätigkeiten von Betriebshandwerkern, Reparatur-Trupps und verschiedenen
Dienstleistern wechselten. Im Leunaer Umfeld wurden
die geheimen operativen Maßnahmen intensiviert und wir legten selbst mit Hand
an.
Unser
Ziel war es, die konspirativen Kontrollmaßnahmen gegen den »Turbinen-Papst der
DDR« zu vervollkommnen. Es mussten Möglichkeiten zum Einsatz von Abhörtechnik
und für die Werbung weiterer IM zur konspirativen Beobachtung
von Zusammentreffen mit Vertretern westdeutscher Unternehmen,
insbesondere des Siemens-Konzerns, gefunden werden. Solche Einsatzrichtungen
waren uns auf den Leib geschnitten und auch nur vom MfS mit (auf der Grundlage
der staatlicherseits erlassenen Statuten und durch andere Rechtsvorschriften,
einschließlich Dienstanweisungen und Befehlen des Ministers) geregelten
Arbeitsmethoden zu bewältigen. Die eingeleiteten operativen Fahndungsmaßnahmen
im Reiseverkehr von und nach der BRD und Westberlin halfen uns, den Einsatz von
IM bei bevorstehenden technischen und kommerziellen Verhandlungen
zielgerichteter inhaltlich vorzubereiten und zu steuern.
Diese
Einsatzrichtung von IM – unmittelbar im Umfeld der im Verdacht strafbarer
Handlungen stehenden Personen – war nunmehr ein Schwerpunkt unserer Arbeit am
besagten OV geworden. Dabei hatten wir zu berücksichtigen, dass die
Fahndungsmethoden des MfS den westdeutschen Vertretern bekannt waren und sie
sich mit dem Ziel, diese zu umgehen, in der DDR bewegten. Über das in
Berlin-Mitte bestehende Leuna-Büro konnten zeitnah wichtige Angaben beschafft
werden. Das Leuna-Büro wurde bereits in den 50er Jahren in der Nähe staatlicher
Dienststellen eingerichtet, um notwendige Kontakte dieses Großbetriebes z. B.
zum Ministerium für Chemische Industrie, der Staatlichen Plankommission, den
Außenhandelsbetrieben sowie dem Ministerium des Inneren und der Zollverwaltung
der DDR effektiver gestalten zu können. Auch standen im Büro Besprechungsräume
kurzfristig zur Verfügung. Es bedarf sicher keiner weiteren Erklärung, dass
unter den wenigen Angestellten des Büros Inoffizielle Mitarbeiter arbeiteten,
die, mit ständigen Aufträgen versehen, die konspirativen Kontrollmaßnahmen
aktiv unterstützen konnten. Auf Grund ihrer Sachkunde sowie der aufgebauten
Verbindungen konnten sie in vielen Fällen selbst an Besprechungen teilnehmen,
die Positionen der Gesprächspartner registrieren und somit das MfS aus erster
Hand informieren. Klar war aber auch, dass diese Informationen durch weitere
Feststellungen überprüft, d. h. objektiviert, werden mussten. Die Ehrlichkeit
der einbezogenen IM stand dabei nicht auf dem
Prüfstand, ihre Ehrlichkeit hatten sie bereits in der bisherigen Zusammenarbeit
mit dem MfS bewiesen.
Bei
alldem gab es nichts Spektakuläres; es war eher ein Wettlauf in den Köpfen, bei
dem kluges Denken angesagt war. Wir mussten fähig sein, in die Gedankenwelt und
die Verhaltensweisen der Vertreter westdeutscher Unternehmen und in die
Motivation möglicher Helfer auf der DDR-Seite einzudringen. Der Fortschritt
unserer Arbeit hing in dieser Phase davon ab, ob wir in der Beweisführung zu
den Tatbestandsmerkmalen des Paragraphen 23 StEG,
also Sabotage, weiterkamen. Das betraf insbesondere den so genannten
subjektiven Faktor, d. h. es war der Nachweis einer feindlichen Absicht für die
Handlungen zu erbringen. Und die Zeiten hatten sich geändert. Der harte Kurs,
wie er zu Adenauers Regierungszeit gegenüber dem Osten gefahren wurde, war abgelöst
worden mit »Wandel durch Handel«, der Präsentation der Überlegenheit des
westlichen Modells auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik, besonders aber
der Konsumtion. Nebenbei blieb es dabei: Das Volk im Osten Deutschlands wurde
zu Brüdern und Schwestern stilisiert. Aber der zügellose Wirtschaftskrieg gegen
die DDR war weiterhin im Gange.
In
der Bearbeitung des OV war es gelungen, eine Reihe von Verbindungen zwischen
mittleren bzw. leitenden Mitarbeitern der chemischen Betriebe und Vertretern
westdeutscher Unternehmen zu erkennen. Nach unseren Feststellungen handelte es
sich um Kontakte, die Arbeitsbeziehungen zur Grundlage hatten. Es konnten keine
verwertbaren Anhaltspunkte für geheimdienstlich gesteuerte Interessen, keine
negativen politischen, gegen die DDR gerichteten Äußerungen, keine
Beeinflussung von Entscheidungen durch Korruptionsversuche gefunden werden; von
der Präsentation der westlichen Systemüberlegenheit einmal abgesehen (diese
begann ja schon mit dem Eintreffen der Vertreter in der Mercedes-Karosse).
Mit
wenigen Ausnahmen gelang es, die Reisetätigkeit eines Siemens-Vertreters in der
DDR mit dem Passieren der Staatsgrenze zu verfolgen und es konnten auch dabei
keine Abweichungen von dessen Reiseanträgen festgestellt werden. Hauptgegenstand
seiner Kontakte zum »Turbinen-Papst« waren technische Abstimmungen zu
Import-Anlagen bzw. zu Teillieferungen sowie zu Reparaturleistungen durch die
Fa. Siemens. Da der Vertreter über einen so genannten Dauerpassierschein
verfügte, der ihm von den zuständigen DDR-Organen auf Antrag der Leuna-Werke
erteilt wurde, konnte er bei Störungen sowie auftretenden Problemen zur
Realisierung von Vertragsinhalten sehr zügig persönlich am Ereignisort
erscheinen und agieren.
Hatten
wir uns in unserem Sicherheitsdenken vielleicht doch zu weit von der Realität
entfernt, zu viele Gedankenkonstruktionen erfunden? Also Wunschdenken?
Es
ist schon so, dass, wenn eine Arbeitsaufgabe über den Zeitraum mehrerer Jahre
anhält, ohne dass greifbare Anhaltspunkte zu finden sind, Zweifel am Konzept
insgesamt aufkommen können. Immer öfter gingen wir zu den Ausgangspunkten
unserer Überlegungen zurück, vergewisserten uns praktisch selbst darüber, ob
wir aus den vorliegenden Erkenntnissen und den Erfahrungen des vergangenen
Jahrzehnts die richtigen Schlüsse gezogen haben. Und auf Glücksumstände zu
warten entsprach nicht unserem Wesen.
Das
über mehrere Jahre angehäufte operative Wissen zu kommerziellen und technischen
Beziehungen, insbesondere die Kenntnisse über laufende Verträge und ihren
Erfüllungsstand, ermöglichte es uns bei einem bemerkenswerten und in seiner
Dimension noch nicht da gewesenen Vorkommnis gewissermaßen von einem Tag auf
den anderen und sogar mit strafrechtlichen Mitteln zu reagieren. Was war
geschehen?
Der
Erfolg in der Sache OV »Turbinen-Papst« trat ein. Das Gasturbinen-Kraftwerk
Erfurt-Gispersleben war mit einer Leistung von etwa
30 Megawatt (MW) von Bedeutung für die Stromversorgung Mittelthüringens. Es
wurde Anfang der 1960er Jahre in Betrieb genommen. Die Gasturbinen-Technik war
eine moderne neue Technologie, insbesondere umweltschonender als die
herkömmliche Braunkohleverstromung. Der Kraftwerks-Block mit vor- und
nachgeschalteten Aggregaten nahm eine Halle fast in der Größe eines halben
Fußballfeldes ein. Die Gasturbine lief seit ihrer Inbetriebnahme nicht
störungsfrei, bei neuen Technologien durchaus erklärlich. Der mit einer Unwucht
behaftete Turbinen-Läufer musste zum wiederholten Male außer Betrieb genommen
und zur Reparatur in die BRD transportiert werden. Da es sich bei diesem Gisperslebener Projekt um ein wichtiges
energiewirtschaftliches Investitionsvorhaben der DDR handelte, standen die
aufgetretenen Probleme der Instabilität des Turbinen-Läufers bereits seit
längerer Zeit auch unter operativer Kontrolle der zuständigen Mitarbeiter der
Erfurter Dienststelle des MfS. Gleichermaßen war der verantwortliche operative
Mitarbeiter für den Bereich der Energiewirtschaft in unserer eigenen
Diensteinheit mit diesem Problem befasst.
Die
Dokumentationen zu den Abläufen seit der ersten Inbetriebsetzung der
Gasturbine, in Verbindung mit unseren aktuellen operativen Arbeitsergebnissen,
führten zum begründeten Verdacht, dass hier auf mehreren Ebenen inkorrekt
gearbeitet wurde. Zunächst war bemerkenswert, dass die Reparaturarbeiten
wiederum nicht dem VEB Reparaturwerk »Clara Zetkin« Erfurt übertragen, sondern
in Südwestdeutschland durchgeführt wurden. Allein der Schwerlast-Transport des
Turbinen-Läufers bedeutete einen erheblichen und mit Risiken behafteten
Mehraufwand. Für die Bearbeitung des OV war von Bedeutung, dass die
Entscheidung für die Reparatur in der BRD von dem im operativen Blickfeld
stehenden »Turbinen-Papst« initiiert und durch die verantwortlichen Leiter des
Kraftwerkes Gispersleben und der Energieversorgung
Erfurt unterstützt worden war. Die vom VEB Reparaturwerk »Clara Zetkin«
vorgebrachten Argumente, die Reparaturarbeit selbst durchführen zu können,
änderten nichts an der getroffenen Entscheidung.
Nach
Abschluss der Reparatur des Läufers in Westdeutschland wurde dieser wieder im
Kraftwerk installiert. Es begann das Anfahren der Anlage, ein sehr
komplizierter Prozess nach einem vorgegebenen Ablauf mit minutiöser Kontrolle
der Parameter. Bis zu diesem Arbeitsstand war die Gasturbine mehr als drei
Monate nicht am Netz. Der Turbinen-Läufer erreichte für kurze Zeit die im
Programm vorgegebenen Parameter, sein Lauf wurde dann jedoch erneut instabil
und die gesamte Maschine geriet schließlich außer Kontrolle.
Dieses
Mal führte die Unwucht des Läufers zu einem nicht mehr zu beherrschenden
selbständigen Aufschwingen der gesamten Maschine und in der Folge zu einer
überdimensionalen Belastung weiterer Anlagenteile, insbesondere der
Abdeckungen, Lagerteile und Lagerblöcke zum Fundament. Trotz sofort
eingeleitetem Havarie-Stopp mussten die mit dem Anfahrprozess befassten
Fachkräfte die Kraftwerkshalle fluchtartig verlassen, weil Gefahr für ihr Leben
bestand.
Die
entsprechend der örtlichen Einsatzpläne anwesenden Mitarbeiter der
Sicherheitsorgane veranlassten unmittelbar darauf die komplette Absperrung der
Anlage, übernahmen die Absicherung gegen alle, auch gut gemeinten Eingriffe,
damit die Arbeiten zur Begutachtung und der Suche nach den Ursachen der Havarie
am unveränderten Zustand des Objektes gewährleistet war. Der »Turbinen-Papst«
und der gleichfalls anwesende Vertreter des Siemens-Konzerns sowie zwei
leitende Mitarbeiter aus dem Bereich der Energieversorgung Erfurt wurden wegen
Verdacht von Straftaten gem. § 23 StEG festgenommen.
An
dieser Stelle will ich meinen mehr oder weniger chronologisch dargestellten
Ablauf der politisch-operativen Maßnahmen der beteiligten
Abwehr-Diensteinheiten des MfS verlassen, um die weiteren Arbeitsergebnisse dem
Leser in ihrer ganzen Dimension besser verständlich zu machen.
Nach
Vollzug des staatsanwaltschaftlich ausgefertigten Haftbeschlusses und der
Überführung der Beschuldigten in die Untersuchungshaftanstalt
Berlin-Hohenschönhausen (UHA) wurde die Verantwortung für die Weiterführung der
Aufklärungsarbeit in die Hände der zuständigen Untersuchungsabteilung des MfS
(HA IX) gelegt. Für uns als Abwehr-Diensteinheit war damit jedoch keine
Entlastung in der Arbeit angesagt, sondern es begann ein Prozess engster
abgestimmter Zusammenarbeit mit den Untersuchungsführern. Dieses arbeitsteilige
Vorgehen zwischen operativer Diensteinheit und dem Untersuchungsorgan war eine
unerlässliche Voraussetzung zur Wahrheitsfindung überhaupt. »Die
Untersuchungsführer erhielten über diesen Weg konspirativ erarbeitete
Verdachtshinweise, Angaben zu möglichen Tatumständen und -beteiligten bzw.
andere operative Anregungen, die sie durch klärende Fragen an Beschuldigte oder
Zeugen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüften und die möglicherweise weitere be- oder entlastende Fakten/Beweise zutage fördern konnten.
Andererseits erhielten operative Diensteinheiten Erkenntnisse aus den
Ermittlungsverfahren (neue gegnerische Angriffsrichtungen, geheimdienstliche
Arbeitsmethoden, Hinweise auf mögliche weitere Agenten etc.), die der
Qualifizierung der Abwehrtätigkeit dienten, sowie Hinweise auf weitere Beweise
und zur Veranlassung vorbeugender Maßnahmen«, heißt es dazu im zweiten Band von
»Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS« auf Seite 429.
Wir
wurden beinahe täglich gefordert, Ergebnisse der Untersuchungsarbeit,
insbesondere die Einlassungen der Beschuldigten, auf ihren Wahrheitsgehalt zu
überprüfen, zu ergänzen und weitere Fragestellungen einfließen zu lassen.
Die
Untersuchungsabteilungen des MfS (Linie IX) stehen seit Ende 1989 als Beispiel
für die »Menschenfeindlichkeit des DDR-Regimes«, für die Abartigkeit der
Methoden gegen Andersdenkende, für praktizierten Sadismus, im Blickfeld der
Medien. Teile des Dienstgebäudes in Berlin-Hohenschönhausen sind zur
Verbreitung von diesbezüglichen Behauptungen und Gräuelmärchen und zur anschaulichen
Präsentation der Praktiken im »Stasigefängnis« für die Öffentlichkeit als
Gedenkstätte hergerichtet worden. Warum verweise ich bewusst in polemischer Art
auf diese Praxis? Aus dem von mir beschriebenen Operativen Vorgang wird
deutlich, dass die diskriminierende Beschreibung der Arbeit der Mitarbeiter der
Untersuchungsabteilung in keiner Weise zutrifft. Die Arbeitsergebnisse der
Untersuchungsarbeit, welche die operativen Erkenntnisse der Diensteinheiten der
Abwehr nicht nur bestätigten, sondern in wesentlichen Zügen erweitern konnten,
waren nur zu erreichen, weil die in U-Haft Genommenen zu einer, wenn auch nur
begrenzten, Kooperation bereit waren. Im von mir beschriebenen Operativen
Vorgang erklärten die Beschuldigten von sich aus ihre Aussagebereitschaft zu
den von ihnen betriebenen strafbaren Handlungen und ihren Motiven.
Der
unvoreingenommene Leser dieses Beitrages und erst recht ein nur in Ansätzen mit
Psychologie vertraut Urteilender wird konstatieren, dass ein solcher Zustand
nicht mit Folter, Psychopharmaka, Bestrahlung u. a. Techniken zu erreichen ist,
sondern durch die sachliche und überzeugende Arbeit eines befähigten
Untersuchungsführers. Alles hing ab von dessen Menschenverstand, seiner
Sachkenntnis und dem klugen Einsatz der Beweisvorlagen und den daraus
abzuleitenden Fragestellungen und Argumentationen. Nicht zuletzt war auch die
Fähigkeit, vorhandene menschliche Regungen bei den Inhaftierten zu erkennen und
damit Einfluss auf deren Aussagebereitschaft während des gesamten Strafverfahrens
zu nehmen, von Bedeutung.
Im
dargestellten Sachverhalt darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die
konkreten Umstände, die zur Inhaftierung führten, also letztlich der Vorwurf,
den Tod von Menschen in Kauf genommen zu haben, sowie das entschlossene Vorgehen
der Sicherheitsorgane diese Aussagebereitschaft unterstützt haben. Eine
Einstellung, die sich bei den Tätern bis vor Gericht gehalten hat und gewiss
nicht nur aus Kalkül. Ihnen war schon klar, dass sie gegen Gesetze der DDR und
den ihnen aus Arbeitsverträgen übertragenen Rechtspflichten bewusst verstoßen
haben.
Die
Verteidigung der Angeklagten lag in den Händen eines in Ost und West bekannten
Anwalts, der in seinem abschließenden Plädoyer einräumte, angesichts der
Beweislast keine Möglichkeiten eines Einspruches zu haben.
Die
Ermittlungsergebnisse wurden durch die gerichtliche Hauptverhandlung am
Bezirksgericht Erfurt vollauf bestätigt. Das war ein klares Zeugnis für den
hohen Grad der Wahrheitsfindung im gesamten Vorgang. Der ebenfalls zu einer Freiheitsstrafe
verurteilte T. (bis zu seiner Festnahme leitend im Bereich der
Energieversorgung Erfurt tätig) wurde einige Jahre später als Zeuge im Prozess
gegen die geheimdienstlich gesteuerten Agenten Hü. und Lat. gehört und sagte
1967 zu seinen subversiven Handlungen aus, »dass seine Tätigkeit dem Ziel
diente, die Energiewirtschaft der DDR von westdeutschen Konzernen abhängig zu
machen, um schließlich zu einem beliebigen Zeitpunkt die Energieerzeugung der
DDR völlig zusammenbrechen lassen zu können«. (s. Die Sicherheit, Bd. 2., Seite 104)
Rückblickend
auf unsere operativen Aktivitäten gegen einen Gegner, der mit verschiedenen und
zum Teil modernsten geheimdienstlichen Mitteln und Methoden gegen unseren Staat
antrat, möchte ich hervorheben: Ohne Inanspruchnahme gut durchdachter Hilfen
von vielen Bürgern der DDR sowie strikter Geheimhaltung bis in die kleinsten
Details, wären wir sehr schnell geplatzt, hätten uns den Weg zum operativen
Erfolg selbst verlegt. Und auch wenn ich mich wiederhole – es mussten hunderte
Helfer in diese operativen Arbeitsprozesse einbezogen werden – und trotzdem hat
es über die Jahre kein »Leck« gegeben.
Im
folgenden Abschnitt meiner Erinnerungen sollen noch Erkenntnisse zum Lebensweg
des »Turbinen-Papstes« dargestellt werden, soweit sie für die hier
beschriebenen Inhalte interessant sind. Es handelt sich um Ergebnisse aus der
politisch-operativen Bearbeitung durch unsere Diensteinheit und durch die
Untersuchungsabteilung des MfS.
Als
»Turbinen-Papst der DDR« ist ein leitender Oberingenieur bezeichnet worden,
weil er sich den Ruf erarbeitet hatte, in wichtigen Entscheidungen zu
Energieerzeugungsanlagen in der DDR die höchste Kompetenz zu besitzen. Sein
Wort galt!
Er
war bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges als Angehöriger des IG
Farben-Konzerns im Industriekraftwerk der Leuna-Werke tätig. Als ein befähigter
Techniker, der umsichtig, ehrgeizig und mit beruflichem Engagement Tag für Tag
seine Arbeitspflichten erfüllte, wurde er als entwicklungsfähig erkannt und
gefördert. Mit Kriegsbeginn ist er »Unabkömmlich« (UK) gestellt worden. Ihm
wurden Aufgaben mit höherer Verantwortung übertragen. Er hatte der IG seine
Treue und Zuverlässigkeit in der Arbeit bewiesen. In politischer Hinsicht waren
ihm offensichtlich aus kluger Voraussicht keine zwingenden Entscheidungen
auferlegt worden. Die Verinnerlichung der IG-Ideologie war ein ausreichendes
Unterpfand für Zuverlässigkeit und treue Pflichterfüllung.
Nach
Annexion der Tschechoslowakei wurde er aus dem Personalbestand des IG
Farben-Konzerns für eine leitende Position im Industriekraftwerk der
»Hermann-Göring-Werke« in Brüx, dem heutigen Most,
eingesetzt. Später ist ihm die Leitung des dortigen Industriekraftwerkes
übertragen worden. Die »Hermann-Göring-Werke« waren ein deutscher Staatskonzern,
welcher kriegswichtige Produktionsbetriebe in den besetzten Ostgebieten
übernahm und expandierte. In Brüx bestand die Sudetenländische Bergbau AG mit umliegenden
Braunkohlefördergebieten.
Ab
1937 wurde nördlich von Brüx durch die Sudetenländische Treibstoff AG ein Hydrierwerk errichtet.
Nach der in Deutschland, insbesondere in den Leuna-Werken, praktizierten
Technologie der Kohleverflüssigung, wurde auch in Brüx
synthetisches Benzin hergestellt. Die Produktion wurde ab 1939, nach der
Okkupation des Sudetenlandes – heute würde man es Anschluss nennen –
vollständig in den Dienst der aggressiven deutschen Kriegsmaschine gestellt.
Die leitenden Positionen des Werkes wurden mit deutschen Spezialisten besetzt
und die Produktion selbst bereits 1939 mit über 50 Prozent Zwangsarbeitern
aufrechterhalten.
Mit
dem Ziel, die Rolle des »Turbinen-Papstes« in der Zeit von 1939 bis Frühjahr
1945 in den besetzten Ost-Gebieten zu ermitteln, haben wir im Rahmen der
operativen Vorgangsarbeit 1964 mit Unterstützung der Kreisdienststelle Most der
Tschechischen Staatssicherheitsorgane im ehemaligen »Hermann-Göring-Werk«
recherchiert. Es standen uns umfangreiche Dokumente des Betriebsarchivs zur
Verfügung und es war möglich, auch noch mit Zeitzeugen, die in der Zeit der
deutschen Besetzung im Werk arbeiteten, zu sprechen.
Für
unsere Erfahrungen nicht nachzuvollziehen war zunächst, dass weder von
tschechischer noch deutscher Seite dieser Zeitabschnitt aufgearbeitet worden
war, d. h. dieser Teil des Betriebsarchivs trug eine dicke Staubschicht. Wir
fanden wenig zeitliche Daten und keine Angaben zu Personen – erklärlich, da mit
dem Vormarsch der Sowjetarmee angewiesen war, die Bestände an Unterlagen zu
vernichten. Wir konnten aber u. a. Einblick in das Fotoarchiv nehmen und sahen
Aufnahmen von Arbeitskolonnen, die zum Appell vor einem Gebäude standen, im
Vordergrund ein MG-Schütze mit Stahlhelm, die Waffe auf den Appellplatz
gerichtet. Und weitere Fotos, auf denen sich die deutschen Militärs und
Zivilisten als Herrenmenschen in Positur warfen, so bei Besuchen hoher Chargen
der Wehrmacht, SS sowie von Wirtschaftsführern usw. im Chemiewerk Brüx.
Im
Gespräch mit tschechischen Bürgern, die ehemals im Kraftwerk des Hydrierwerkes
beschäftigt waren, kam zum Ausdruck, dass ihnen der deutsche Kraftwerks-Direktor
noch in Erinnerung war. Er wurde als ständig im Betrieb gegenwärtiger Ingenieur
geschildert, der ein Produktionsregime aufgebaut hatte, das keine Unordnung,
Disziplinlosigkeit und fachliche Fehlleistungen zuließ. Er war eine Autoritätsperson,
hatte ausschließlich Kontakte zu Seinesgleichen. Es gab keine Hinweise darauf,
dass er denunziert oder Strafaktionen veranlasst hätte bzw. an solchen
beteiligt gewesen wäre. Erinnerlich war den tschechischen Bürgern, dass dieser
»Reichsdeutsche« bis zuletzt in seiner Funktion gearbeitet hat. Über seinen
Verbleib nach Einrücken der Roten Armee in den Brüxer
Raum konnten wir keine Angaben mehr erhalten.
Aus
der operativen Bearbeitung einschließlich der Auswertung seiner Angaben in der
Personalakte der Leuna-Werke war uns bekannt, dass er im Mai 1945 aus Brüx zurück in die Leuna-Werke kam und dort seine Arbeit
wieder aufnahm.
Die
ganze Wahrheit jedoch offenbarte der Beschuldigte gegenüber dem
Untersuchungsführer des MfS. Seine Aussagen bestätigten eine bemerkenswerte,
den Sicherheitsorganen auch aus anderen bereits abgeschlossenen Operativen
Vorgängen und vorhandenen Dokumenten bekannte Tatsache. Auch ihm wurde
spätestens 1939 ab seinem Einsatz im besetzten Brüx
von der Direktionsebene des IG Farben-Konzerns die Funktion eines
Abwehrbeauftragten (Abwb) angetragen und das fand
seine Zustimmung. Diese seine interne (oder nach heutigem Sprachgebrauch besser
inoffizielle) Arbeit in Brüx war zunächst darauf
angelegt, durch sein Wirken ein solches technisch-organisatorisches
Sicherheitsregime im Kraftwerk durchzusetzen, um das möglichst störungsfreie
Betreiben der Anlagen unter den Bedingungen im besetzten Feindesland zu
gewährleisten.
Dazu
war ein aufgabenbezogener Informationsaustausch mit dem Konzernsitz in Deutschland
vereinbart, der von technischen Entscheidungen bis hin zu ständigen
Lageberichten (Zuführung von Arbeitskräften, Stimmung und Versorgungslage der
Bevölkerung, Zustand der Anlagen einschließlich der Infrastruktur usw.) ging.
Es
blieben während der deutschen Besetzung jedoch Störungen im Betriebsablauf
nicht aus, die nach Erkenntnis durch die deutschen staatlichen
Sicherheitsbehörden auch mit Aktivitäten des Widerstandes gegen die faschistischen
Aggressoren in Verbindung zu bringen waren. Die Aufgaben des Abwehrbeauftragten
wurden so Stück für Stück über das Technische hinaus für Zuarbeiten bei
Verdacht von Sabotage und anderen Hinweisen auf eine Widerstandsbewegung
erweitert. Diese Problematik wurde in der Untersuchungsarbeit des MfS gegen den
»Turbinen-Papst« nicht vertieft bzw. strafrechtlich qualifiziert. Es war davon
auszugehen, dass er durch das von ihm geschaffene Sicherheitsregime potentiell
Voraussetzungen auch für Strafaktionen schuf, jedoch keinen direkten Anteil
daran hatte. Seine Funktion als Abwehrbeauftragter war im
nationalsozialistischen Sinn ohne Zweifel mit einer politisch geprägten
Überwachung der Arbeitskräfte verbunden.
Durch
Dokumente, die uns bereits vor Anlegen des hier beschriebenen
Operativ-Vorganges bekannt waren, ist erwiesen, dass es bereits Jahre vor
Kriegsbeginn zwischen den Führungen der deutschen staatlichen Abwehrorgane und
den eigenen Abwehrstrukturen des IG Farben-Konzerns enge Arbeitsbeziehungen
gab. Die Belange der privatwirtschaftlichen Organisation der IG-Abwehr, d. h.
der Gewährleistung des Patentschutzes, der Verhinderung von Werksspionage und
ähnlichem, wurden mit den Jahren immer stärker mit den politischen
Zielsetzungen des nationalsozialistischen Staates verflochten. Die beteiligten
Seiten zogen Vorteile aus dieser Zusammenarbeit, die zu einer immer tieferen
Verbindung, einschließlich personeller Verknüpfungen zwischen IG Farben-Konzern
mit den Institutionen des faschistischen Staates, führten.
Die
gemeinsamen Interessen des expansiven deutschen Monopolkapitals und des
faschistischen Staates (hier dem Oberkommando der Hitlerwehrmacht) waren
sprichwörtlich mit deutscher Gründlichkeit bis zur Perfektion organisiert. Ein
Beleg für diese Feststellung wird im Inhalt einer geheim gehaltenen Beratung am
2. Mai 1941 in Frankfurt am Main geliefert, also kurz vor dem faschistischen
Überfall auf die UdSSR.
Vom
in Berlin ansässigen IG-Büro A nahmen der Hauptabwehrbeauftragte Dr. Schneider
und Dr. von der Heyde als sein Stellvertreter und von der militärischen Abwehr
Abw. I Wi (Amt Canaris) ein Major Dr. Bloch teil.
Major Dr. Bloch führte aus: »Hauptzweck der Tagung bestehe darin, sich über
eine möglichst rationelle und zweckmäßige Durchführung einer systematischen
Zusammenarbeit auf lange Sicht klar zu werden. Er zeigte auf, weshalb es gerade
jetzt im Kriege notwendig sei, eine solche Zukunftsaufgabe zu intensivieren und
unterstrich, dass die Mitarbeit der IG – wie überhaupt der deutschen Wirtschaft
– keinesfalls mit Kriegsschluss beendet sein darf, sondern dass es im Gegenteil
notwendig ist, die ganze deutsche Wirtschaft gerade nach dem gewonnenen Krieg
systematisch für eine Mitarbeit auf dem Gebiet des Auslandsnachrichtendienstes
bzgl. wirtschaftlicher (wehrwirtschaftlicher) Fragen zu gewinnen und damit
systematischer als bisher einzuschalten.«
Mit
detaillierten Erläuterungen wurden folgende Komplexe beschlossen (nachfolgend
die wesentlichen protokollierten Angaben):
1.
Auslandsreisen von Herren der IG sind rechtzeitig den Abwehrstellen zur
Kenntnis zu geben, um Aufträge vorbringen zu können; der aus dem Ausland zurück
kehrende Reisende soll dem Abwb der IG berichten.
2.
Besucher aus dem Ausland, insbesondere Reichsdeutsche, sollen künftig restlos
mit der militärischen Abwehrstelle in Kontakt gebracht werden.
3.
IG-Herren, die ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben, sollen nach Wünschen
von Abw.I Wi zu V-Leuten
bestellt werden. Aus Gründen der Geheimhaltung erfolgt keine listenmäßige
Erfassung bei der IG.
4.
Auslandsvertreterberichte sollen möglichst restlos bei der IG erfasst und für
Abw. I Wi zur Auswertung bearbeitet werden.
5.
(betrifft Auswertung des in Deutschland erarbeiteten statistischen und
volkswirtschaftlichen Materials durch Abw.1 Wi)
6.
Auf Wunsch von Major Dr. Bloch wird die IG auch weiterhin Angehörigen von Abw.
I Wi oder deren Außenstellen bei Tarnung von Reisen
ins Ausland nach Möglichkeit behilflich sein.
Im
Protokoll dieses Treffens, nachzulesen in »Hitlers Spionagegenerale sagen aus«
von Julius Mader, 1970 erschienen, heißt es weiter: »In Zukunft soll es
allgemein heißen: keine Auslandsreise, kein Auslandsaufenthalt, kein Besuch aus
dem Ausland, kein Bericht aus dem Ausland, kein Nachrichten- oder
Erfahrungsaustausch mit dem Ausland ohne die Überlegung, ob Abw. I Wi und ihre Außenstellen daran interessiert sind.« Die
inhaltliche Breite dieser Aufträge berührte praktisch alle Angaben zu Land und
Leuten, Lage und Stimmung der Bevölkerung bis hin zu Industrie- und
Verkehrsanlagen sowie zu militärischen Anlagen einschließlich der Entwicklungen
auf den Kriegsschauplätzen.
Erwiesen
ist, dass das Aufklärungs- und Informationssystem der IG Farben auf Grund
seiner speziellen personellen Strukturen auch in den letzten Kriegsmonaten
immer noch funktionierte. Damit ist gemeint, dass die nachrichtdienstlich
genutzten Konzernmitarbeiter im Ausland durch ihre kommerziellen bzw.
technischen Funktionen gut abgedeckt und zudem immer unmittelbar an den
Schwerpunkten des geheimdienstlichen Interesses tätig werden konnten. Diese
Effektivität war mit den eigenen Quellen der deutschen Geheimdienste, besonders
der militärischen, nicht durchzuhalten, insbesondere nicht unter den
Bedingungen der Rückzugsgefechte in den letzten Monaten des Krieges.
Aus
anderen aufgefundenen Dokumenten ist übrigens bekannt, dass gleiche
nachrichtendienstliche Strukturen auch in weiteren deutschen Konzernen, so zum
Beispiel in den Zeiss-Werken, aufgebaut worden waren. Der Beschuldigte sagte
aus, dass er im Synthesewerk Brüx bis zur
unmittelbaren Einnahme durch die Rote Armee ausharrte, es jedoch nicht zu einer
Begegnung kommen ließ. Er trat die Flucht in Richtung Westen per Fahrrad an.
Immer die Nähe der Front abwartend überquerte er das Erzgebirge und gelangte
schließlich geplant in die Hände der US-Armee im Südwesten Deutschlands. Dieses
Ende seiner Fluchtbewegung zu den Amerikanern war ihm wiederum vom Konzern so
vorgegeben worden und für ihn mit geringer Gefahr seiner Gefangennahme oder
Internierung verbunden. Er war im Besitz eines Dokumentes, ausgestellt von
einer USA-Behörde (offenkundig einem Geheimdienst), in welchem jede
amerikanische Einheit angewiesen wurde, dem Besitzer des Dokumentes Hilfe und
Unterstützung zu geben. Im Verlaufe seiner Absetzbewegung in Richtung Westen
übermittelte er Berichte zum sowjetischen Vormarsch und der Lage an der Front
an seinen Kontaktmann im Konzern.
Sein
Aufenthalt im Westen Deutschlands dauerte nur kurze Zeit. Er meldete sich im
Konzern-Sitz zurück und erhielt den Auftrag, sich nach Leuna abzusetzen, sich
dort wieder anzusiedeln und seine berufliche Tätigkeit im Leuna-Werk wieder
aufzunehmen. So kam er in Leuna an, als Sachsen-Anhalt und Thüringen noch unter
amerikanischer Besatzung standen. Auf Grund der unvorstellbaren Zerstörungen
der Produktionsanlagen, dem allgemeinen Durcheinander und dem Leben unter der
amerikanischen Besatzung war es nicht aufgefallen, wie, woher und wann er
wieder in Leuna eintraf. Als im Juni 1945 mit der Neuordnung der
Besatzungszonen die Ostzone unter sowjetischer Besetzung entstand, hatte er
sich bereits in Leuna wieder etabliert. Es wurde jede Hand gebraucht und er war
es gewohnt, zuzupacken. So begann sein neuer Start im zerstörten Osten
Deutschlands.
In
seinen Vernehmungen sagte der »Turbinen-Papst« aus, dass er sich zunächst mit
einem leitenden Mitarbeiter in der Technischen Direktion der Leuna-Werke in
Verbindung zu setzen hatte. Dies tat er und es wurde ein Bündnis für die
nächsten Jahre geschlossen.
Die
Vereinbarung hatte zum Inhalt, dass der Beschuldigte seine berufliche Laufbahn
auch weiterhin mit den Interessen des Konzerns abstimmt und von diesem mit den
gegebenen Möglichkeiten dabei unterstützt wird. Er hing an seinem Beruf, sein
Lebensinhalt war die Beherrschung der Technik und er stellte alle anderen Dinge
des Lebens hinten an. In den ersten Jahren des Wiederaufbaus der zerstörten
Anlagen des Leuna-Werkes stand er immer zur Verfügung, wenn er gebraucht wurde.
Diese Haltung war ganz gewiss ehrlich und entsprach seinem beruflichen Ehrgeiz.
Bald wurde er auch über Leuna hinaus in der Hallenser Region als ein Fachmann
auf dem Gebiet der Kraftwerks-Technik bekannt und stand für Beratungen und auch
bereits für einen begrenzten Einsatz als Gutachter zur Verfügung.
Diese
Erweiterung seines Wirkens war jedoch nicht nur sein eigenes Werk, sondern
entsprach dem generellen Plan der im Osten enteigneten Konzerne und wurde ganz
entscheidend durch Einfluss des bereits genannten Mitarbeiters in der
Technischen Direktion betrieben. Dieser war über Jahre der unmittelbare
Vorgesetzte des Beschuldigten im Leuna-Werk. Er sorgte auch dafür, dass dessen
Personalakte mit lobreichen Beurteilungen angefüllt wurde. Jede positiv
ausgegangene Leistung bei der Beherrschung aufgetretener Störungen und deren
Beseitigung wurde benannt und mit Prämien und anderen, eher bescheidenen
Ehrungen, gewürdigt. Diese Entwicklung war klar kalkuliert. Der Beschuldigte
wurde so über seine Tätigkeit in den Leuna-Werken hinaus bald republikweit
bekannt. Es gab inzwischen nicht mehr die so genannte SBZ, sondern die DDR war
gegründet worden.
Im
Osten Deutschlands waren die zum IG Farben-Konzern gehörenden Chemiewerke
enteignet worden, die »Entflechtung« hatte gegriffen. Im Westen ging das
offiziell zögerlich voran, im Hintergrund jedoch wurde das eigentliche Kapital
des Konzerns – sein Einfluss und seine Macht auf den Staat – nur umgebaut. So
war es auch erklärlich, dass der »Turbinen-Papst« in keiner Phase ohne Führung
durch den Konzern dastand. Neben seinem direkten Förderer in der Technischen
Direktion der Leuna-Werke wurde zu ihm eine stabile Verbindung über einen
Vertreter des Siemens-Konzerns geschaffen.
In
den Vernehmungen sagte der Beschuldigte aus, dass über sein Zusammenwirken mit
dem Vertreter des Siemens-Konzerns letztlich die Interessen des
IG-Farben-Konzerns weiterhin realisiert wurden. Durch die Aussagen konnten die
gegen den sozialistischen Aufbau gerichteten Konzerninteressen so
zusammengefasst werden:
1.
Schädigung der Volkswirtschaft der DDR durch Herbeiführung von Havarien und
Störungen auf dem Gebiet der Energieerzeugung und -versorgung;
2.
Herstellung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeit von westlicher Technik und
damit eine zusätzliche Belastung der Devisenbilanz der DDR;
3.
Es sollte sichergestellt werden, dass Anlagen und Betriebe der
Energiewirtschaft weiterhin mit der Technik aus dem Westen ausgerüstet bleiben
mit dem Ziel, sie bei einer Wiedervereinigung nach westlichem Modell problemlos
übernehmen und weiter betreiben zu können;
4.
Durch den Absatz der konzerneigenen Produkte einschließlich seiner
Dienstleistungen (Reparaturen u. ä.) sollte ein zusätzlicher Gewinn erzielt
werden. Diese Zielstellung war aber untergeordnet, da der »Zonen-Markt« im
Konzernmaßstab unbedeutend war.
In
der Untersuchungsarbeit konnte zu weiteren subversiven Handlungen des
Beschuldigten Beweismaterial gesichert und viele der über Jahre zurückliegenden
Vorkommnisse nachvollzogen werden. Die besondere Schwere seiner Handlungen
bestand darin, dass er neben den eingetretenen wirtschaftlichen Schäden die
Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen hatte. Diese direkt feindselige
Haltung wiegt umso schwerer, weil in Absprache mit dem Siemens-Vertreter nicht
nur Reparaturmaßnahmen ohne zwingende Notwendigkeit an westdeutsche Unternehmen
vergeben wurden, sondern damit bewusst Möglichkeiten geschaffen wurden, die
betroffenen Anlagenteile erneut mit Fehlerquellen zu versehen. Daraus erklären
sich die entstandenen Mehrfachreparaturen mit allen damit verbundenen
Nachteilen für die Betreiber in der DDR.
Darin
lag eine von mehreren Ursachen für die jahrelange Instabilität des Chemieringes.
Die
Havarie im Kraftwerk Erfurt-Gispersleben wurde dank
mehrjähriger Ermittlungsarbeit aller für Sicherheit und Ordnung zuständigen
Organe der vorläufige Schlusspunkt einer verbrecherischen Tätigkeit. In den
Vernehmungen befragt, wie die Abstimmungen zwischen den Mitangeklagten im
Einzelnen durchgeführt worden waren, brachten diese übereinstimmend zum
Ausdruck, dass sie davon ausgingen, von den Staatssicherheitsorganen der DDR
unter Kontrolle gehalten zu werden. Es habe keiner besonderen Verständigung
über das Herangehen an die Bearbeitung einer Havarie oder anderer Aufgaben
bedurft, weil die Zielstellung ihrer Aktionen grundsätzlich immer klar war – zu
stören.
Der
»Turbinen-Papst« als der in der DDR anerkannte Fachmann für das Betreiben, die
Wartung und Reparatur von Kraftwerkstechniken, begutachtete die anstehenden
Probleme, und der Siemens-Vertreter unterbreitete entsprechend abgestimmte
Lösungsvorschläge, die in einer Vielzahl von Fällen zur Ausführung kamen. Bei
ihren diesbezüglichen Absprachen, sofern sie in geschlossenen Räumen in Leuna
(Werks-Räume oder Wohnungen), in Berlin oder in anderen Chemiebetrieben
stattfanden, verständigten sie sich über erforderliche Maßnahmen mit einem
Blick und meinten immer das genaue Gegenteil ihrer gesprochenen Worte.
Alles
das war auch für unsere weitere operative Arbeit eine sehr aufschlussreiche
Erkenntnis. So ist es auch zu verstehen, dass alle üblichen Muster zur
Feststellung feindlicher Handlungen bei dieser Kategorie von Saboteuren nicht
gegriffen hatten, wäre ihnen nicht die hohe fachliche Kompetenz der zur
operativen Bearbeitung eingesetzten Inoffiziellen Mitarbeiter zum Stolperstein
geworden.
Der
Beschuldigte war verheiratet. Als parteiloser leitender Mitarbeiter, der über
die Leuna-Werke hinaus bekannt und gerühmt wurde, hatte man von ihm keine
negativen politischen Äußerungen gehört, die allgemein verbreiteten Kritiken zu
Leitungsfragen, Bürokratie, Versorgung usw. hier ausgenommen. Sein Leben
spielte sich im Werk und seinem Zuhause ab. Es gab keine Hinweise auf teure
Hobbys, Leidenschaften, größere Anschaffungen, Nachbarschaftsstreitigkeiten. Er
war eine Autoritätsperson und ließ Niemanden näher an sich herankommen.
Er
besaß keine Reichtümer und führte ein ortsübliches Leben ohne westliche Güter
zur Schau zu stellen. Vom IG-Farben-Konzern war ihm im Zusammenhang seiner
weiteren Verwendung nach Kriegsende für später eine Altersversorgung zugesagt
worden.
Beachtenswert
ist die über den Zeitraum von fast einem Arbeitsleben durchgestandene Disziplin
aller an diesem »Projekt« beteiligten Personen, Ämter und Gehilfen. Die hier
geschilderten Umstände und Handlungen sind Ausdruck eines kaum zu überbietenden
hohen Grades von Identifikation mit den Konzerninteressen in dem Bewusstsein,
dem nationalsozialistischen Staat und seinem Nachgeborenen auf deutschem Boden
zu dienen. Seine unauffällige Lebensart hat er nicht nur wegen einer als
notwendig erachteten Täuschung der Öffentlichkeit vorgelebt, sondern die
Persönlichkeit des »Turbinen-Papstes« war genauso angelegt – er musste sich in
seinen Handlungen immer vorsehen, aber nicht seinen Charakter verbiegen.
Der
Vorgangsabschluss und der Prozess vor dem Bezirksgericht Erfurt mit der
Verurteilung der Angeklagten gemäß Paragraf 23 StEG
reihte sich ein in die Ergebnisse der Abwehrarbeit des MfS gegen die auf die
Volkswirtschaft der DDR gerichteten feindlichen Angriffe. Ebenso bedeutsam,
weil bewiesen, waren die Erkenntnisse darüber, welche Potentiale die
westdeutschen Nachrichtendienste aus der faschistischen Herrschaft übernommen
und in ihrer vorherrschenden Angriffsrichtung Ost nahtlos weiter eingesetzt
haben. Abwehrbeauftragte der Konzerne wurden in allen Wirtschaftszweigen
geführt. Am Beispiel des IG-Farben-Konzerns konnte das arbeitsteilige Vorgehen
von Staat und Wirtschaft nachgewiesen werden.
Der
Staat als Machtinstrument der herrschenden Klasse – eine der Grundaussagen der
Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus – wurde uns sehr praxisnah
vorgeführt. Gewissermaßen absolvierten wir eine mehrjährige Ausbildung auf
diesem Wissenschaftszweig. Man muss kein Hellseher sein um zu erahnen, welcher
Flut feindlicher Aktivitäten die DDR bis 1989 ausgesetzt war und der Osten
Deutschlands es nach 1989 und heute noch ist.
Oder
geht etwa alles mit rechten Dingen zu? Nach dem Anschluss der DDR an die BRD im
Jahre 1990 wurden rechtskräftig von DDR-Gerichten wegen begangener Verbrechen
verurteilte Straftäter zu »Opfern einer Gewalt- und Willkürherrschaft« erklärt.
»Aufarbeitungs- und Opfervereine« würdigen diese als antikommunistische
Widerstandskämpfer, die einen erheblichen Beitrag dazu geleistet haben, die
»Diktatur in der DDR« zu überwinden.
Es
entzieht sich meiner Kenntnis, ob der im vorliegenden Beitrag wegen seiner
Straftaten einst Verurteilte auch rehabilitiert wurde. Auch ist mir nicht
bekannt, ob er vielleicht schon zu DDR-Zeiten von Amnestieerlassen betroffen
war.
Ich,
der auf Abwehrseite tätig gewesene Mitarbeiter der Staatssicherheitsorgane der
DDR, habe meine Erfahrungen gemacht mit den aus westlichen Gefilden tönenden
Losungen über die »Brüder und Schwestern im Osten«, und daran erinnere ich
mich, wenn ich höre oder lese: »Blühende Landschaften«. Und das auch mit
Bitterkeit.
im
Wissenschaftsbereich
Von
Klaus Panster
Jahrgang
1938; Diplomjurist; Dr. jur.; MfS/AfNS 1956 – 1990;
Oberstleutnant a. D.; zuletzt Stellvertretender Abteilungsleiter in der HA
XVIII des MfS
Ein
Verwaltungsleiter im Akademie-Institut und USA-Spion
Mein
erster »richtiger« Erfolg nahm seinen Anfang am Tisch meines Abteilungsleiters.
Ich war etwa zwei Monate in der Abteilung, als um die Monatsmitte Dezember 1958
auf meinem Schreibtisch das Telefon klingelte. Switala:
»Komm mal zu mir! Bring deine Handakten mit!«
Mit
dem Häuflein Hefter in der Hand war ich Minuten später in seinem Zimmer. Er
nahm mein Papier und fing an zu blättern, stellenweise zu lesen. Plötzlich
sagte er, von einer der Akten aufblickend: »Warum ist der noch nicht
eingesperrt. Das ist doch ein Agent!«
Sicher
habe ich irritiert geguckt.
»Hier,
lies das mal!«
Es
war ein IM-Bericht aus einer anderen Diensteinheit, etwa 10 oder 12 Zeilen, in
der Akte über J. L., den Verwaltungsleiter des Heinrich-Hertz-Instituts (HHI)
in Berlin-Adlershof. Der berichtende IM kannte L. (woher, habe ich nicht in
Erinnerung) und hatte diesen zufällig eines Tages gegen Mitternacht – offenbar
angetrunken – auf dem Bahnhof Friedrichstraße gesehen, und zwar auf dem
Bahnsteig, auf dem die S-Bahnzüge aus Westberlin ankamen.
Der
Chef: »Was hat ein Mann in dieser Position abends in Westberlin zu suchen?! Mit
wem trinkt der dort?! Zum Treff war der!«
Ich
wusste nichts zu sagen. Gelesen hatte ich das auch, aber mir keine Fragen dazu
gestellt. Ich bekam Weisung: Überprüfungsvorgang anlegen, dazu
Eröffnungsbericht schreiben und Maßnahmeplan vorlegen.
Termin: vor Weihnachten! Damit war ich entlassen.
Die
nächsten acht Tage habe ich geschwitzt. Die wenigen Kenntnisse über L.
zusammenzufassen, war nicht viel Mühe, aber was konnte ich zur Überprüfung und
Klärung des Verdachts, den der Chef ableitete, an Maßnahmen vorschlagen? Die
Theorie war an unserer Schule in Eiche Unterrichtsstoff, jetzt hatte ich es
erstmals mit einem konkreten Fall zu tun. Es wird nicht großartig gewesen sein,
was mir einfiel; wahrscheinlich zunächst Routinemaßnahmen zur Vervollständigung
der Kenntnisse über Person und Lebensverhältnisse, Aufgaben und Umfeld im
Institut sowie Abfrage der in Betracht kommenden Speicher im MfS über evtl.
weitere Hinweise zu L.
Auf
jeden Fall gehörte dazu, im dienstlichen, im privaten (soweit bekannt) und im
Wohn-Umfeld des zu Überprüfenden abzuklären, ob sich dort nutzbare Quellen des
MfS fanden. Auch wenn der Zufall da vielleicht half, war unverzichtbar, einen
Kandidaten zu suchen, den ich selbst als IM zur »Bearbeitung« des Verdächtigen
einsetzen konnte. So wenig »großartig« mein Maßnahmeplan
für eine erste Etappe wohl war, er wurde bestätigt, die nötigen Formulare
desgleichen, so dass ich tatsächlich vor Weihnachten den Aktendeckel von der
Registratur für meinen ersten Operativen Vorgang in Händen hatte.
Zur
Erläuterung: Heute, da jeder über das MfS Bescheid zu wissen meint, ist
verbreitet, das MfS habe Menschen »zu Vorgängen gemacht«. »Vorgang« hießen die
Akten, »IM-Vorgang« die blaue Akte, in der das Papier über einen IM und die
Arbeit mit ihm geordnet aufbewahrt wurde, »ÜberprüfungsVorgang«
– und wenn in dessen Ergebnis die Verdachtsmomente dringend wurden –
»Operativ-Vorgang« hießen die gelben, in denen die Maßnahmen und deren
Ergebnisse dokumentiert wurden, um den Verdacht einer Straftat zu klären.
Diese
Klärung im Falle J. L. wurde Hauptinhalt meiner Arbeit im Jahre 1959. Es sei
vorweggenommen: »Kurz« – so unser Deckname für den Verdächtigen – erwies sich
als Spion des US-Geheimdienstes. Die »Nase« des Chefs hatte auf die richtige
Spur geführt. Wir haben »Kurz« Ende September 1959 festgenommen; 1960 wurde er
zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Doch
der Reihe nach.
Die
Bearbeitung von »Kurz« wegen Spionage-Verdachts will ich als Beispiel dafür
schildern, wie eine abwehrmäßige Vorgangs-Bearbeitung durch das MfS damals vor
sich ging. Obwohl seither über fünfzig Jahre vergangen sind, habe ich eine
einigermaßen genaue Erinnerung daran – vielleicht weil sich dieser erste
nennenswerte Erfolg stärker eingeprägt hat als spätere Vorgänge, in denen sich
der Ausgangsverdacht oft nicht bestätigte.
Wichtigste
Voraussetzung, derartige Vorgänge erfolgreich bearbeiten zu können – so die
Erfahrung des MfS (und sicher jeglicher nachrichtendienstlichen Arbeit) – war
es, einen Inoffiziellen Mitarbeiter zu finden, der entweder eine vertrauliche
Beziehung zu »Kurz« schon besaß oder herstellen konnte. Unter meinen IM kam
dafür nur »Hahn« in Frage. Mit ihm beriet ich die Aufgabe, zügig eine enge
Verbindung zu »Kurz« herzustellen, ohne sich verdächtig zu machen. »Hahn« löste
das exzellent. Im Frühsommer 1959 war er bereits Teilnehmer der privaten
Geburtstagsfeier von »Kurz«. So erfuhren wir, dass zu dem kleinen Kreis der
Gäste auch eine Westberlinerin M. gehörte, deren Überprüfung in MfS-Archiven
ergab, dass ihr verstorbener Ehemann in Westberlin für den US-Geheimdienst
gearbeitet hatte. Das bestärkte unseren Verdacht gegen »Kurz«, war aber viel zu
vage, um strafprozessrechtlichen Anforderungen für die Einleitung eines
Ermittlungsverfahrens zu genügen. Es kam aber etwas anderes ans Licht: »Kurz«
vertraute »Hahn« an, dass er mit Frau und erwachsener Tochter (einer
Medizinisch-Technischen Assistentin, die im elterlichen Haushalt lebte)
vorbereitete, nach Westberlin »abzuhauen«. Dort habe er eine höhere Rente zu erwarten,
als im Osten, und überhaupt werde man dort besser leben können.
Nun
lagen Welten zwischen Spionage und »Republikflucht« bzw. deren Unterbindung.
Aber auch Letzteres galt für uns als Erfolg. Die Abwanderung von Menschen nach
dem Westen war kein kleines Problem für die DDR. Bei »Kurz« kam hinzu, dass er
durch seine Tätigkeit im HHI viele Informationen über das Institut und dessen
Mitarbeiter preisgeben konnte. Es war damals Allgemeinwissen, dass im
»Notaufnahmeverfahren« die Geheimdienste der westlichen Siegermächte und der
BRD reihum jeden im Westen angekommenen DDR-Bürger befragten, um gegen die DDR
ausnutzbare Informationen zu erlangen.
Im
Falle L. kam ein spezieller Aspekt hinzu: Etwa zwei Jahre vor »meiner Zeit« war
eine Sekretärin aus der Kaderabteilung der Akademie-Institute in Adlershof der
Spionage überführt worden. Ihren Aussagen zufolge hatten sich die Auftraggeber
in Westberlin unter den Adlershofer Instituten speziell für das HHI und dessen
Mitarbeiter interessiert. Das dürfte damit zu tun haben, dass das HHI für die
Deutsche Post und das MfS vertraglich gebunden Auftragsarbeiten ausführte:
Messergebnisse in bestimmten Wellenlängenbereichen ermöglichten Prognosen für
den Funkverkehr. Die Frequenzen, die für staatliche Stellen der DDR wichtig
waren, waren geheim zu halten.
Auf
Grund solcher Zusammenhänge wurde bei uns als erheblich eingeschätzt, wenn
»Kurz« am Verlassen der DDR gehindert werden konnte. Also verfolgte ich – durch
»Hahn« auf dem Laufenden gehalten – seine Fluchtvorbereitungen bis zu dem
Punkt, an dem sicher war, dass der Zustand der Wohnung genug Beweise liefern
würde, dass hier ein Abgang vorbereitet war. Es musste immer damit gerechnet
werden, dass Festgenommene nicht geständig waren. Also musste durch uns geklärt
werden, welche anderen schlüssigen Beweise in solchem Falle den Haftbefehl
rechtfertigen konnten. (Wenn die der DDR und speziell dem MfS und der
Strafjustiz unterstellte Willkür Tatsache gewesen wäre, hätten wir eine sehr
viel leichtere Arbeit gehabt. Aber entgegen anders lautenden Unterstellungen
waren wir eben nicht vom Verfolgungswahn besessen, sondern wollten Straftaten
zum Nachteil der DDR unterbinden. Und wenn solche nicht zu beweisen waren,
konnte es auch keine Strafmaßnahmen geben.)
Wir
nahmen zunächst die Tochter und danach »Kurz« morgens auf dem Wege zur S-Bahn
fest – ihre Gewohnheiten kannten wir inzwischen. Mir fiel zu, sie jeweils
anzusprechen und ihnen die Festnahme mitzuteilen. Ich war aufgeregt, aber es
lief alles ganz ruhig ab. Nachdem beide auf dem Wege zur Erstvernehmung bei der
Untersuchungsabteilung waren, stand die Durchsuchung der Wohnung zwecks
Beweissicherung an. Für Frau L. war es erkennbar ein Schreck, als wir vor ihrer
Tür standen und sie ins Bild setzten, aber sie trug es mit Fassung. Sie wurde
nicht in U Haft genommen, obwohl Tatbeteiligte. Wir gingen davon aus, dass sie
allein – ohne Mann und Tochter nicht fliehen würde. So kam es auch.
Die
Durchsuchung zeigte, dass wir nicht mehr lange hätten zögern dürfen – z. B. war
für jedes Familienmitglied gerade mal noch ein Essbesteck vorhanden. Als
Treffer erwies sich ein unscheinbares Zettelchen,
dass ich zwischen »Krimskrams« aus einer Schale in der Küche herausfischte.
Darauf notiert eine Ziffernfolge, deren Überprüfung in Speichern des MfS ergab,
dass unter dieser Nummer eine Dienststelle des US-Geheimdienstes in Westberlin
zu erreichen war. Nach Vorhalt gestand »Kurz«, vom amerikanischen Geheimdienst
angeworben zu sein und für diesen spioniert zu haben. Er gab an, dass er durch
einen Bekannten namens Emil A. (der im gleichen Kiez wohnte wie Familie L.) mit
dem US-Geheimdienst zusammengebracht wurde. A. hatte dort über die Stellung von
»Kurz« im HHI informiert und wurde daraufhin beauftragt, diesen zuzuführen.
Nach Zusicherung, man werde später die Übersiedlung der Familie nach dem Westen
und den Start dort unterstützen, hatte »Kurz« in die Agententätigkeit
eingewilligt. Sein Deckname bei den Amerikanern war »Jupp«.
Binnen
einer Woche war so doch noch ein Spionagefall sichtbar geworden – dazu einer
mit mehreren Tätern, zumal sich auch die Lebensgefährtin des A., Ottilie H.,
als beteiligt erwies. Die Beweislage war eindeutig, insbesondere, da die
unabhängigen Aussagen der Inhaftierten sich gegenseitig bestätigten und
Überprüfungen ergaben, dass angegebene Akteure und Trefforte des
US-Geheimdienstes in Westberlin tatsächlich existierten und dem MfS z. T. aus
anderen Vorgängen einschlägig bekannt waren. Für die Prozessvorbereitung wurde
das alles »wasserdicht« gemacht, wie wir es nannten.
Als
Beispiel: Auf eine Aussage, L. habe sich mit seinem Agentenführer »Carsten« in
einer Villa in Nikolassee, X Straße, Nr. Y getroffen, wurden durch uns Fotos
von Grundstück und Gebäude gemacht, dem Häftling L. vorgelegt und zu Protokoll
genommen, dass er zutreffend unter mehreren Fotos das richtige als Abbildung
des von ihm angegebenen Treffortes erkannt hatte. Wir mussten so akribisch
arbeiten, um Geständniswiderruf in der gerichtlichen Hauptverhandlung von
vornherein aussichtslos zu machen. Außerdem mussten wir sicher gehen,
tatsächlich Wissenszuwachs über Kräfte, Mittel und Methoden eines gegnerischen
Dienstes gewonnen zu haben, und nicht etwa Phantasiegebilde für Erkenntnisse zu
halten.
In
solche Überprüfungs- und Vergleichsarbeiten waren wir als »Operative« nach der
Inhaftierung von Straftätern mit eingespannt. Bei der Untersuchungsabteilung
traf ich regelmäßig mit dem die Untersuchung führenden Genossen zusammen. Er
übergab Kopien der Vernehmungsprotokolle zur Kenntnis und Auswertung für unsere
Arbeit. Zugleich hatte er Bitten um Überprüfungsmaßnahmen, die wir als Aufträge
behandelten. Durch mich (natürlich nach Zustimmung entscheidungsbefugter
Vorgesetzter) wurden dann ggf. bei anderen Diensteinheiten, z.B. bei der HA
VIII (Beobachtung und Fahndung), Aufträge ausgelöst zu Ermittlungen,
Dokumentationen und anderen zweckmäßigen Maßnahmen. Umgekehrt ergaben sich aus
den Ergebnissen der Vernehmungen Bitten unsererseits an die
Untersuchungsabteilung. Ganz wichtig war für uns, genau zu erfahren, nach
welchen Mitarbeitern oder Gruppen von Mitarbeitern der Akademie der gegnerische
Geheimdienst welche Fragen wie gestellt hatte. War ein Name beim Treff durch
»Kurz« ins Gespräch gebracht worden, war wesentlich, wie der
Geheimdienst-Mitarbeiter – sofort oder auch bei späteren Treffs – darauf
reagiert hatte. War ein Name durch den Geheimdienst vorgegeben worden, ohne
dass »Kurz« ihn zuvor genannt hatte, war erheblich, welche Vorkenntnisse über
die/den Betreffenden die Fragestellung erkennen ließ.
Aus
solchen Aussagen ließen sich Anhaltspunkte gewinnen, für wen sich der Gegner
interessierte und gegebenenfalls auch, wo er weitere Quellen nutzte.
Nachdem
die Untersuchung abgeschlossen war und die Akten durch die
Untersuchungsabteilung an die Staatsanwaltschaft übergeben waren, um Anklage
vorzubereiten, war die Arbeit für uns beendet; die Angelegenheit aus unserem
Einflussbereich heraus. Es gab dann irgendwann eine eher beiläufige
Information, dass der Prozess stattgefunden hatte und die Urteile so und so
ausgefallen waren. Bei »Kurz« und Mitangeklagten war es so, dass er und Emil A.
langjährige Zuchthausstrafen erhielten; auch Ottilie H. mehrere Jahre.
Die
Tochter L.’s war an der Spionage nicht beteiligt;
wegen Republikflucht-Vorbereitung wurden gegen sie – soweit mir erinnerlich – eineinhalb
oder zwei Jahre Gefängnisstrafe verhängt. Nach Strafverbüßung wurde sie als IM
angeworben. Wir hielten für möglich, dass der US-Geheimdienst Verbindung zu ihr
suchen würde, und wir könnten so Kenntnisse über dessen Pläne und Vorgehen
erlangen. Aber das erfolgte nicht – oder sie hat es uns nicht wissen lassen. Es
war eindeutig, dass sie nur auf unser Ansinnen einging, weil wir in Aussicht
stellten, dies könne zur Verkürzung der Haftzeit ihres Vaters beitragen. Sie
verhehlte das auch nicht; blieb immer distanziert. Wir haben die Verbindung zu
ihr nach einiger Zeit wegen Perspektivlosigkeit eingestellt. Danach habe ich
über »Kurz« und dessen Familie nichts mehr erfahren.
Was
zu diesem Fall noch zu berichten bleibt, ist die Wirkung im Heinrich-Hertz-Institut
(HHI) und für unsere Arbeit in den Akademie-Instituten. Nach der Inhaftierung
von »Kurz« informierte ich darüber den HHl-Direktor,
Prof. Hachenberg. Irgendwann in den ersten Monaten
hatte mein Referatsleiter mich bei ihm als nunmehr zuständigen Mitarbeiter des
MfS vorgestellt.
Wir
nannten das einen offiziellen Kontakt. Der wurde
generell zu Personen in Schlüsselpositionen des Verantwortungsbereichs
gepflegt. Aber es war in Inhalt und Form natürlich ein erheblicher Unterschied,
ob es etwas mit dem Genossen Kaderleiter zu besprechen gab oder mit dem aus der
Entwicklungsabteilung des Telefunken-Konzerns herkommenden bürgerlichen
Professor, der zudem noch Westberliner war. Hachenberg
galt damals auch im Westen als der bedeutendste deutsche Wissenschaftler auf
dem Gebiet der Radioastronomie. Nach seinen Plänen wurde ab 1957 auf dem
Adlershofer Akademie-Gelände eine Parabolantenne mit 36 m Durchmesser für
Empfang und Messung von Radiostrahlung aus dem kosmischen Raum errichtet. 1958
war der »Große Spiegel« weitgehend fertiggestellt. Er wurde ein Wahrzeichen des
Akademiegeländes und ganz Adlershofs. Er war eine mit Hachenbergs
Namen verbundene wissenschaftliche und konstruktive Leistung und zugleich ein
Beleg, wie die damals alles andere als reiche DDR erhebliche Summen
bereitstellte, um Grundlagenforschung zu fördern.
Als
für mich der Termin des ersten selbständigen Gesprächs mit Hachenberg
heranrückte, fühlte ich mich gar nicht wohl in meiner Haut. Ich konstruierte
mir dann für mich selbst ein Gedankengebäude, das mir Rückhalt geben sollte
(und auch gab).
Das
ging etwa so: »H. ist Professor. Kann ich es zum Professor bringen? Ja, na
klar! Kann H. es zum Mitarbeiter des MfS bringen? Nie! Also kein Grund für
Kleinmut.«
Mir
war durchaus bewusst, dass diese Konstruktion fragwürdig war, aber irgendwie
musste ich mit meinen 21 Jahren bewältigen, einem solchen Mann ein
Gesprächspartner zu werden. H. war bekanntermaßen kein Freund der DDR und
versuchte auch nicht, sich diesen Anschein zu geben. Die Gespräche waren von
distanzierter Höflichkeit geprägt.
Ich
erinnere mich nicht im Einzelnen, wie er die Information aufnahm, dass und
warum sein Verwaltungschef durch das MfS inhaftiert wurde. Erkennbar wurde aber
meine Position für die Zukunft gestärkt. Unsererseits ging es ja stets darum,
auf Lästiges zu drängen: Ordnung, Sicherheit, Geheimnisschutz. Aber ab dato war
in den Hinterköpfen immer der Fall »Kurz«, der nicht mehr zuließ, Regelungen
und Maßnahmen, die wir anmahnten, als unnötige Bürokratie oder Ähnliches abtun zu
wollen.
Grenzschließung
in Berlin 1961 –
Desaster
für die West-Geheimdienste
In
den ersten Tagen nach dem 13.August 1961 mussten wir die Schwerpunkte unserer
Sicherungsarbeit neu bestimmen. Die ersten Tage nach der Grenzschließung
zeigten, dass es seitens des Westens keine für die DDR ernsthaft bedrohlichen
Aktionen geben werde. Nun galt es für uns als nachrichtendienstliche Abwehr,
die für die gegnerischen Geheimdienste, Agentenzentralen und andere
Einrichtungen des Westens plötzlich erheblich kompliziertere Lage zu nutzen.
Deren Verbindungskanäle zu ihren Helfershelfern in der DDR waren in Berlin fast
vollständig auf Nutzung der offenen Grenze gebaut. Jetzt waren die Verbindungen
gestört. Sie wieder zu knüpfen, mussten die Feindzentralen Risiken eingehen,
soweit sie nicht vorgesorgt hatten. Dass die Situation für uns Chancen bot,
bisher nicht enttarnte feindliche Verbindungen zu erkennen, lag auf der Hand.
Und ich war gewillt, das zu nutzen.
In
meinem Schrank lag eine dünne Akte mit dem Hinweis, dass der BND sich bemüht
hatte, den Labormechaniker W. aus dem Adlershofer Heinrich-Hertz-Institut für
Schwingungsforschung in Westberlin sprechen zu können. Der Sohn dieses Mannes
hatte nach Republikflucht 1960 bei der Befragung durch BND-Leute im Lager Marienfelde
erzählt, dass sein Vater im genannten Institut tätig war. Danach wurde er
aufgefordert, den Vater zu einem Gespräch nach Westberlin zu bitten – die
Grenze war ja offen – und den BND wissen zu lassen, wann und wo das Treffen
stattfinden würde.
Nach
unserer Erfahrung hieß das mit hoher Wahrscheinlichkeit, der BND wollte W. –
zugeführt durch dessen Sohn – anwerben. Durch die Diensteinheit, die den
Hinweis erarbeitet hatte, war dieser zuständigkeitshalber unserer Abteilung
zugeleitet worden. So kam er zu mir. Was fehlte war die Kenntnis, ob es zu
einem Gespräch zwischen dem BND und W. gekommen war, und wenn ja mit welchem Ergebnis.
Ich
hatte an der Prüfung des Hinweises nicht intensiv gearbeitet. Ob es eine Rolle
spielte, dass mir nichts Effektives eingefallen war, ob wegen Belastung mit
anderen Aufgaben oder auch infolge anderer Gründe, ist mir nicht erinnerlich.
Fakt war, dass ich nichts Nennenswertes tat.
Routinemaßnahmen
hatten ergeben, dass W. seiner Arbeit ordentlich nachging, in keiner Weise im
Institut auffiel. Mit seiner Frau – vor dessen Republikflucht auch noch mit dem
Sohn – wohnte er in einer Mietwohnung in Treptow. Interessant war, dass W. als
kirchlicher Laie der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg
angehörte. Aber W.’s kirchliches Amt war kein Anlass
gewesen, mich dem Hinweis energisch zuzuwenden, dass er evtl. vom BND
angeworben war.
Nun
sah ich die Sache mit anderen Augen. Mit angetrieben von schlechtem Gewissen,
dass ich zur Prüfung des Hinweises bisher kaum etwas getan hatte, sann ich
nach, wie unter Nutzung der nach dem 13.August neuen Situation Klärung gelingen
konnte – und zwar nicht in lang andauernder Bearbeitung, sondern möglichst mit
einer Art Handstreich. Denn es war klar, dass die Geheimdienste sich beeilen würden,
gestörte Verbindungen zu ihren Leuten in der DDR wieder herzustellen.
Gedanklich
rekonstruierte ich die Situation, in der sich W. wahrscheinlich befand, falls
er wirklich angeworben war: Von seinen Auftraggebern und von der
Fluchtmöglichkeit nach Westberlin plötzlich abgeschnitten, nicht vorbereitet
auf diese Komplikation, musste er wohl oder übel darauf warten, dass der BND
sich bei ihm melden würde. Schließlich waren das die Profis, nicht er. Und was
könnte er auch tun ohne zu großes Risiko? Wenn also ein angeblicher Kurier des
Geheimdienstes zu ihm käme, gäbe es eine reale Chance, dass W. in seiner
Erleichterung eine ihn verratende Reaktion zeigen würde.
Da
wir ja nicht wussten, ob angeworben oder nicht, würde es »lediglich« darauf
ankommen, dass unser Genosse – der angebliche Abgesandte des BND – sein
Anliegen so vortrug, dass es als Versuch einer Neuwerbung verstanden werden
konnte oder eben als Versuch der Verbindungsaufnahme zu einem schon Geworbenen.
Es steckten – das war mir bewusst – Unwägbarkeiten und Risiken in der Idee,
aber eben auch eine reale Chance. Im ungünstigsten Falle hatte der BND dem W.
ein Losungswort oder anderes Erkennungszeichen genannt, mit dem sich ein Kurier
ggf. ausweisen würde. W. würde dann auf die durch mich erwogene Finte kaum
hereinfallen. Wahrscheinlich würden wir dann nie erfahren, ob er angeworben
war, da ein gewarnter Spion in aller Regel nicht mehr zu fassen ist. Einige
Tage ging mir das Für und Wider im Kopfe herum, dann entschloss ich mich,
meinen Vorschlag zu unterbreiten. Für mich selbst überraschend stimmte der Chef
binnen weniger Stunden der Idee zu. Ausschlag gebend dafür waren sicher seine
Risikobereitschaft und Entschlusskraft. Und wohl auch, dass er es schätzte,
wenn Mitarbeiter Ideen und Initiative einbrachten.
Nach
der Entscheidung blieb die Frage, wen losschicken? Im »Normalfall« war so etwas
Aufgabe für einen IM, in diesem Falle für einen, der tatsächlich »Wessi« war.
Einen solchen IM auszuwählen und vorzubereiten, hätte aber Zeit gekostet. Also
entschied der Chef, einen Mitarbeiter der Abteilung dafür einzusetzen. Die Wahl
fiel auf Kurt, einen der wenigen älteren Genossen in der Abteilung. Er stach
von allen anderen in unserer Truppe deutlich ab: kein Sachse, ständig in
Nadelstreifen-Anzug mit Binder und mit Stockschirm »bewaffnet«, hatte er etwas
aristokratisch Anmutendes an sich. Kurt war auch sofort bereit, die Rolle zu
spielen, stellte allerdings eine Bedingung: er wollte mit einem
West-Personalausweis ausgerüstet werden. Das wurde für vernünftig befunden.
Binnen 24 Stunden war der Ausweis da.
Inzwischen
hatten wir gemeinsam beraten und festgelegt, wie Kurt sich an der Wohnungstür
bei W. vorstellen und wie er sein Anliegen formulieren würde. Auch Varianten
seines weiteren Verhaltens – je nach Reaktion des W. –spielten wir durch. Am
späten Abend ging Kurt los. Mir ist es als Zufall in Erinnerung, aber
vielleicht war es auch Resultat davon, dass ich unruhig auf dem Korridor
herumtigerte, jedenfalls war ich der Erste, der Kurt sah, als er – schon ein
Stück nach 23 Uhr – gemessenen Schrittes die Treppe heraufkam. Er sagte nur:
»Ist Spion.«
Zusammen
gingen wir sofort zum Chef.
Kurts
Bericht zufolge war die erste Reaktion von W. auf den Einleitungssatz »Ich
komme aus Westberlin«, dass er sich den Ausweis zeigen
ließ. Und dann kam sofort: »Endlich kommt einer von Euch! Wo soll ich denn mit
dem ganzen Zeug hin?« Auf eine solche Frage hatten wir
keine Antwort geübt. Aber Kurt reagierte klug mit »Erst einmal alles lassen, wo
es ist.« Er teilte W. dann mit, heute wäre es nur
darum gegangen, sich zu vergewissern, dass dieser »zur Stange hält«. Um
Konkretes zu besprechen, würde er am nächsten Abend wiederkommen.
Es
gab keine »Siegesfeier«. Das war nicht die Art unseres Chefs, außerdem war noch
eine Menge zu leisten. Wie jetzt weiter war schnell befunden. W. sollte – mit
Zustimmung des vom Chef informierten zuständigen Stellvertreters des Ministers
General Walter – am nächsten Morgen auf dem Wege zur Arbeit festgenommen
werden. Infolge seiner Reaktion am Vorabend konnten wir sicher sein, in seinem
Besitz gegenständliche Beweise für eine Täterschaft zu finden. Die
Hauptabteilung VIII wurde beauftragt, die Festnahme vorzunehmen – dafür gab es
dort spezielle Trupps. Die Untersuchungs-Abteilung wurde informiert, damit dort
Vorbereitungen für die Erstvernehmung W.’s getroffen
wurden.
Am
nächsten Morgen gab es allerdings eine Panne. Die Festnahme-Gruppe meldete,
dass ihr W. »durch die Lappen gegangen« war. Sie waren auf einen Mann
eingestellt, der brav zur S-Bahn laufen würde, um mit der zur Arbeit zu fahren.
Infolge meiner mangelhaften Überprüfungen wussten wir nicht, dass W. für seine
kirchlichen Aktivitäten ein Motorrad zur Verfügung gestellt war, das er – wie
auch an diesem Morgen – häufig für den Weg zur Arbeit nutzte. Er musste also
vom Arbeitsplatz weg festgenommen werden. Das konnte ohne Aufsehen eine Gruppe
der HA VIII nicht leisten, die die Örtlichkeiten und Regimeverhältnisse in dem
Adlershofer Institut nicht kannte. Also musste improvisiert werden. Wir – eine
Pkw-Besatzung operativer Mitarbeiter – fuhren nach Adlershof. Die für das HHI
zuständige Kadersachbearbeiterin rief auf meine Bitte bei W. im Labor an – er
war am Arbeitsplatz. Wie besprochen bat sie ihn, zu ihr zu kommen. Das bot sich
für uns an, da ihr Arbeitszimmer in einem anderen Gebäude lag. Es dauerte keine
zehn Minuten, da erschien der Gerufene. Die Kadersachbearbeiterin hatte ich
zuvor gebeten, mir ihr Zimmer für eine halbe Stunde zu überlassen. (Es war
nicht auszuschließen, dass W. bei der Festnahme Widerstand leisten würde, und
wir konnten die Genossin nicht gefährden.)
W.
reagierte aber fast teilnahmslos, als ich ihm eröffnete, er sei festgenommen.
Widerstandslos ging er vor mir her aus Zimmer und Gebäude zu unserem Fahrzeug,
mit dem er nach Hohenschönhausen zur Erstvernehmung gebracht wurde.
Mir
fiel zu, unserer Helferin mitzuteilen, was geschehen war, ihr zu danken und mit
ihr zu besprechen, welche Nachricht sie an die Kollegen von W. gab, damit diese
sich nicht schon in den nächsten Stunden den Kopf zerbrachen, wieso der so
lange bei der Kaderabteilung aufgehalten wurde. Vorzeitig Unruhe zu erregen,
hätte dazu führen können, dass seine Ehefrau durch einen Anruf aus dem Institut
aufgestört wurde, ehe wir in der Wohnung zur Durchsuchung eingetroffen waren.
Das
war unser nächster Weg. Gemeinsam mit einem auf diesen Einsatz bereits
vorbereiteten Staatsanwalt und mit Durchsuchungs-Profis der HA VIII fuhren wir
dorthin. Frau W. zeigte sich perplex, aber gegen den vorgewiesenen
gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss hatte sie keine Widerstandsmöglichkeit.
Unter den Hausbewohnern suchten wir uns zwei Zeugen (die es zufällig traf, weil
sie gerade zu Hause waren).
Wir
taten das, obwohl laut Strafprozessordnung bei Anwesenheit eines Staatsanwalts
Zeugen verzichtbar waren. In der Gewissheit, fündig zu werden, wollten wir aber
eine doppelte Absicherung dagegen, dass übelwollende Leute (dabei dachten wir
vor allem an die Kirche, die sich evtl. hinter W. zu stellen versuchen würde)
nachträglich behaupten könnten, wir hätten Beweise manipuliert.
Die
Durchsuchung wurde eine unerwartet leichte Übung: W. hatte bei Beginn der
Erstvernehmung sofort gestanden und auf Fragen danach angegeben, was er wo in
der Wohnung versteckt hatte. Wir mussten nur noch »einsammeln«. Anderenfalls –
denke ich zumindest – hätten auch die Profis kaum alles gefunden. An drei
Stellen hatte W. ihm durch den BND übergebene Hilfsmittel für die Spionage
verborgen: im ausgehöhlten Griff eines Bügeleisens (das ihm speziell für diesen
Zweck vom BND ausgehändigt wurde); in zwei Steckdosen, bei denen man zunächst
die Abdeckplatte abschrauben musste, hinter der zusätzliche Löcher in die Wand
gebohrt waren, in denen Papierröllchen steckten; sowie im Buchrücken einer
Bibel, die hinter Glas in einem Bücherschrank gleich in der vorderen Reihe
stand.
In
allen drei Fällen waren dort jeweils mehrere kleine Blätter dünnes Seidenpapier
verborgen, bedruckt mit Anleitungen für Agenten: Umrisszeichnungen
militärischer Technik wie Panzer, Geschütze und Lkw mit jeweiliger Typenbezeichnung
sowie Code-Tabellen zum Ent- und Verschlüsseln von
Funknachrichten. Durch uns wurde die Lage der Verstecke in der Wohnung, deren
Öffnung, das Hervorholen des Inhalts und schließlich die gefundenen Papiere
fotografisch dokumentiert. Durchsuchungs- und
Beschlagnahmeprotokoll wurden durch den Staatsanwalt und die Zeugen
unterzeichnet. Die Funde kamen zur Untersuchungsabteilung. In den folgenden
Vernehmungen W.’s klärte sich schnell, welche
Bewandtnis es mit den für uns zunächst überraschenden Funden hatte: W. war
durch den BND nur in zweiter Linie wegen Interesses am Institut geworben
worden; in erster Linie war er für Militärspionage eingesetzt. Die
Erkennungstafeln (so der Fachausdruck) für militärisches Gerät brauchte er, da
selbst ohne Fachkenntnisse, um berichten zu können, welche Waffen- oder
Fahrzeugtypen er wo und wann gesehen hatte. Es war sein Auftrag, systematisch
Kasernen der Sowjetarmee in der Berliner Umgebung zu beobachten und zu melden,
wann wie viele Arten militärischer Ausrüstungen und Geräte hinein- und
herausgefahren wurden. Die Anleitungen für verschlüsselten Funkverkehr waren
ihm mit der Ankündigung übergeben worden, er werde in nächster Zeit auch ein
Funkgerät erhalten, um im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung Ost-West
per Funk mit dem BND in Verbindung bleiben zu können und seine Beobachtungen
über militärische Bewegungen der Truppen des Feindes zu übermitteln.
Diese
Aussagen des W. – untermauert durch die sichergestellten Sachbeweise – waren in
der Situation unmittelbar nach dem 13. August 1961 natürlich von erheblicher
politischer Brisanz. Auf unserer Seite wurden sie als Belege genommen, dass es
nicht mehr lange gedauert hätte, bis der Westen den »Marsch durchs
Brandenburger Tor« gestartet hätte. Es war für uns ein Beweis, wie notwendig
und dringlich die Grenzsicherung war. (Später erfuhren wir, weshalb diese
Beweise für akute westliche Kriegsvorbereitungen nicht propagandistisch genutzt
wurden: Es gab eine interne Information über ein Agreement mit Bischof Dibelius, nicht publik zu machen, dass einer seiner
Synodalen für die BRD spioniert hatte, wenn der Bischof sich im Gegenzuge bei
Kritik an den DDR-Grenzsicherungsmaßnahmen mäßigte.)
Die
Aussagewilligkeit von W. zeigte sich auch darin, dass er in Übereinstimmung mit
unserer Kenntnis aussagte, bei einem Treffen mit seinem Sohn in Westberlin, um
das ihn dieser gebeten hatte, vom BND angesprochen und geworben worden zu sein.
Der Sohn – das habe ich noch nicht erwähnt – war zwischenzeitlich als
Rückkehrer wieder in Ostberlin. Er arbeitete als Laborant in einem VEB in
Berlin-Adlershof. Nachdem W. seinen Sohn belastet hatte, erwirkte die
Untersuchungsabteilung Haftbefehl gegen diesen. Ähnlich wie den Vater ließen
wir ihn im Werk vom Arbeitsplatz fort rufen und brachten ihn per Pkw zur
Untersuchungsabteilung.
Im
Übrigen kam in den Vernehmungen des W. zu Tage, an welch dünnem Faden unser
Erfolg bei seiner Überlistung gehangen hatte. Er sagte aus, dass ihm der BND
für den Fall, dass ein Kurier zu ihm geschickt werden musste, ein Losungswort
genannt hatte, mit dem der Kurier sich zu erkennen geben würde. Er – W. – sei
aber in der angespannten nervlichen Verfassung nach der Grenzschließung und dem
einerseits erwarteten, andererseits überraschenden Auftauchen eines
»Westberliners« so verwirrt gewesen, dass er daran in dem Moment nicht gedacht
habe, sondern durch Äußeres und Auftreten des Besuchers sowie dessen
Westausweis ohne Zweifel gewesen sei, einen Abgesandten des BND vor sich zu
haben. Da wir das Risiko gewagt hatten und es für uns gut gegangen war, gab es
keine Erörterungen mehr, was gewesen wäre wenn …
Überrascht
waren wir, als W. in einer Vernehmung offenbarte, dass er eine Kollegin aus dem
Institut in die Spionagetätigkeit eingeweiht und einbezogen hatte. Monika S.,
eine Frau Anfang der Dreißig, ledig, technische Kraft im Institut, war seine
Geliebte. Als der BND den W. mit der Beobachtung von Kasernen beauftragte, kam
dem die Idee, Auftragserfüllung und Annehmlichkeit miteinander zu verbinden.
Wenn er nach Feierabend vom Institut zum Spionieren aufbrach, ließ er Monika S.
in den Beiwagen des ihm von der Kirche zur Verfügung gestellten Motorrads
steigen und fuhr mit ihr in die Berliner Umgebung. Der jungen Frau fiel bald
auf, dass sein Interesse am Waldrand nicht allein ihr galt. W. offenbarte sich
ihr, und ab da half sie ihm beim Identifizieren und Zählen von
Selbstfahrlafetten, Panzern, Lkw und anderen Fahrzeugen der Sowjetarmee. So
wurde sie zur Spionin, ohne selbst von einem Geheimdienst angeworben zu sein.
W.
und dessen Sohn wurden – im gesetzlichen Rahmen – zu langjährigen
Zuchthausstrafen verurteilt. Monika S. hat nach meiner Erinnerung – ohne dass
ich eine Zahl nennen kann – eine für Staatsverbrechen moderat zu nennende
Haftstrafe erhalten, aber etliche Jahre waren es auch bei ihr. Alle, die sich
durch fremde Mächte gegen die DDR missbrauchen ließen, waren Täter und Opfer
zugleich. Das Schicksal von Monika S. scheint mir in besonderer Weise tragisch.
Heute denke ich, wenn es das Gesetz zugelassen hätte, wäre es menschlich und
klug gewesen, ihr Haftverschonung zu gewähren.
Von
Hans-Peter Wokittel
Jahrgang
1933; Fachschuljurist; MfS/AfNS 1952-1990; Major a.
D.; zuletzt Leiter der Traditionsstätte der Bezirksverwaltung des MfS Berlin
Im
Mai 1952 tagte das IV. Parlament der Freien Deutschen Jugend in Leipzig. Zu
jener Zeit war ich Schriftsetzerlehrling im 3.
Lehrjahr und Sekretär der FDJ-Organisation meines Ausbildungs-Betriebes. Für
mich sollte vor allem der Beschluss der Delegierten, mit dem die FDJ die
Patenschaft über die Volkspolizei übernahm, entscheidend für mein weiteres
Leben werden. Bereits vor dem Parlament wurden wir Mitglieder und Funktionäre
darauf orientiert, dass der Dienst zum Schutze der Deutschen Demokratischen
Republik für jedes FDJ-Mitglied ein Ehrendienst ist. Zahlreiche Mitglieder des
Jugendverbandes hatten bereits ihre Bereitschaft erklärt, die DDR mit der Waffe
in der Hand zu verteidigen – auch ich. Nach Abschluss der Ausbildung wollte ich
den Dienst in einer Bereitschaft der VP aufnehmen, um nach drei Jahren in
meinen Ausbildungsbetrieb zurückzukehren. Damals konnte ich nicht ahnen, dass
aus den angedachten drei Jahren schließlich 40 Jahre Dienst in den bewaffneten
Organen der DDR werden sollten.
Noch
vor dem IV. Parlament der FDJ erfolgte im Frühjahr 1952 meine Einberufung zur
Bereitschaftspolizei, die im Sommer 1952 in die »Kasernierte Volkspolizei«
(KVP) umgewandelt wurde. Wir Dresdener Mitglieder und Funktionäre der FDJ
hatten uns an einem Sammelpunkt einzufinden und wurden von dort per Lkw zur
Kaserne der Bereitschaftspolizei in Zittau gebracht. Hier erfolgte die
Vergatterung, Einkleidung und schließlich die Einweisung in die »Stuben«.
Obwohl ich ab diesem Tag als Angehöriger der Bereitschaftspolizei galt,
brauchte ich dort nicht einzurücken. Nach der Vergatterung kehrte ich
vereinbarungsgemäß in meinen Ausbildungsbetrieb zurück, um mich der
Facharbeiterprüfung zu stellen. Eines Tages wurde ich im Betrieb von einem
Besucher angesprochen, der sich als Mitarbeiter des MfS vorstellte. Er hatte
die Aufgabe, mich für den Dienst in der Staatsicherheit zu gewinnen.
Selbstsicher erklärte ich, dass dies nicht möglich sei, weil ich bereits bei
der Bereitschaftspolizei in Zittau vergattert wurde. Außerdem berief ich mich
auf meine Verpflichtung, dort drei Jahre Dienst zu leisten und danach – wie
vereinbart – in meinen Betrieb zurückzukehren, um eine Ausbildung zum
Maschinensetzer aufzunehmen.
Der
Dienst im MfS sollte auf Dauer sein, bedeutete also einen Berufswechsel. Am
Ende siegte die Überzeugungskraft des »Werbers«, das belegen meine fast vierzig
Dienstjahre im Ministerium für Staatssicherheit. Ich war 19, als ich
Angehöriger der Staatssicherheit wurde. Am 21. Juli 1952 erfolgte meine
Einstellung in die damalige, noch kurze Zeit bestehende »Landesbehörde Sachsen
des MfS« mit dem Dienstgrad Hauptwachtmeister der DVP.
In
der Kaderabteilung der Landesbehörde in Dresden unterschrieb ich meine
Dienstverpflichtung, die ich von einem vorgegebenen Muster handschriftlich
abgeschrieben hatte. Nun hatte ich »Ja« gesagt, ohne zu ahnen, was damit auf
mich zukam. Aus Überzeugung und freiwillig hatte ich mich verpflichtet, meine
Kräfte und Fähigkeiten einzusetzen, um die Pflichten und Aufgaben eines
Angehörigen des MfS zu erfüllen, den Dienst ehrlich und gewissenhaft an jedem
Einsatzort zu leisten. Als selbstverständlich empfand ich die Verpflichtung,
mit aller Entschlossenheit den Kampf gegen die Feinde der DDR und der
sozialistischen Staatengemeinschaft zu leisten, die militärische Disziplin,
eingeschlossen die staatlichen und dienstlichen Geheimnisse zu wahren und
ständig einsatzbereit zu sein. Ebenso nach den Geboten der sozialistischen
Moral und Ethik zu handeln, innerhalb und außerhalb des Dienstes Vorbild zu
sein und so die Ehre und Würde des MfS zu wahren.
Mein
Einsatz erfolgte vorerst in der Abt. VIII, Referat »Operative Beobachtung« der Ende Juli 1952 (nach der Aufhebung der Länderstruktur
der DDR und der Schaffung von Bezirken und Kreisen) neu gebildeten
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Dresden. Noch konnte ich nicht ahnen,
dass meine Einsatzorte bald die Kreisdienststelle Zittau und schließlich Berlin
sein sollten. Im November 1954 erfolgte meine Versetzung zur Verwaltung für
Staatssicherheit Groß-Berlin (später BV Berlin) und hier zur Kreisdienststelle
Prenzlauer Berg. Dort absolvierte ich meine militärische Dienstlaufbahn vom
Oberfeldwebel bis zum Major, vom Hilfssachbearbeiter bis zum Referatsleiter.
1980 wurde ich in die Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der BV versetzt und
1985 mit der Leitung der Traditionsstätte der BV beauftragt. Diese Tätigkeit
endete 1990. Zwischenzeitlich hatte ich im September 1986 ein Fernstudium an
der Juristischen Fachschule des MfS in Potsdam als Fachschuljurist erfolgreich
abgeschlossen.
In
der KD Prenzlauer Berg war ich bis 1980 mit unterschiedlichen Aufgaben tätig,
unter anderem in der für die Sicherung der Volkswirtschaft zuständigen Linie
III (später XVIII). Als Objektsachbearbeiter war ich verantwortlich für das
Damenoberbekleidungswerk VEB Treffmodelle Berlin, später, zum Zeitpunkt der
Sicherung der Staatsgrenzen der DDR im August 1961, für den VEB Groß-Berliner
Vieh- und Schlachthöfe. Der von den Berlinern allgemein als Zentralviehhof
genannte Betrieb hatte einen »eigenen« S-Bahnhof mit gleichen Namen (heute
S-Bahnhof Storkower Straße).
Vom
Bahnhof ging eine unendlich lange Fußgängerbrücke über das Betriebsgelände zur Eldenaer Straße (Friedrichshain), um unbefugtes Betreten
des Betriebsgeländes auszuschließen. Bei der Erweiterung des Schlachthofes 1936
war sie errichtet worden, um etwa die Ausbreitung von Tierseuchen zu
verhindern. Bis 1945 herrschten dort die Großhändler vor. Im Februar 1946
übernahm die Stadt die Einrichtung, im April 1952 wurde sie ein volkseigener
Betrieb. Der VEB kaufte in eigener Verantwortung das Vieh und sorgte für den
Absatz der Fleischerzeugnisse, die Abnahme von Lebendvieh und den Transport von
den Auftriebsstellen zum Betrieb. Mit 1.800 Beschäftigten war es der größte
Schlachthof der DDR zu jener Zeit. Jährlich wurden etwa eine Million Tiere
geschlachtet und verarbeitet. Im September 1954 wurde in der Lichtenberger
Herzbergstraße der Sperrvieh-Schlachthof
eröffnet und mit der Forschungsanstalt für Tierseuchen auf der Insel Riems ein
Vertrag über die Schlachtung von infizierten Rindern zur Gewinnung von Erregern
der Maul- und Klauenseuche geschlossen.
Nach
1990, kurz vor dem 110. Geburtstag im Mai 1991, wurde der Schlachtbetrieb
eingestellt, die Belegschaft entlassen, die Gebäude und Einrichtungen, bis auf
einige wenige denkmalgeschützte wie die ehemalige »Rinderauktionshalle«
abgerissen. Das ehemalige Betriebsgelände wurde zum »Entwicklungsgebiet Alter
Schlachthof« erklärt. Wenn ich heute an ehemaligen Standorten »meiner«
Betriebe, so am »VEB Groß-Berliner Vieh- und Schlachthöfe«, dem heutigen
Wohngebiet »Am alten Schlachthof«, vorbeikomme, gehen meine Erinnerungen in
jene Zeit zurück, in der meine politisch-operative Arbeit vor allem darin
bestand, dafür zu sorgen, dass die Produktion des Unternehmens zur Versorgung
der Bevölkerung und zur Erfüllung der Exportverpflichtung vor beabsichtigten,
gegnerisch motivierten Schäden und anderen Angriffen geschützt wurde. In diesem
Betrieb war ich als zuständiger Mitarbeiter des MfS bekannt, hatte im
Verwaltungsgebäude mein Dienstzimmer, war mit einem Betriebsausweis
ausgestattet und wurde somit als Betriebsangehöriger geführt.
Auch
im VEB Groß-Berliner Vieh- und Schlachthöfe war die Abwehr und Aufklärung von
Angriffen, die sich gegen die Volkswirtschaft der DDR richteten, meine
wichtigste Aufgabe. Das betraf sowohl solche Wirtschaftsverbrechen, wie
Viehvergiftungen und andere vorsätzliche Verletzungen von Schlachtvieh während
des Transportes oder auf dem Gelände des Viehhofes, als auch Handlungen und
Umstände, durch die Menschenleben gefährdet wurden, die wirtschaftliche Schäden
oder straftatbegünstigende Auswirkungen zur Folge haben konnten.
In
meine Zuständigkeit gehörte die Gewährleistung des Geheimnisschutzes, die
Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen, die Verhinderung von Straftaten im
Zusammenhang mit dem ungesetzlichen Verlassens der DDR. Zu diesem vorbeugenden
Wirken gehörte die Zusammenarbeit mit IM, das Zusammenwirken mit der Deutschen
Volkspolizei/Kriminalpolizei und staatlichen Kontrollorganen wie der ABI. Zu
meinen Aufgaben gehörte es, die Verbindung zur Betriebsleitung, zur
SED-Betriebsparteiorganisation und zur -gewerkschaftsleitung
(BGL) sowie zu anderen Massenorganisationen im Betrieb zu gewährleisten. An den
Betriebsleiter und den Sekretär der SED-Parteiorganisation sollten
Informationen aus den Erkenntnissen der operativen Arbeit übermittelt werden,
um deren Wirken für Ordnung und Sicherheit zu unterstützen. Auf diese Weise
galt es gemeinsam Straftaten, begünstigende Umstände und Bedingungen
aufzudecken und zu beseitigen. Dem diente auch meine enge Verbindung zur
Belegschaft des Betriebes. Ich legte großen Wert auf regelmäßige persönliche
Aufenthalte in den Schlachthäusern, im Verladebereich, in Stallungen. Alles mit
dem Ziel, die Beschäftigten in die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit
einzubeziehen und so auch das Vertrauensverhältnis zum MfS zu gewährleisten.
Dazu gehörte auch, dass Hinweise von Werktätigen ernsthaft geprüft und
ausgewertet wurden.
Zu
meinen Aufgaben gehörte nicht zuletzt die Gewinnung von Inoffiziellen
Mitarbeitern, die geeignet waren, an der Verhinderung und Aufklärung schwerer
Straftaten sowie der Ermittlung von Personen mitzuarbeiten, bei denen der
Verdacht bestand, an staatsfeindlichen oder anderen kriminellen Handlungen
mitgewirkt zu haben. Nicht zuletzt versetzte uns die Zusammenarbeit mit IM in
die Lage, begünstigende Bedingungen für Verletzungen gesetzlicher Normen und
Vorschriften, für Straftaten, Schäden und Gefahren zu erkennen und möglichst
auszuräumen. Mit aller Entschiedenheit wende ich mich deshalb gegen die seit
dem Anschluss der DDR an die BRD praktizierte entwürdigende Behandlung von
Menschen, die sich aus politischer Überzeugung und gesellschaftlicher
Verantwortung bereit erklärten, konspirativ mit dem MfS zusammenzuarbeiten.
Ihnen gebührt für ihren Einsatz meine Hochachtung und solidarische
Verbundenheit. Meine Zusammenarbeit mit IM war von beiden Seiten immer von der
Absicht bestimmt, unsere Betriebe vor Anschlägen äußerer und innerer Feinde
zuverlässig zu schützen. In der Öffentlichkeit wurde die Zusammenarbeit des MfS
mit IM keinesfalls verschwiegen, wenn auch der Begriff »IM« nicht verwandt
wurde. Sie hießen wohl zurecht »Patrioten an der
unsichtbaren Front«.
Die
Inoffiziellen Mitarbeiter, die ich geführt habe, fühlten sich auch so.
Freiwillig und aus Überzeugung hatten sie sich für die Zusammenarbeit
entschieden, weil sie sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR,
der daraus resultierenden Aufgabenstellung für das MfS identifizierten und in
der Zusammenarbeit einen Beitrag zur Mitgestaltung der gesellschaftlichen
Entwicklung sahen. Sie waren bereit, gemeinsam mit dem MfS ihren Betrieb zu
schützen, der, im wahrsten Sinne des Wortes, in mühevoller Arbeit aus den
Trümmern des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde (am 26. Februar und 3. März
1945 war der Betrieb von US-Bombern zu 80 Prozent zerstört worden). Die IM empfanden
sich als Mitarbeiter, nicht als »Spitzel«, und wurden auch von mir so gesehen,
eingesetzt und behandelt.
Für
die Gewinnung von IM und die konspirative Zusammenarbeit mit ihnen gab es klare
Vorgaben. Die Werbung war nur zulässig, wenn es für die Erfüllung der Aufgaben
notwendig erschien und wenn der Kandidat über die Voraussetzungen zur Erfüllung
der Aufgaben verfügte. Freiwilligkeit war erforderlich, Zwang und Widerwillen
konnten keine Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sein. Für die Motivation
der IM war das Vertrauensverhältnis zwischen hauptamtlichem und inoffiziellem
Mitarbeiter wesentlich, nicht zuletzt auch das Gespür für Probleme, Fragen und
Sorgen des IM.
Das
höhere fachspezifisches Wissen oder die durch Alter und berufliche Entwicklung
größere Lebenserfahrung eines IM waren für mich als jungem Führungsoffizier
kein Hindernis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Im Gegenteil: Dank der
Zusammenarbeit mit den IM konnte ich mir rasch notwendige Sach- und
Fachkenntnisse zum Schlachtbetrieb aneignen, was mich als gelernten
Schriftsetzer in die Lage versetzte, die Einhaltung bzw. Verletzung gesetzlicher Normen und Betriebsvorschriften
oder Straftaten begünstigende Umstände zu erkennen. Ehrlichkeit und
Zuverlässigkeit eines Kandidaten galten als Voraussetzung für die Werbung als
IM. Die Zusammenarbeit schloss für den IM selbstverständlichen Vertrauensschutz
ein. Sollten sie erfolgreich arbeiten, mussten sie unerkannt bleiben und vor Dekonspiration in der Öffentlichkeit wie auch innerhalb des
MfS geschützt werden.
Die
Aufgabenstellungen für Objektsachbearbeiter der Linie III waren mir bewusst.
Ich war ehrgeizig genug, diese auch durchzusetzen. Umso betroffener war ich,
dass es mir nicht gelungen war, eine Anfang August 1961 erfolgte schwere
Brandstiftung auf dem Betriebsgelände des VEB Groß-Berliner Vieh- und
Schlachthöfe zu verhindern. Mir blieb nur noch die intensive Mitwirkung an der
Aufklärung dieser schweren Straftat. Es galt, die Ursachen und Hintergründe des
Brandes aufzuklären (vor allem war es eine Havarie, war es eine mit krimineller
oder gar staatsfeindlicher Motivation bewusst begangene Wirtschaftsschädigung
oder gar Diversion?), und es galt, den möglichen Brandstifter aufzuspüren und
diesen der gerechten Bestrafung zuzuführen.
Was
war geschehen? Am 7. August, wenige Tage vor den Maßnahmen zur Sicherung der
Staatsgrenze der DDR in Berlin am 13. August 1961, wurde ich wegen eines
Feuerwehreinsatzes in den Betrieb gerufen. Weithin sichtbar stand eine mächtige
schwarze Qualmwolke über dem Betriebsgelände. Eine
Lagerhalle brannte in voller Ausdehnung.
Die
Feuerwehr musste ihren Einsatz darauf konzentrieren, ein Übergreifen des
Brandes auf die angrenzenden Gebäude, in denen sich die Trafo-Station und das
Kesselhaus befanden zu verhindern. Die Lagerhalle brannte bis auf die
Grundmauern nieder, die eingelagerten Materialien wurden vernichtet. Die
Aufklärung des Brandes erfolgte durch konzentrierten Einsatz von operativen
Kräften des MfS, bestehend aus Mitarbeitern der KD, der Arbeitsgruppe Brände
und Störungen der Abteilung III und der Untersuchungsabteilung IX der BV, im
engen Zusammenwirken mit Spezialisten der Kriminalpolizei und der
Branduntersuchungskommission des Präsidiums der Deutschen Volkspolizei Berlin (PdVP). Den ermittelnden Experten war schnell klar,
technische Mängel waren als Brandursache auszuschließen.
Die
Spurenlage wies eindeutig auf vorsätzliche Brandstiftung hin. Nun galt es, den
Brandstifter aufzuspüren. Es war davon auszugehen, für Trafo-Station und
Kesselhaus hatte eine akute Gefahr bestanden. Beim Übergreifen des Brandes war
der Totalausfall des Schlachtbetriebes nicht auszuschließen. Bedeutende
wirtschaftliche Auswirkungen wären die Folge gewesen. Dem Betrieb oblag die
Versorgung der Bevölkerung Berlins mit Fleisch, Fleischwaren und Fett. Bei
Ausfall des Schlachtbetriebes wäre die Versorgung mit Frischfleisch für lange
Zeit nicht mehr möglich gewesen. Zu berücksichtigen war auch, dass vom
Kesselhaus des Schlachthofes sowohl der VEB Kühlbetriebe Berlin als auch die
Werner-Seelenbinder-Halle mit Dampf versorgt wurden, also ebenfalls betroffen
gewesen wären.
Jetzt
musste sich erweisen, ob meine IM bereit und in der Lage waren, an der
Aufklärung der folgenschweren Straftat und der Ermittlung des oder der
Straftäter mitzuarbeiten. Als Tatverdächtiger geriet schließlich ein im Betrieb
tätiger Maschinenschlosser ins Visier der ermittelnden Experten. Seine
Observation durch Mitarbeiter der zuständigen Abteilung der Bezirksverwaltung
wurde für erforderlich gehalten und eingeleitet. Die Festnahme des Verdächtigen
erfolgte am 9. August 1961. Nur Stunden nach der Tatausführung. Die Beobachter
hatten festgestellt, dass er nach Verlassen des Betriebes mit der S-Bahn in
Richtung Gesundbrunnen fuhr und den Zug auch auf dem letzten Bahnhof vor der
Grenze zu Westberlin, Bahnhof »Schönhauser Allee«, nicht verließ. Bei seiner
Festnahme trug er umfangreiche Personaldokumente bei sich. Der ermittelte Täter
und seine Ehefrau hatten sich entschlossen, die DDR zu verlassen. Die
Vernehmung des Beschuldigten ergab, er hatte vorsätzlich den Brand gelegt, um
der DDR Schaden zuzufügen. Damit wollte er in Westberlin seine Anerkennung als
politischer Flüchtling erlangen.
In
seiner Vernehmung bekannte er, dass sich seine ablehnende Haltung zur DDR durch
regelmäßiges Lesen von Westberliner Presseorganen und Propagandamaterial, wie
der von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)
verbreiteten Hetzschrift Tarantel,
durch Sendungen der Westberliner Rundfunkstationen Rias und Sender Freies Berlin,
und auch Kinobesuchen in Westberlin entwickelte. Der geständige Täter wurde
aufgrund der eindeutigen Beweise wegen Diversion im schweren Fall in Verbindung
mit terroristischem Gewaltakt gemäß den geltenden Strafrechtsbestimmungen der
DDR zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Rahmen der öffentlichen Auswertung
des Prozesses wurden die gegen die DDR gerichteten Aktivitäten der Westberliner
Publikationsorgane entlarvt, zugleich auch die Notwendigkeit der wenige Tage
nach dieser Straftat erfolgenden Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenzen der
DDR anschaulich begründet. Zumal – wie ich mich erinnere – am 11. August auch
in der Berliner Humboldt-Universität Brandsätze gezündet worden waren.
Parallel
zu den Erfordernissen der Aufklärung der geschilderten Brandstiftung im VEB
Groß-Berliner Vieh- und Schlachthöfe ergab sich in Verbindung mit meinem
konzentrierten Einsatz in den besagten Tagen zwischen dem 7. und 9. August 1961
auch eine persönliche Situation, die wohl kaum besser Zeugnis ablegte, wie ich
als Objektsachbearbeiter des MfS als zur Belegschaft des Betriebes gehörig
betrachtet wurde. Ein Sprichwort sagt: »Ein Unglück kommt selten allein.« Und so war es. Als ich zum Brandort gerufen wurde, war
ich familiär in arger Bedrängnis. Meine Ehefrau war akut erkrankt, wir mussten
den ärztlichen Notdienst rufen. Der behandelnde Arzt konnte eine mögliche
stationäre Weiterbehandlung nicht ausschließen. Seine Empfehlung, ich sollte
mich beurlauben zu lassen, damit die notwendige Betreuung meine Ehefrau sowie
unserer beiden Kinder (4 Jahre bzw. 3 Monate alt) gesichert sei. Was tun?
Unsere Eltern wohnten ca. 300 km entfernt, verwandtschaftliche Bindungen in
Berlin gab es nicht. Am Ereignisort wurde ich aber dringend gebraucht. Jetzt
bewährte sich meine Verbundenheit mit dem Betrieb. Eine Genossin der
SED-Betriebsparteiorganisation (BPO) bot ihre Unterstützung an und betreute mit
mütterlicher Fürsorge meine Frau und unsere Kinder.
Nach
der Aufklärung des Brandes blieb mir nur kurze Zeit, um mich der Familie zu
widmen. Vier Tage später, im Morgengrauen des 13. August 1961, einem Sonntag,
nahmen die bewaffneten Organe der DDR gemeinsam mit den Kampfgruppen der
Arbeiterklasse aus den Berliner Großbetrieben und Einrichtungen die gesamte
bisher offene Grenze gegenüber Westberlin unter Kontrolle. Auch für das
Ministerium für Staatssicherheit war »volle Einsatzbereitschaft«, also
»kasernierte« Stationierung im Dienstobjekt rund um die Uhr befohlen worden.
Mehr als 80 Straßenübergänge nach Westberlin wurden abgeriegelt, fünf davon
lagen im Verantwortungsbereich der KD Prenzlauer Berg des MfS.
Aber
darüber gibt es ja schon umfangreiche seriöse, nicht vom antikommunistischen
Zeitgeist beherrschte Publikationen.
Im Dienst für
die Energiesicherung der Republik
Von
Uwe Fischer
Jahrgang
1944; Ingenieur; MfS/AfNS von 1970-1990; Major a. D.;
zuletzt Referatsleiter in der KD Berlin-Pankow
Ich
entstamme einer Arbeiterfamilie aus dem Berliner Osten. Die DDR und meine
Eltern ermöglichten mir eine gute Schulbildung. Nach Grundschule und Abitur erlernte
ich im VEB Bergmann-Borsig in Berlin den Beruf eines
Maschinenbauers. Anschließend nahm ich ein Fachschulstudium auf, das ich mit
dem Abschluss als Ingenieur beendete. Danach leistete ich meinen 18-monatigen
Grundwehrdienst in der NVA ab. Erst 1964, in meinem 20. Lebensjahr, erfuhr ich
von der Existenz eines Ministeriums für Staatssicherheit, meine Vorstellungen
tendierten bis dahin in Richtung Null.
Im
Mai 1970, ich war 25 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Söhnen, wurde
ich mit dem Dienstgrad Unterleutnant als operativer Mitarbeiter des MfS
eingestellt und begann in der Kreisdienststelle Berlin-Pankow auf der Linie
XVIII (Sicherung Volkswirtschaft) im dortigen Referat. Die für die operative
Arbeit notwendigen Kenntnisse erarbeitete ich mir, wie viele Mitarbeiter des
MfS, zunächst im Selbststudium. Dazu stand mir von der Juristischen Hochschule
des MfS ausgearbeitetes Studienmaterial zur Verfügung.
Die
praktischen Fähigkeiten entwickelten sich im Prozess der täglichen Arbeit. Es
ging nicht nur um die rechtzeitige Aufdeckung und Verhinderung von Sabotage,
Spionage oder anderen schweren Straftaten gegen die Wirtschaft der DDR, im
konkreten gegen zu sichernde Betriebe und Einrichtungen.
Unsere
Aufgabe war, so wurden wir geschult, vor allem vorbeugend wirksam zu werden,
unsere Volkswirtschaft und die Werktätigen vor feindlichen Angriffen zu
schützen, Straftaten zu verhindern sowie mitzuwirken an hoher staatlicher und
öffentlicher Sicherheit und Ordnung im jeweiligen Verantwortungsbereich. Mein erstes
Objekt als politisch-operativer Mitarbeiter war der VEB Kernkraftwerksbau
(KKWB). Das war ein bedeutender Betrieb für die Energieversorgung der DDR,
demzufolge hatte ich eine Aufgabe erhalten, die mich richtig herausforderte.
Von
den etwa 1.100 Mitarbeitern des KKWB waren rund 900 auf Geheime (GVS) und
Vertrauliche Verschlusssache (VVS) verpflichtet. Etwa 20 Betriebsangehörige
waren Reisekader ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, NSW genannt, und
700 Reisekader ins SW, dem Sozialistischen Wirtschaftsgebiet. Gemessen an den
Sicherheitsanforderungen und den bestehenden internationalen Verbindungen des
Betriebes, entsprachen meine Kenntnisse von diesem Personenkreis zu Beginn
meiner Tätigkeit nicht den notwendigen Sicherheitsanforderungen. Fragen ergaben
sich zudem: Ist es westlichen Geheimdiensten oder Konzernen gelungen, in diesem
Personenkreis Informanten anzuheuern? Gab es Erkenntnisse zum Umfeld dieser
Personen, die eine Kontaktaufnahme gegnerischer Dienste begünstigten? Meine
vordringlichste Aufgabe war es also, diese Fragen und Probleme zu klären. Das
erforderte viel operative Kleinarbeit, verbunden mit häufigen Besuchen und
Kontakten vor Ort.
Bei
einem Aufenthalt im Betrieb fiel mir auf, dass die Eingangskontrolle,
insbesondere die beim Bereich EDV, sehr lasch war. Was tun? Sollte ich mit dem
Direktor, Prof. Rambusch, sprechen und ihm den
Vorschlag unterbreiten, in einer Versammlung eine straffere Betriebsordnung und
-sicherheit einzufordern? Mir war bekannt, dass der Professor ohnehin kaum Zeit
hatte, er bereitete in jener Zeit mit seinem Betrieb den Bau des
Kernkraftwerkes Nord in Lubmin vor. Also selbst handeln.
Der
Eingang zum EDV-Bereich im Betrieb war z. B. mit einem elektronischen
Zahlencodeschloss gesichert, die Eingabe war jedoch leicht einsehbar. Ich hielt
mich keine fünf Minuten im Eingangsbereich auf und hatte schon den Zahlencode
ausgespäht. So verschaffte ich mir Zutritt zur EDV. Erst nach 15 Minuten und
durch mein bewusst auffälliges Verhalten wurde ich bemerkt und zum zuständigen
Abteilungsleiter gebracht. Dort wies ich mich als Mitarbeiter des MfS aus. Die
erzielte Wirkung war sehr erfreulich. Schon mit Beginn der Nachtschicht wurden
die notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung von Ordnung und Sicherheit in Kraft
gesetzt und auch wirksam.
Im
November des Einstellungsjahres konnte ich dann meine erste, den Kriterien
entsprechende Werbung eines inoffiziellen Mitarbeiters realisieren. Er war
Mitglied der CDU.
Im
RGW gab es einen »Komplex-04«, an dem auch der VEB KKWB beteiligt war. Die DDR
hatte den Auftrag, für die UdSSR eine spezielle technische Prototypanlage zu
errichten. Dazu wurden sogenannte Manipulatoren benötigt, die aber aus
Frankreich importiert werden mussten. Deren Anlieferung erfolgte zunächst zum
Hauptbahnhof Dresden. Der französische Geheimdienst, der BND und anzunehmen
auch andere westliche Geheimdienste interessierten sich dafür, wohin diese
Manipulatoren geliefert wurden und welchen Verwendungszweck sie hatten. Tarnung
war geraten.
Etwa
vier Wochen nach Anlieferung der Manipulatoren waren sie ohne Ankündigung bei
»Nacht und Nebel« vom Bahnhof mit unbekanntem Ziel verschwunden. Die Anlage, in
der für den »Komplex-04« bedeutsame Entwicklungs- und Produktionsaufgaben
erfüllt wurden, befand sich in Dresden in einem Industriegebiet, das damals
noch von Kriegsschäden gezeichnet war. Im Inneren einer der dort befindlichen
Halle, mit zerschlagenen Fenstern und defektem Mauerwerk, befand sich eine
zweite Halle aus Stahl. In ihr arbeiteten Werktätige in weißer Kleidung, teilweise
trugen sie Schutzanzüge. Die beiden Manipulatoren erreichten wohlbehalten
diesen Bestimmungsort und konnten erprobt werden. Ich fühlte Genugtuung, einen
Beitrag zur Sicherung dieses Vorhabens geleistet zu haben.
Während
meiner 17-jährigen operativen Arbeit auf der Linie XVIII war ich für die
Sicherung von Betrieben und Kombinaten verantwortlich, die für die
Energiewirtschaft, für den Industrieanlagenbau und Maschinenbau der DDR
zentrale Bedeutung hatten. Wichtigste Grundlage hierfür war – wie in anderen
Bereichen und Diensteinheiten des MfS – die Zusammenarbeit mit IM. Diese musste
entsprechend den speziellen Sicherheitsbedürfnissen und der konkreten
Sicherheitslage aufgebaut, gestaltet und weiter entwickelt werden. Die
Gewinnung von Menschen für die inoffizielle Zusammenarbeit erfolgte planmäßig,
abhängig von der Bedeutung des Produktionsbereiches für die Volkswirtschaft der
DDR und der möglichen Gefährdung durch Spionage und Störtätigkeit oder seiner
Anfälligkeit für Störungen und Havarien. Werbungen auf Druck (wie heute
wahrheitswidrig behauptet) waren nicht gestattet und bei den zu lösenden
Aufgaben auch völlig unangebracht.
Meine
Sicht, worauf die Erfolge bei der Gewinnung von Betriebsangehörigen für die
inoffizielle Zusammenarbeit zurückzuführen waren, lassen sich wie folgt
zusammenfassen. Kompliziert war die Zeit von der Kontaktaufnahme bis zu den
ersten Zusammenkünften, in denen das Anliegen der konspirativen Zusammenarbeit
genauer erläutert werden konnte. Zunächst wurden von den Betreffenden häufig
vorhandene Vorbehalte oder Skepsis vorgebracht. Die angesprochenen
Betriebsangehörigen erkannten aber im Ergebnis unserer vertraulichen Gespräche
zumeist rasch, dass es in der konspirativen Zusammenarbeit um Sachverhalte und
Herausforderungen in ihrer eigenen täglichen Arbeit ging, deren Bewältigung
auch in ihrem Interesse lag. Ihre Kenntnisse wurden gebraucht, um
herauszufinden, ob die bei der Lösung technischer und ökonomischer Aufgaben
auftretenden Probleme, Zeitverzögerungen bis hin zu Havarien, z. B. durch
menschliches Versagen oder vorsätzliches schädigendes Handeln verursacht
werden. Die IM begriffen unsere Zielstellung und es entwickelte sich so die
Bereitschaft, ihren Anteil zum Schutz ihrer eigenen Arbeit und insgesamt des
Volkseigentums zu leisten. Sie berichteten von sich aus über technische
Probleme, Gefahrenherde für Mensch und Technik, und auch über damit im
Zusammenhang stehende Personen, deren Haltungen und Handlungen.
Für
die Wirksamkeit der inoffiziellen Arbeit war das Verhältnis zwischen mir und
dem IM entscheidend. Vertrauen, Achtung der Persönlichkeit, Rücksichtnahme auf
die persönlichen Belange, gehörten zu jenen Verhaltensweisen, denen ich mich
immer verpflichtet fühlte, die es zu entwickeln und zu wahren galt. Selbst bei
bestehenden Meinungsunterschieden zwischen Mitarbeiter und IM-Kandidat war eine
mögliche Zusammenarbeit auf der Basis gemeinsamer humanistischer Werte möglich,
wie das bei meinem ersten IM, einen Christdemokraten, der Fall war.
Mit
zunehmender Erfahrung im Umgang mit den Werktätigen, mit Mitarbeitern der
Kaderabteilungen, mit Leitern der VS-Hauptstellen, mit Abteilungsleitern,
Direktoren und Generaldirektoren wuchs auch meine Fähigkeit zur besseren
»operativen Durchdringung des Sicherungsbereiches« vor allem mittels qualifizierter
inoffizieller und offizieller Informationsgewinnung.
Die
Entwicklung brachte es mit sich, dass zu meinem Verantwortungsbereich später
auch der Betrieb gehörte, der mich einst zum Studium delegiert hatte. Viele
Kollegen kannten mich noch aus früherer Tätigkeit im Betrieb und in kürzester
Zeit war vielen Kollegen klar, dass ich nun Mitarbeiter der »Staatssicherheit«
war. Das machte meine Arbeit einerseits einfacher, andererseits war das den
spezifischen Sicherheitsaufgaben nicht gerade dienlich, zumal ich auch in
unmittelbarer Nähe des Betriebes wohnte. »Bergmann-Borsig«,
wie der Betrieb im Volksmund genannt wurde, lag im Territorium der Staatsgrenze
zu Westberlin. Die Lage des Betriebes machte eine enge Zusammenarbeit mit dem
Referat »Sicherung der Staatsgrenze« erforderlich.
Mit
den Jahren wuchsen auch die allgemeinen Anforderungen an alle operativen
Mitarbeiter. Dazu gehörte, daran mitzuwirken, dass die wachsende Tendenz zum
ungesetzlichen Verlassen der DDR zurückgedrängt wurde. Viele Mitarbeiter
vermissten hier insbesondere aktives politisches Handeln der Führung, auch ich.
Uns war damals bekannt, dass in Bulgarien Bürger, die ihr Land verlassen
wollten, je nach ihrem Ausbildungsstand, zwischen 25.000 und 50.000 Mark an den
Staat zurückzahlen mussten. Damit wurde ein illegales Verlassen weitgehend
zurückgedrängt. Solche oder ähnliche Maßnahmen wurden eigentlich von der
SED-Führung und der Regierung der DDR auch erwartet, um dieses Problem zu
lösen. Heute wissen wir, dass die Rückzahlung von Ausbildungskosten beim
Auswandern aus den USA zur Normalität gehört.
In
meiner Arbeit war ich auch damit konfrontiert, dass die Anforderungen an Umfang
und Inhalt der allgemeinen Informationstätigkeit für die SED-Führungsebenen
bzw. staatlichen Leitungen, wurden stetig erhöht wurden. Das gipfelte dann in
solchen Maßnahmen, wie der Berichterstattung zur Winterbereitschaft, um nur ein
Beispiel zu nennen. Um einen repräsentativen Querschnitt zu erfassen, wäre
dafür ein großes IM-Netz erforderlich gewesen. Ein Mitarbeiter hat das nicht
bewältigen können, unsere »Überstunden« sprachen Bände. Es gab damals auch
unter den Mitarbeitern der Linie XVIII in nicht wenigen Fällen Unzufriedenheit,
Unverständnis über die allgemeinen öffentlichen Berichterstattungen zur Lage im
Verantwortungsbereich.
Eines
Tages erhielt ich von einem wachsamen Bürger einen Hinweis auf einen illegalen
Handel mit begehrten Dingen des täglichen Bedarfs. Nach längerer Beobachtung,
Aufklärung und Bearbeitung kristallisierte sich heraus, dass durch Schlamperei
im gesamten Organisationsablauf im Bauhof des VEB Bergmann-Borsig/Görlitzer
Maschinenbau dem Diebstahl von Volkseigentum Tür und Tor geöffnet war. In enger
Zusammenarbeit mit dem Betriebsdirektor, dem Leiter der Sicherheitsinspektion,
der Arbeiter- und Bauern-Inspektion und anderen gesellschaftlichen Kräften
wurden die vorhandenen Mängel schonungslos aufgedeckt und beseitigt.
Ein
oder zwei Jahre nach meiner Beförderung zum stellvertretenden Referatsleiter
hatte ich mich wieder auf einen Wechsel des Verantwortungsbereiches
einzustellen. Im Territorium der Kreisdienststelle des MfS in Pankow errichtete
der Generaldirektor des VEB Kombinat Zentraler Industrieanlagenbau der
Metallurgie (KZIM) seine Niederlassung einschließlich seines gesamten Arbeitsstabs.
Ein zur Unterstützung der KD bei der Sicherung der örtlichen Industrie im
besagten Stadtbezirk neu eingestellter junger Mitarbeiter bat mich nach einigen
Monaten um Hilfe. Er bekam seit einigen Wochen von einer Kontaktperson aus
seinem Verantwortungsbereich Hinweise auf persönliche Bereicherung einiger
Betriebsangehöriger. Mit dieser Sache befasste ich mich genauer.
Nach
mehrfacher Rücksprache mit der Kontaktperson, anderen Betriebsangehörigen und
konspirativen Maßnahmen ergaben sich Hinweise auf Verletzung von
Straftatbeständen, die eine weitere Bearbeitung in einer OPK (Operativen
Personenkontrolle) zwingend erforderlich machten. Die sich im Ergebnis der
Bearbeitung offenbarenden betrieblichen Missstände waren eklatant. Es standen
drei Personen im Mittelpunkt, von denen einer mit erheblicher krimineller
Energie herausragte. Seine Vorgehensweise war nur mit konspirativen Mitteln und
Methoden nachzuweisen. Er nutzte nicht nur die vorhandenen Missstände im
Betrieb, sondern schuf sich durch Korrumpierung von Kollegen personelle
Stützpunkte, die teilweise, ohne es zu ahnen, von ihm missbraucht wurden.
Darüber hinaus hatte er aktive Mitwisser und Mittäter. Mit konspirativen
Ermittlungen konnten wir personelle und sachliche Zusammenhänge seiner
kriminellen Vorgehensweise aufdecken. Er nutzte die im Betrieb herrschende
nachlässige Abrechnungsweise von Wirtschaftsvorhaben, um sich mit dringend
benötigten Ersatzteilen für Heizungs- und Elektroanlagen auszustatten. Dann
suchte er sich über seine personellen Stützpunkte Wirtschaftseinrichtungen aus,
die dringenden Reparaturbedarf hatten. Diesen bot er an, die entsprechende
Reparatur oder den Umbau in Feierabendarbeit vorzunehmen. Die Reparaturen
umfassten ein Budget zwischen 10.000 und 30.000 Mark und wurden mit seinen
»Kumpanen« in der regulären Arbeitszeit durchgeführt. So »erarbeitete« er sich
einen Pkw »Trabant«, einen »Wartburg«, einen »Shiguli«,
ein Wochenendgrundstück, ein Segelboot und konnte zudem noch eine ansehnliche
Geldsumme auf seinem Konto verbuchen.
Die
Missstände wurden beseitigt, die »Feierabendbrigade« aufgelöst und der
Betriebsdirektor sorgte für strenge Maßnahmen zur Wiederherstellung von Ordnung
und Sicherheit.
Zu
meinen Erinnerungen gehört in diesem Zusammenhang aber auch: Auf die rasche
Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit mit unseren Möglichkeiten
hinzuwirken, das gehörte in meiner Arbeit auf der Linie XVIII zum »Alltag«,
kostete viel Nerven, Kraft und Zeit, war aber auch kein »erfolgreich
abgeschlossener Operativer Vorgang«, der mit Orden und Auszeichnungen honoriert
wurde.
Von
Dieter Lehmann †
Aus
autobiografischen Aufzeichnungen von Dieter Lehmann (1928-2013); Diplomjurist;
Dr. jur.; MfS 1950-1988; zuletzt Leiter der Bezirksverwaltung Gera des MfS im Rang
eines Generalmajors
Mit
dem Dienstgrad eines Hauptwachtmeisters der VP begann ich im Februar 1950
meinen Dienst in den Reihen des MfS. Mein Einsatz erfolgte in der damaligen
Abteilung IV, der Spionageabwehr der Landesverwaltung Sachsen. Im Februar 1950
bestand diese Abteilung aus deren Leiter und mir, als dessen damals einzigen
Mitarbeiter.
Wir
kannten uns aus gemeinsamer Arbeit in der Hauptverwaltung Kriminalpolizei, dem
Kommissariat K 5. Mein Abteilungsleiter war etwa doppelt so alt wie ich. In der
Zeit des Faschismus saß er mehrere Jahre im Zuchthaus, da er aktiver
Widerstandskämpfer gegen den Faschismus war. Er gehörte zu den anerkannten
Opfern des Faschismus. Wir beide sollten nunmehr im Land Sachsen gegen die
westlichen Geheimdienste und deren Spione den Kampf aufnehmen. Wir gestanden
uns gegenseitig, dass wir davon nicht die geringste Ahnung besaßen. Wie sollten
wir die Bekämpfung von Spionen anstellen? Mit welchen Methoden könnte dies
geschehen?
In
einem unserer ersten Gespräche fragte er mich, welchen Beruf ich erlernt habe.
Ich ließ ihn wissen, er habe es mit einem Holzwurm zu tun. Ich erinnere mich
noch an seine Entgegnung: »Als deine Lehre begann, warst du doch auch nicht in
der Lage, einen Kleiderschrank anzufertigen. Zuerst hast du sicher gelernt, mit
Hobel, Säge und Stemmeisen umzugehen. Ebenso benötigen wir erst einmal
bestimmte Grundkenntnisse, um schrittweise unser neues Handwerk zu erlernen.«
Seinen
Vergleich fand ich schon in Ordnung, doch wie wir zu den Kenntnissen und
Fähigkeiten gelangen konnten, war damit noch nicht geklärt. Wie konnte es
anders sein, wir lernten von den »Freunden«, den Mitarbeitern der sowjetischen
Staatsicherheitsorgane. Von ihnen lernten wir, wer für die inoffizielle
Tätigkeit zur Abwehr der Spionage geeignet ist, wie man Menschen für die
konspirative Zusammenarbeit gewinnt, wie die Zusammenarbeit mit ihnen zu
organisieren ist und anders mehr.
Ich
erinnere mich, dass wir den ersten Hinweis zu einer der Spionage verdächtigen
Person von unseren sowjetischen Partnern erhielten. Er beinhaltete, dass aus
einem Braunkohlewerk des Kreises Hoyerswerda Informationen an einen westlichen
Nachrichtendienst gelangen, die im Interesse der Volkswirtschaft der DDR der
Geheimhaltung unterlagen. Im Zuge der Bearbeitung der tatverdächtigen Person
durch geeignete Inoffizielle Mitarbeiter konnte der Spion überführt werden.
Dank der Hilfe unserer »Freunde« entwickelte sich in der Praxis allmählich die
Spionageabwehr des MfS. Die Geschichte des MfS widerspiegelt, die schlechteste
Spionageabwehr hatten wir nicht.
Dem
Spion aus der Braunkohle folgten Militärspione, deren Aktivitäten gegen
sowjetische Militärobjekte gerichtet waren. Mittels technischer Geräte, die im
Gleiskörper der Reichsbahn versteckt waren, wurde an den Magistralen der Eisenbahn
beispielsweise der Urangehalt von Erztransporten der Wismut
in die Sowjetunion gemessen. Der Industriezweig Wismut insgesamt fand das
lebhafte Interesse der westlichen Nachrichtendienste. Ein Umstand, der im
Zeitalter beginnender atomarer Aufrüstung niemanden zu wundern brauchte.
Beispielhaft
wären noch jene Militärspione zu nennen, die in den Dispatcherleitungen der
Deutschen Reichsbahn den sowjetischen Militärverkehr ausspionierten. Mit Fug
und Recht kann man feststellen, an der Trennlinie der beiden
Gesellschaftssysteme, der Welt des Kapitals und der Welt des Sozialismus, gab
es nicht nur den kalten Krieg. Im Herzen Europas, an der Grenze zwischen der
BRD und der DDR existierte eine Frontlinie. An dieser oder der so genannten
»unsichtbaren Front« vollzog sich ein erbitterter Kampf. Man könnte ihn auch
als eine Schlacht spezifischer Art betiteln. Auf der einen Seite der Barrikade
waren die Kräfte der Reaktion, des Kapitals zu finden, auf der anderen Seite
jene Kräfte, die den Versuch wagten, eine neue, bessere Welt des Sozialismus zu
errichten.
Ich
erinnere mich solch bundesdeutscher Losungen wie »Lieber tot als rot« oder
»Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb«. Während
wir die Volkskongressbewegung »Für Einheit und gerechten Frieden« ins Leben
riefen, spaltete Adenauer, im Verein mit den Westmächten, Deutschland.
Bekanntlich trat am 7. September 1949 erstmals der Deutsche Bundestag in Bonn
zusammen. Seither hatten die Ewiggestrigen ihr halbes Deutschland ganz. Mit
Gründung der BRD war es deren erklärtes Ziel, Deutschland als einheitlichen
imperialistischen Staat in den Grenzen von 1937 wiederherzustellen. Diese
Zielstellung war und blieb bis 1990 gewissermaßen die offene Kriegserklärung an
die Adresse der DDR.
Aber
zurück in die Gründerzeit der DDR. Die Republik im Osten Deutschlands entstand
im Gefolge der Spalterpolitik Adenauers und der
Westmächte, einen Monat nach Abspaltung der drei westlichen Besatzungszonen
(als BRD) aus dem deutschen Nationalverband.
Nach
der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, wurde bereits am 6. Juli 1950 durch
den polnischen Ministerpräsidenten Joseph Cyrankiewicz
und den Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, in Zgorzelec
das Abkommen über die Grenze an Oder und Neiße (in die DDR-Geschichte als
Oder-Neiße-Friedensgrenze eingegangen) unterzeichnet. Dieser politisch und
völkerrechtlich bedeutsame Akt besiegelte eine Festlegung der Siegermächte im
Ergebnis der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands. Nach dieser
Unterzeichnung fand vor der ehemaligen Görlitzer Ruhmeshalle eine
Großkundgebung mit Teilnehmern aus beiden Ländern statt. Die Teilnehmer aus der
DDR passierten über die Görlitzer Friedensbrücke die Staatsgrenze zur
Volksrepublik Polen. Beide Ministerpräsidenten erläuterten auf dieser
Kundgebung die politische Bedeutung dieses Vertrages.
Da
Adenauer ein absoluter Gegner dieser Grenze war, nimmt es nicht Wunder, dass
unmittelbar nach Unterzeichnung dieses Vertrages Revanchepolitiker der BRD im
Verein mit den Vertriebenenverbänden der BRD gegen dieses Abkommen
protestierten und die Grenzen von 1937 einforderten. Erst rund 50 Jahre nach
der Unterzeichnung, erst mit der Eingliederung der DDR in die BRD, erkannte die
BRD diese Grenze an. Wie nicht anders zu erwarten, heulten die Vertriebenenverbände
auf. Fast entschuldigend traten vor diesen Leuten Bundespolitiker auf und
stellten fest, die Anerkennung dieser Grenze sei der Preis, den die BRD für die
staatliche Einheit zu zahlen habe.
Das
MfS erhielt den Auftrag, die Veranstaltung am 6. Juli 1950 in Görlitz zu
sichern. Es kam zu keinerlei Zwischenfällen. In den Abendstunden nahm ich am
Empfang des polnischen Ministerpräsidenten teil. Ich erinnere mich an ein
Gespräch während des Empfanges mit einem polnischen General. Er gab seiner Hoffnung
Ausdruck, dass an dieser Grenze immer Frieden herrschen möge.
Im
Herbst 1952 verließ ich das nunmehr auf etwa ein Dutzend Mitarbeiter
angewachsene Kollektiv der Spionageabwehr. Insgesamt hatte sich der
Personalbestand des MfS in diesen Anfangsjahren beträchtlich erhöht. Die
Ausbildung und Schulung der Mitarbeiter gewann an Bedeutung. Mir wurde die
Funktion des Schulungsbeauftragten übertragen, die ich bis Februar 1953
ausübte. In Potsdam-Eiche unterhielt das MfS eine Schule. Sie suchte Lehrkräfte
und so kam es zu meiner Kommandierung an diese Einrichtung. Sie erhielt später
den Status Juristische Hochschule des MfS. An ihr diplomierte und promovierte
ich Jahre später.
Damals
aber musste ich mich entscheiden, Versetzung an die Schule oder Aufhebung meiner
Kommandierung. Als »Pauker« an der Schule zu verbleiben, entsprach nicht meinen
Vorstellungen. Es zog mich zurück in die operative Arbeit. So kehrte ich im
Juni 1953 nach Dresden zurück. Mir wurde die Leitung der Abteilung VII –
Abwehrarbeit in der Volkspolizei und im Strafvollzug – übertragen. In dieser
Dienststellung war ich bis zu meiner Versetzung als Leiter der
Kreisdienststelle Görlitz im Jahr 1955 tätig.
Über
zwei Ereignisse aus dieser Zeit möchte ich hier berichten. Das eine betraf
Friedrich Paulus. Er war einst Befehlshaber der faschistischen 6. Armee in der
Schlacht um Stalingrad, dem Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges. Aus
sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, nahm er in Dresden seinen
Wohnsitz. Beim Pass- und Meldewesen der Deutschen Volkspolizei beantragte er
einen Personalausweis. Im Antrag trug er in die Rubrik »Beruf« seinen letzten
Dienstgrad der faschistischen Armee ein:
»Generalfeldmarschall«.
Die
Leiterin der Abteilung Pass- und Meldewesen der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei
bat mich telefonisch um persönliche Rücksprache. Sie legte mir seinen Antrag
vor und erklärte, dass sie nicht bereit sei, einen Personalausweis mit der
Eintragung dieses Dienstgrades auszustellen.
Ich
unterstützte sie in ihrer Auffassung mit der Begründung, der Titel
Generalfeldmarschall sei bestenfalls ein verliehener Dienstgrad, aber kein
Beruf. Ich gab ihr die Empfehlung, die Sache zur Entscheidung an den
Innenminister der DDR heranzutragen. Sie verfuhr entsprechend. Um es kurz zu
machen. Paulus erhielt sein Personaldokument mit dem Eintrag »Pensionär«.
Das
zweite Ereignis war eine folgenschwere Fehlentscheidung, die für einen IM eine zweijährige Haftstrafe zur Folge hatte, die er in
der Westberliner Haftanstalt Moabit verbüßen musste. In einer der
Strafvollzugseinrichtungen, die zum Sicherungsbereich meiner Abteilung VII
gehörte, saß ein Westberliner ein. Dessen Ehefrau war in der
Untergrundorganisation »Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen« (UfJ) tätig. Nach den Angaben ihres Mannes verwaltete sie
unter anderem die Kartei der als V-Leute (Vertrauensleute) bezeichneten
Agenten. Für uns also eine verlockende Angelegenheit. Mit einem Brief des
Ehemannes schickten wir unseren IM zu ihr nach Westberlin.
Im
Brief deutete er an, dass er mit einer vorzeitigen Haftentlassung rechnen
könne, wenn sie zu einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit den
Sicherheitsorganen der DDR bereit wäre. Sie möge sich dem Überbringer des
Briefes gegenüber zu diesem Angebot äußern. Einzelheiten könnten später behandelt
werden. Der IM traf die Ehefrau des Inhaftierten nicht an, sondern nur deren
Mutter. Diese erkundigte sich nach seinem Anliegen. Er stellte sich als
ehemaliger Mithäftling ihres inhaftierten Schwiegersohnes vor, auf dessen Bitte
er den Brief an die Ehefrau übergeben soll.
Da
der IM auf einer persönlichen Übergabe bestand, wurde für zwei Stunden später,
ein erneuter Besuch vereinbart, da dann die Tochter anwesend sei. Von der
Hauptstadt der DDR aus informierte mich der IM telefonisch über seinen Fehlversuch.
Er erwartete von mir eine Orientierung für sein weiteres Vorgehen. Meine erste
Antwort lautete, den Brief mit dem Vermerk, dass sich die Ehefrau schriftlich
gegenüber ihrem Mann äußern möchte, in den Hausbriefkasten einzuwerfen. Ich war
dagegen, dass mein IM einen zweiten Besuch unternahm, weil ich unübersehbare
Folgen für ihn befürchtete. Ich gab ihn den Auftrag, in etwa einer Stunde
nochmals anzurufen, dann könne ich ihm eine verbindliche Antwort geben. Diese
Zeit benötigte ich, um die Sache mit meinem Dienstvorgesetzten zu besprechen,
da eine solche Veränderung im Plan unseres Vorgehens seiner Bestätigung
bedurfte. Er bestand darauf, nach dem von ihm bestätigten Plan zu verfahren,
den Brief also persönlich zu übergeben. Mein Fehler – ich beugte mich dieser
Entscheidung und erhob keinen Einwand.
Beim
Rückruf des IM teilte ich ihm mit, er möge den zweiten Versuch der persönlichen
Übergabe unternehmen. Die Folge war, mein IM kehrte erst zwei Jahre später aus
der Haftanstalt Moabit kommend zu seiner Familie zurück. Man hatte ihn zu einer
zweijährigen Haftstrafe wegen versuchten Menschenraubs verurteilt. In diesen
zwei Jahren betreute ich seine Familie, zu der zwei kleine Kinder gehörten.
Selbst die beste, auch finanzielle Unterstützung konnte den Verlust des Vaters
für die Zeit von zwei Jahren nicht ersetzen. Anfang des Jahres 2004 verstarb er
im Alter von 72 Jahren an einem Krebsleiden. Bis zu seinem Ableben verband uns
eine mehr als 50-jährige Freundschaft. Meinen verstorbenen, mit mir langjährig
befreundeten IM konnte ich nie eine richtige Antwort darauf geben, warum der
zweite Versuch unternommen wurde, warum ich von der Variante des Einwurfs in
den Briefkasten Abstand nahm. Hin und wieder entgegnete ich ihm gegenüber, er
möge mir doch bitte eine leichtere Frage stellen.
Im
Jahr 1955 kam es zu meiner Versetzung in den östlichen Teil des Bezirkes
Dresden. Es ging nach Görlitz. Nunmehr
sammelte ich Erfahrungen als Leiter einer Kreisdienststelle. Schon nach kurzer
Zeit gelangte ich zu der Erkenntnis, an dieser Grenze ging es nicht nur
friedlich zu. Seitens des Bundesnachrichtendienstes existierten im Görlitzer
Raum illegale Grenzschleusen. Spione und Kuriere des BND wechselten hier über
die Grenze. Aus Liebe zu unseren polnischen Nachbarn weilten sie aber nicht im
Nachbarland. Wer mit lauteren, ehrlichen Absichten nach Polen wollte, der
passierte mit gültigen Dokumenten die offiziellen Grenzübergangsstellen. Für
die Zusammenarbeit mit meinen polnischen Kollegen wirkte sich günstig aus, dass
ich einige Zeit in der Spionageabwehr tätig war. Gemeinsam arbeiteten wir auf
diesem Gebiet recht erfolgreich und leisteten damit unseren Beitrag zur
Verwirklichung des Abkommens vom 6. Juli 1950.
In
meine Görlitzer Amtszeit fällt auch ein Ereignis, bei dem ich einer Täuschung
zum Opfer fiel. Eines Tages erhielten wir die Information, wonach sich in der
Nähe eines Stellwerks der Deutschen Reichsbahn ein so genannter »toter
Briefkasten« (TBK) befand. Also eine im Verbindungswesen zwischen
Nachrichtendienst und dessen Agenturen wichtige Einrichtung. Aus der Lage
folgerten wir, dass es sich um einen Spion handeln könnte. Der Inhalt konnte
von uns zunächst nicht eingeordnet werden. Das Material trug den Charakter von
Liebesbriefen. Sollte es sich um eine neuere, noch unbekannte Methode der
nachrichtendienstlichen Arbeit handeln? Oder hat dieser Tote Briefkasten
überhaupt nichts mit nachrichtendienstlicher Arbeit zu tun? Eines Tages
stellten wir eine weibliche Person fest, die dem Behältnis im TBK Schriftgut
entnahm und gleichzeitig neues dort ablegte. Wir identifizierten diese Frau,
fanden aber keine Anhaltspunkte für Spionageaktivitäten. Schließlich stellte
sich heraus, dass diese Dame ein wenig verklemmt war. Sie besaß einen stillen
Verehrer, mit dem sie auf diese Weise verkehrte. Also aus unserer Sicht wie man
sagt: Außer Spesen nichts gewesen.
Im
Jahr 1958 gab es ein recht bedeutsames Ereignis in meiner Arbeit. Weit über
zwanzig Jahre war die Versorgung der Bevölkerung vom Säugling bis zum Greis an
Lebensmittelkarten gebunden. Die im faschistischen Krieg begonnene Rationierung
aller Nahrungsgüter, musste nach Kriegsende in der SBZ bzw. DDR noch über Jahre
beibehalten werden. Neben der Versorgung auf Lebensmittelkartenbasis
existierten erst so genannte freie Läden und später HO-Geschäfte. Die
unterschiedlichen Versorgungsarten besaßen entsprechende Preisgefüge. Es gab
Waren »ohne Marken«, die man nur zu höheren Preisen erwerben konnte. Im Jahr
1958 schickte sich die DDR an, die Rationierung und damit die
Lebensmittelkarten abzuschaffen. Um Spekulationen auszuschließen und den
entsprechenden Effekt zu erzielen, bedurfte diese Maßnahme der absoluten
Geheimhaltung.
Bis
zur Veröffentlichung der entsprechenden Regierungsbeschlüsse galt es dieses
»Geheimnis« zu hüten. Im Rahmen dieser Aktion waren von der KD bedeutsame
Sicherungsmaßnahmen zu bewältigen. Das neue einheitliche Preisgefüge, der Druck
der Preislisten, deren sichere Aufbewahrung und republikweite Verteilung
standen auf der Tagesordnung. Eine Jugendherberge im Zentrum der Görlitzer
Altstadt, dem früheren Ostsachsendruck und das Staatsreservelager Ostritz bei Görlitz waren die Hauptobjekte für die
Realisierung dieser Angelegenheit. Alle an der Aktion beteiligten Personen, die
Drucker, das Küchen- und Reinigungspersonal, die Bedienungskräfte, die
Krankenschwestern waren für mehrere Wochen streng von der Außenwelt
abgeschnitten.
Die
Hauptobjekte unterlagen in dieser Zeit einer strengen Bewachung. Aber alles
führte auch dazu, dass es zahlreiche Gerüchte über die Vorgänge in diesen
Einrichtungen gab. So unterschiedlich die Gerüchte auch gewesen sind, was sich
tatsächlich dort vollzog, kam nicht an das Tageslicht. Völlig überraschend für
die Bevölkerung wurde schließlich der Regierungsbeschluss verkündet. Ein
Aufatmen ging durch die Bevölkerung. In der Entwicklung der DDR gab es einen
Schritt nach vorn und das MfS war maßgeblich daran beteiligt.
In
der Görlitzer Arbeit sammelte ich eine neue Erfahrung. Die Sicherheit von
Objekten und Territorien war nicht im Alleingang zu bewältigen. Das verlangte
die enge Kooperation mit den Kräften der Deutschen Volkspolizei. Staatliche
Sicherheit und Gewährleistung allgemeiner Ordnung und Sicherheit kann man nicht
abstrakt voneinander trennen. Hier existieren fließende Grenzen.
Mit
dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes verbanden mich aufrichtige Beziehungen
und es gab eine vorbildliche Zusammenarbeit. Im Jahr 1958 trennten sich leider
unsere Wege durch meine erneute Versetzung. Er selbst entwickelte sich bis zum
ersten Stellvertreter des Ministers des Innern der DDR. Oft begegneten wir uns
zu zentralen Veranstaltungen in Berlin und fanden immer auch etwas Zeit
füreinander. Das herzliche Verhältnis, das uns verband, fand viel zu früh durch
seinen Tod ein Ende.
Eine
Versetzung in die Funktion des Stellvertreters des Leiters der
Bezirksverwaltung Dresden führte mich an die Seite eines Mannes aus der
Gründergeneration des MfS. Wir kannten uns aus der K 5, wo er mein
Dezernatsleiter war. Zu dieser Zeit galt ich als sein jüngster Mitarbeiter. Es
passte mir überhaupt nicht, wenn er mich hin und wieder als »junger Spund«
betitelte. Für seine kommunistische Überzeugung saß er zehn Jahre in
faschistischer Haft. In dem Buch von Bruno Apitz
»Nackt unter Wölfen« setzte man ihm ein bleibendes Denkmal. Im KZ Buchenwald
fungierte er im Krankenbau als Pfleger. In dieser Mission rettete er
zahlreichen Antifaschisten und sowjetischen Kriegsgefangenen das Leben. Er
arbeitete in der illegalen militärpolitischen Leitung des Lagers und wirkte
aktiv mit an der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald.
Die
Wahrnehmung der mir nun übertragenen Dienststellung fiel mir nicht leicht. Die
damals im Aufbau befindliche Flugzeugindustrie, die Kernforschung in Rossendorf, das Institut von Manfred von Ardenne und die
Technische Universität in Dresden, die metallurgischen und
Maschinenbaubetriebe, die Waggonbaubetriebe in Bautzen, Görlitz und Niesky stellten hohe Anforderungen an die Gewährleistung
der Sicherheit. Mit der Dresdner Flugzeugindustrie gab es zahlreiche Probleme.
Ich kann nicht darüber befinden, ob der Aufbau dieses Industriezweiges aus
volkswirtschaftlicher Sicht damals eine richtige Entscheidung gewesen ist.
Offen gesagt, ich hatte meine Zweifel. Die damals leitenden Mitarbeiter der
Dresdner Flugzeugindustrie arbeiteten vorher auf Vertragsbasis über Jahre in
der sowjetischen Flugzeugindustrie. Mit Ablauf der Verträge kehrten sie in die
DDR zurück. Ihnen musste eine Perspektive gegeben werden. Der Preis, den wir
dafür zahlten, war nach meiner persönlichen Auffassung eine Nummer zu groß für
uns.
Die
Entwicklung dieses Industriezweiges wurde erschwert, da sich Leute fanden, die
im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes selbige hintertrieben. Einer der vom
BND besoldeten Spione saß in leitender Stellung im Entwicklungsbau Pirna, der
für die Bereitstellung der Triebwerke die Verantwortung trug. In langjähriger
Arbeit enttarnten wir ihn, er kam vor Gericht. Während der Verbüßung seiner
Freiheitsstrafe kaufte ihn die BRD frei. Mir ist in Erinnerung, dass er im Fond
seines Pkw ein Maskottchen in Gestalt eines Teddybären mitführte. In diesem
befand sich ein Container, mit dessen Hilfe konnte er Mikrofilme konspirativ
transportieren.
Die
Dresdner Flugzeugindustrie entwickelte ihr erstes Mittelstreckenflugzeug, die
»152«. Da von vorgenanntem Spion die Entwicklung der Triebwerke verschleppt
wurde, gab es größere Schwierigkeiten. Man war gezwungen, in die »152«
Triebwerke aus der Sowjetunion einzubauen. Bei ihrem ersten Versuchsflug am 4.
März 1959 stürzte die Maschine im Raum Ottendorf-Okrilla
in der Einflugschneise zum Dresdner Flughafen ab. Die Besatzung fand dabei den
Tod. Jetzt traten Diskussionen auf, wer an dieser Katastrophe die Schuld trage.
Die Entwickler und Produzenten des Flugkörpers meinten, sie tragen keine
Schuld. Mehr und mehr zielte man auf die aus der Sowjetunion stammenden
Triebwerke.
Nach
dem Absturz war ich in Ottendorf-Okrilla vor Ort. Die
Experten suchten und fanden die Flugschreiber. Nach Auffinden erfolgte deren
Sicherstellung und Übergabe an die Staatliche Luftfahrtinspektion, die den
Absturz untersuchte. Sie stellte zweifelsfrei fest: die Absturzursache war
menschliches Versagen. Damit war die versuchte Schuldzuweisung an die Adresse
der Sowjetunion vom Tisch.
Im
August/September 1960 kam es mit der »152-V 4« zu den beiden Erstflügen, die
zugleich die letzten werden sollten. Eines Tages, nach der Durchführung von
Rollversuchen, ergoss sich aus den Tragflächen Treibstoff auf die Start- und
Landebahn. Bei diesem Versuch wirkten Schubkräfte auf die Treibstoffbehälter,
die zum Abscheren der Ventile führten. Es gab also noch immer eine
Schwachstelle an der Maschine. Dank der von IM
erhaltenen Informationen erlangten wir exakte Kenntnis zum Sachverhalt. Wir
waren ihnen für diese Informationen dankbar.
Auf
dieser Grundlage konnte das MfS Berlin die zuständigen wirtschaftsleitenden
Organe der DDR informieren. In welchem Maße das den Regierungsbeschluss zur
Einstellung des Flugzeugbaus in der DDR beeinflusste, damit weitere Ausgaben
und Vorkommnisse ausgeschlossen wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.
Laut
der heutigen Medien beging das MfS doch nur Verbrechen und andere
»Abscheulichkeiten«. Wenn dazu die Verhinderung möglicher Katastrophen zählt,
dann bin ich stolz darauf, in meiner Laufbahn nicht nur eine begangen zu haben!
Wie
im Kreis Görlitz, war nun auch auf Bezirksebene die Deutsche Volkspolizei unser
wichtigster Kooperationspartner. Es war gängiges Prinzip, dass wir die
Volkspolizei bei der Aufklärung schwerer Straftaten auf dem Gebiet der
allgemeinen Kriminalität unterstützen. Dies galt vor allem dann, wenn durch
diese Straftaten die Bevölkerung verunsichert oder gar Angst und Schrecken
verbreitet wurden.
Größere
Verunsicherung lösten damals in Bautzen mehr als fünfzig Brandstiftungen aus,
die von einem Kriminellen begangen wurden. Betroffen war ausschließlich
persönliches Eigentum der Bürger, wie Gartenlauben, Garagen, Schuppen und
ähnliche Einrichtungen. Neben den Kräften der Kriminalpolizei kamen Mitarbeiter
unseres Organs zum Einsatz, um gemeinsam den Brennpunkt zu klären. Vorerst gab
es keine näheren Hinweise zum Täter.
Nach
weiteren Brandlegungen konnten an zwei Brandstellen Spuren von Fahrradreifen
gesichert werden. Sie trugen individuelle Merkmale, die zur Identifizierung
geeignet waren. Mittels zahlreicher gedeckter Maßnahmen wurden in Bautzen
schrittweise die Fahrräder einer Prüfung unterzogen. Eines Tages stand ein
Fahrrad angeschlossen in der Nähe eines Rummelplatzes, den der Nutzer
offensichtlich besuchte. Ein augenscheinlicher Vergleich der Reifen des
Fahrrades mit den Tatortfotografien und individuellen Merkmalen ergab
Übereinstimmung. Als der Nutzer des Fahrrades erschien, wurde er durch die zur
Observierung des Rummelplatzes eingesetzten Mitarbeiter des MfS dem Kreisamt
der Volkspolizei zugeführt. Die nachfolgenden Prüfungshandlungen erbrachten
eindeutige Beweise für seine Täterschaft. Unter der Bevölkerung des Kreises
Bautzen zog nunmehr wieder Ruhe und Sicherheit ein.
Zu
Anfang des Jahres 1962 hatte die Bezirksverwaltung eine spezielle Aufgabe zu
erfüllen. Bereits zu Beginn der 60er Jahre war man in einem Bankgebäude der DDR
auf so genannte »Verwahrgegenstände« aufmerksam geworden, für die seit Ende des
Zweiten Weltkrieges, von den Einliefernden keine Gebühren für die Aufbewahrung
gezahlt wurden. Die Gegenstände kamen vorwiegend in den Jahren des zweiten
Weltkrieges zur Einlagerung. Sie waren zum Teil offensichtlich Beutegut aus den
vom faschistischen Deutschland besetzten Ländern. Möglicherweise befand sich
darunter auch bedeutsames Schriftgut. Für die DDR ergab sich daraus ein
politisches und rechtliches Interesse zu klären: Welches sind die Gründe für
die Einstellung dieser Zahlungen? Leben die Einlieferer noch, gibt es Erben? Wo
bestehen Zweifel darüber, dass es sich bei den eingelagerten Gütern um
Privateigentum der Einlieferer handelt? Womit ist der Zweifel an einem
Privatbesitz begründet? In welchen Fällen handelt es sich zweifelsfrei um
Beutegut aus faschistischen Raubzügen? Womit wird diese Tatsache bewiesen?
Weiter zu klären war, in welchen Einrichtungen, insbesondere Banken,
Sparkassen, Post, sind noch derartige Verwahrgegenstände eingelagert.
In
der Folge begann im Januar 1962 die Aktion »Licht«. Schon die Bezeichnung
dieser Maßnahmen sagt aus, dass Licht in das Dunkel der Verwahrgegenstände
gebracht werden sollte. Zur Klärung dieser Fragen hatten die Finanzorgane der
DDR und das MfS Aufgaben zu erfüllen. Da Aspekte der staatlichen Sicherheit und
Verantwortung für die Ahndung möglicher Verbrechen zu beachten waren, wurde das
MfS einbezogen.
Verantwortung
und Aufgaben des MfS waren in einer Weisung des Ministers für Staatssicherheit
festgelegt. Darin wurde auf die Auffindung bedeutsamer Dokumente aus
faschistischer Zeit, auf die Herkunft und die Art der Erlangung des Beutegutes
orientiert. Alles was in Richtung privater Vermögenswerte ging, lag in den
Händen der staatlichen Finanzorgane.
Insgesamt
waren wir im ehemaligen Bezirk Dresden in vielfältiger Weise fündig.
In
einem Archiv der Deutschen Notenbank in Dresden fanden wir bedeutsame
Dokumente. Es handelte sich um Personalakten aus der Zeit des Faschismus sowie
dazugehörige Karteimittel. Der sich in der Dresdner Altstadt befindliche
Tresorkeller der Deutschen Notenbank enthielt die größte Anzahl an
Verwahrbehältnisse, die seit den letzten Kriegsjahren unberührt dort lagerten.
Sie enthielten Bilder, Kupferstiche, Skulpturen, Ikonen, Schmuck, Tafelsilber,
Briefmarkensammlungen. Auch museale Gegenstände, Raubgut aus den vom
faschistischen Deutschland besetzten Ländern gehörten dazu. So eine
Handschriftensammlung von unschätzbarem Wert, wie damals hinzugezogene
Sachverständige und Gutachter feststellten. Alle aufgefundenen
Verwahrgegenstände wurden in gewissenhafter Kleinarbeit sorgfältig
protokolliert und einer Schätzung unterzogen. Das geschah im Zusammenwirken mit
Experten, einem Juwelier und einem Philatelisten.
Die
Aktion »Licht« war für alle beteiligten Personen eine Geschichtslektion
besonderer Art. Wurde uns doch anschaulich bewusst, dass offensichtlich vor den
faschistischen Eindringlingen in den europäischen Ländern, während deren
Besetzung, nichts sicher war. Die Übergabe aller bei der Aktion vom MfS
sichergestellten Güter an das Finanzministerium in Berlin nahm einen längeren
Zeitraum in Anspruch. Das war auf das große Volumen der sichergestellten Verwahrgegenstände
zurückzuführen.
Wie
ich selbst erlebte, hatte die Aktion »Licht« Nachwirkungen bis Ende der 60er
Jahre. Ein Vorgang widerspiegelt, wie korrekt sich die DDR im Umgang mit den
Verwahrgegenständen aus der Zeit des Faschismus verhielt. Ein Bürger der alten
Bundesländer wurde mit einer Briefmarkensammlung beerbt. Der Erblasser hatte
sie einst im Dresdner Tresorkeller eingelagert. Bei Abschluss der Aktion
»Licht« konnte der Erbe dieser Briefmarkensammlung nicht festgestellt werden.
In Verantwortung der staatlichen Finanzorgane kam sie zur Versteigerung. Der
später aufgefundene Erbe erhielt eine entsprechende finanzielle Entschädigung.
Der
nachfolgende Vorfall mit dem Orchester »Kurt Edelhagen«
ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass wir uns nicht nur mit
nachrichtendienstlicher Arbeit befassten. Eine Veranstaltung im
Dresdner Ostragehege mit dem aus der BRD stammenden
Orchester war durch die Deutsche Volkspolizei und die Staatssicherheit
abzusichern. Im Vorfeld der Veranstaltung sprachen wir uns gemeinsam dafür aus,
selbige in einem geschlossenen Objekt und nicht im Eisstadion durchzuführen. In
Erwartung der größeren finanziellen Einnahmen entschied man sich gegen uns. Der
Auftritt im Ostragehege
wurde beschlossen. Wenn es um das Geld ging, konnte sich die Konzert- und
Gastspieldirektion problemlos gegen uns durchsetzen.
Mit
dem Abschluss der Veranstaltung begaben sich einige Souvenirjäger zu den im
Stadion abgestellten Reisebussen des Schauorchesters. Neben der Jagd nach einem
Souvenir riefen einige Teilnehmer »Nehmt uns mit nach Hamburg«. Wenn diese Rufe
auch unsere Gemüter erregten, die Sicherheit der DDR sahen wir damit nicht
gefährdet. Da die Veranstaltung sehr gut besucht war, reichten die zum
Abtransport bereitgestellten Fahrzeuge der Verkehrsbetriebe nicht aus. Die
zahlreich zu Fuß abwandernden Veranstaltungsbesucher machten sich mit Rufen
bemerkbar, die uns nicht zur Ehre gereichten. Im Grunde genommen – wir hatten
uns diese Reaktion selbst organisiert. Die eingesetzten Sicherheitsorgane sahen
in diesen Ereignissen keine Veranlassung, dagegen einzuschreiten. Wir hätten
damit eine Eskalation und weitere Zuspitzung heraufbeschworen. Höheren Ortes
wurde darüber anders geurteilt.
Am
Tage der Veranstaltung vertrat ich den Leiter der Bezirksverwaltung. Der erste
Sekretär der SED-Bezirksleitung, Werner Krolikowski,
rief mich an und stellte mir die Frage, wieso die Staatssicherheit tatenlos
zusieht, wenn sich auf Dresdens Straßen die Konterrevolution breit macht? In
meiner Erwiderung versuchte ich ihm die Zusammenhänge zu verdeutlichen und
stellte die marschierende Konterrevolution in Abrede. Meine Antwort schlug ihm
offensichtlich auf den Magen. Er verlangte von mir zum Vorkommnis eine
schriftliche Stellungnahme, die ich vor dem Sekretariat der SED-Bezirksleitung
vertreten sollte. Ich fragte ihn, ob er sich die Sache mit meiner schriftlichen
Stellungnahme richtig überlegt habe, seine Forderung entspringe doch in erster
Linie seiner Neigung zur Spontaneität. Diese Bemerkung hätte ich mir besser
ersparen sollen, denn es kam seinerseits zu einer äußerst unsachlichen
Reaktion. Im Umgang mit Werner Krolikowski hatte ich
schon meine Erfahrungen. Mit ihm konnte man zusammenarbeiten, doch Widerspruch
vertrug er nicht. Was mich betrifft, ich war so veranlagt, dass mich Unsachlichkeiten
zum Widerspruch reizten.
Über
diese Auseinandersetzung informierte Werner Krolikowski
den damaligen Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen der Bezirksleitung der
SED, der sich um die durch mich zu erarbeitende Stellungnahme kümmern sollte.
Als er diesbezüglich mit mir in Verbindung trat, erklärte er mich bezüglich
meines Vorwurfes der Spontaneität an die Adresse von Werner Krolikowski
für verrückt. Damit hätte ich ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Bestenfalls könne ich so etwas denken, aber doch nicht aussprechen. Was meine
damalige Stellungnahme betraf, ich gab sie auftragsgemäß ab. In ihr stand, dass
es keinen Marsch der Konterrevolution durch Dresden gab. Zum festgelegten
Termin wartete ich vor dem Sitzungssaal des Sekretariats der SED-Bezirksleitung
und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Stunden waren vergangen, da trat
das Sekretariat in die Mittagspause. Die Leiterin des Büros der Bezirksleitung
teilte mir mit, das Sekretariat habe meine Stellungnahme zur Kenntnis genommen
und für mich sei die Sache erledigt. Ich habe nie erfahren, was mit der
Stellungnahme geschah. War sie dem Sekretariat oder nur Werner Krolikowski bekannt?
Der
Bezirk Dresden grenzte an die Volksrepublik Polen und an die
Tschechoslowakische Sozialistische Republik. In der Zeit meiner Tätigkeit als
Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung Dresden nahmen die
Sicherheitsorgane der CSSR im Landesinnern einen BND-Agenten fest. In der
Vernehmung gab er an, mit Hilfe eines DDR-Bürgers über die Staatsgrenze
zwischen DDR und CSSR, konkret im Raum Sebnitz,
illegal in unser Nachbarland gelangt zu sein. Zum Zeitpunkt der Verhaftung des
BND-Spions in der CSSR war der Termin für dessen Rückschleusung mittels des
DDR-Bürgers noch nicht verstrichen. Damit bestand die Möglichkeit, ihn bei dem
vermeintlichen Vorhaben festzunehmen.
Der
feststehende Treffpunkt für die Rückführung wurde gedeckt observiert und es
gelang, den DDR-Schleuser festzunehmen. Er stammte aus Bad Schandau. In
Heimarbeit arbeitete er für die Sebnitzer
Kunstblumenindustrie. Dieser Umstand ließ seinen Aufenthalt in Sebnitz als normal erscheinen. Die Untersuchung ergab,
seine Anwerbung durch den BND zum Zwecke der Einschleusung von BND-Agenten in
die CSSR lag mehrere Jahre zurück. Im Verlauf seiner Tätigkeit war das Ein- und
Ausschleusen von BND-Spionen kein einmaliger Akt. Dieser Fall belegt, dass
unsere sozialistischen Nachbarländer nicht von den westlichen
Nachrichtendiensten verschont wurden. Sie waren gleichermaßen Angriffsobjekt
wie die DDR und alle anderen sozialistischen Staaten. Nach meinem Dienst in
Dresden wurde ich zur Bezirksverwaltung Gera versetzt, die ich annähernd 18
Jahre leitete. Hier stellten sich für mich wieder zahlreiche neue Aufgaben.
Eine
davon war der von der Bezirksverwaltung zu leistende Beitrag zur Sicherung der
Staatsgrenze zur BRD. Das waren ca. 70 Kilometer Staatsgrenze in den Kreisen Schleiz, Lobenstein und Saalfeld
sowie die Grenzübergangsstellen auf Straße und Schiene in Hirschberg und Probstzella. Ebenso die durch das Territorium der DDR
verlaufenden Transitwege zwischen der BRD und Westberlin. Die Grundlage bildete
das zwischen beiden deutschen Staaten vereinbarte Transitabkommen. Danach war
die zügige Abfertigung der Transitreisenden an den Grenzübergangsstellen zu
gewährleisten. Kontrollhandlungen seitens der DDR waren nur zulässig, wenn
konkrete Verdachtsmomente für eine Verletzung des Abkommens vorlagen. So war es
unzulässig, das Öffnen des Kofferraumes eines Pkw zu fordern, wenn es keine
Verdachtsmomente gab.
Die
Transitreisenden hatten das Recht, sich über Kontrollhandlungen seitens der
Passkontrolleinheiten zu beschweren. Derartige Fälle wurden in einer dazu
bestehenden Transitkommission verhandelt. Gegebenenfalls kam es zur Ahndung von
Verstößen. Die Organe der DDR konnten und wollten sich bei der Abfertigung von
Transitreisenden keine dem Geist dieses Abkommens widersprechende Handlung
leisten und handelten dementsprechend korrekt und umsichtig. Die westlichen
Medien »standen ja immer Gewehr bei Fuß«, um sich gegebenen Falls auf solche
Vorfälle zu stürzen und sie politisch gegen die DDR auszuschlachten.
Das
Transitabkommen machte es erforderlich, ein System der Kontrolle und
Überwachung an den Transitstrecken zu entfalten, damit Versuche des Missbrauchs
für kriminelle und nachrichtendienstliche Handlungen unterbunden werden
konnten. Zur Klärung von Verdachtshinweisen und zur Sicherung von Beweisen
waren Intensivkontrollen an den Grenzübergangsstellen notwendig. Eine neue
Verantwortung und Aufgabenstellung für das MfS.
Im
Bezirk Gera, in dem ich nun als Leiter der Bezirksverwaltung des MfS arbeitete,
lebten damals ca. 740.000 Einwohner. Für die von der Bezirksverwaltung und
ihren Kreisdienststellen zu lösenden Aufgaben standen 2.400 Angehörige des MfS
und etwa 6.300 inoffizielle Mitarbeiter zur Verfügung.
Eines
Tages erhielten wir die Meldung: An der Autobahnausfahrt Bad Klosterlausnitz, unmittelbar an der Transitstrecke, liegt
eine völlig verbrannte Leiche neben einem leeren Benzinkanister. Die Autobahn
war Transitstrecke Berlin-München und die Bearbeitung schwerer Straftaten in
diesem Bereich fiel in unsere Verantwortung, bei kriminellen Dingen natürlich
in enger Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei. Nach einer Woche intensiver
Tag- und Nachtarbeit (Stoff für einen echten Krimi), wussten wir, der Tote war
ein Westberliner Gastwirt. Er war von einem aus der DDR in den Westen
geflohenen jungen Ehepaar umgebracht worden. Sie hatten den Kauf seines Lokals
vorgetäuscht. Bei der vermeintlichen Übergabe des Kaufpreises bekam er kein
Geld. Sie brachten ihn um. Zur Verwischung der Spuren transportierten sie ihn
im Kofferraum ihres Autos über die Transitautobahn an die besagte Stelle,
übergossen ihn mit Benzin und zündeten ihn an.
Eine
intensive und gründliche Spurensicherung und die Befragung von mehr als hundert
Personen in den umliegenden Orten brachten erst einmal Gewissheit zur ziemlich
genauen Uhrzeit der Tat und der Beteiligung eines Fahrzeuges aus dem Westen.
Den letzten Anstoß zu Aufklärung gab ein Zöllner vom Grenzübergang in
Hirschberg. Durch seine Kontrollstelle waren die jungen Leute nach Bayern
ausgereist.
Da
er unmittelbar danach aus organisatorischen Gründen zum Dienst auf die
Einreisespur wechselte, bemerkte er, dass die beiden schon eine halbe Stunde später
zurückkamen. Er hatte sie noch gefragt, ob sie etwas vergessen hatten. Sie
bejahten und setzten die Fahrt in Richtung Berlin fort. Solche innerhalb kurzer
Zeit wieder einreisende Personen wurden von den an
Grenzübergangsstellen Tätigen als »Kurzumkehrer«
bezeichnet und besonders aufmerksam betrachtet. Schließlich wurden auf diese
Weise die Transitstrecken für kriminelle und nachrichtendienstliche Handlungen
gegen die DDR missbraucht.
Unsere
Kriminaltechniker hatten gemeinsam mit den Gerichtsmedizinern der Jenaer
Universität von der total verkohlten Leiche eine Art Passbild fertigen können.
Eine Hälfte des Gesichtes des Toten hatte auf dem Waldweg, in einer
Wasserpfütze gelegen und war noch leidlich zu erkennen. Man fotografierte sie,
und passte sie spiegelbildlich an die andere Seite an. Nach einer kosmetischen
Behandlung war ein Bild von einem ramponierten Gesicht entstanden. Es
ermöglichte die eindeutige Identifizierung des Toten. Die Westberliner Polizei
zeigte zunächst wenig Interesse, an der Aufklärung der Tat mit zu wirken. Als
die Angehörigen des Opfers eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten, waren sie
aber sehr über die von uns vorgelegten Ergebnisse der Aufklärung erfreut und
bereit, sie zu übernehmen. Leider durften die Hintergründe dieses Verbrechens
und der Missbrauch der Transitwege nicht öffentlich ausgewertet werden.
Die
Aufklärung dieses Verbrechens könnte noch heute als ein Lehrbeispiel für das
Zusammenwirken verschiedener Organe bei der Aufklärung derartiger Straftaten
gelten. Einer der zur Aufklärung des Mordes eingesetzten Mitarbeiter des MfS
war ein ausgezeichneter Fachmann, maßgeblich sein Anteil am erfolgreichen
Abschluss. In der so genannten Nachwendezeit verdiente er sich bis zu seiner
Berentung den Lebensunterhalt als Hausmeister in einem Internat. Er war froh
darüber, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. In diese Lage geriet er, da
er den »Fehler« hatte, einst Mitarbeiter der »Stasi« gewesen zu sein.
Auf
den Transitwegen kam es nicht nur zu Straftaten, die von außen vorgetragen
wurden. Auch die aus dem Inneren der DDR vorgetragenen Rechtsverletzungen
trugen nicht selten gefährliche Züge
Eines
Morgens, direkt zum Dienstbeginn, kam eine Meldung über eine Geiselnahme – und
die war echt. In Hermsdorf hatte ein Auto neben zwei zur Schule gehenden
zehnjährigen Kindern angehalten. Der Fahrer zog einen Jungen gewaltsam in das
Fahrzeug, dem Mädchen wurde ein Zettel gegeben, den sie in der Schule
überreichen sollte. Der Text, »wenn nicht sofort die Grenze nach dem Westen
geöffnet und freie Fahrt für den Wagen gegeben wird, stirbt der Junge.« Neben
der Sofort-Information an alle, die es wissen mussten, wurden am
Autogrenzübergang Hirschberg, auf den der Geiselnehmer zufuhr, die
entsprechenden Vorbereitungen getroffen. Wir hatten nur maximal zwanzig Minuten
Zeit. Weil Versuche gewaltsamer Grenzdurchbrüche an den Übergängen immer sehr
gefährlich waren, hatten unsere MfS-Techniker eine so genannte Fangeinrichtung
konstruiert. Damit wurde verhindert, dass die Fahrzeuge auf feste Hindernisse prallten
und es zu Verletzungen der Insassen kam. Mit der neuen Lösung wurden selbst
schwere und schnell fahrende Fahrzeuge ohne Personen und Sachschäden zum Stehen
gebracht.
Wir
mussten nicht lange warten. Der Wolga kam mit hoher Geschwindigkeit angebraust,
durchbrach unter Missachtung von Warnschüssen eine kurz vor dem Grenzübergang
aufgestellte Polizeisperre und hing kurz darauf in unserer Fanganlage. In
diesem Moment öffnete der Fahrer einen Benzinkanister, goss diesen aus und
entzündete das Benzin. Unsere Mitarbeiter waren für alle möglichen Vorfälle
trainiert. Einer schlug mit einem Hammer die Scheiben ein, ein anderer sprühte
mit einem speziellen Feuerlöscher in die Flammen und zwei weitere zogen die
Insassen aus dem Wagen. Außer beim Fahrer gab es bei den Insassen, das waren
die Ehefrau des Gangsters mit zwei Kleinkindern und der als Geisel genommene
Schüler aus Hermsdorf, keine Verletzungen. Wir konnten den Jungen unversehrt an
seine Eltern zurückgeben. Alles war gut gelungen, doch danach gab es Ärger.
Das
Ereignis hatte über den Ort hinaus Wellen geschlagen und alle wollten wissen,
was eigentlich passiert war. Doch es kam – wie immer bei solchen vergleichbaren
Vorkommnissen – von »zentraler Stelle« die bekannte Nachrichtensperre. Wir
sollten die Eltern, auf die aus ihrem Umfeld viele Fragen einstürmten,
verpflichten, mit niemanden über den Vorfall zu reden. Auch an der Schule, wo
die Sache in aller Munde war, sollten die Gespräche unterbunden werden. Die
Eltern, denen wir das Ansinnen vorsichtig antrugen, weigerten sich, eine solche
Verpflichtung einzugehen. Von uns aus wurde dann auch nichts weiter
unternommen. Die Debatten legten sich nach und nach. Bei manchen Menschen wird
aber auch zurückgeblieben sein: Mit den Sicherheitsleuten sei nicht gut zu reden,
sie wollten offenkundig etwas vertuschen. Dabei hätten sich dieser Vorfall und
das umsichtige Handeln der Mitarbeiter ausgezeichnet für eine sachliche
Öffentlichkeitsarbeit und damit für die Festigung des Vertrauensverhältnisses
zwischen Bürgern und MfS nutzen lassen. Bei dem Täter handelte es sich um einen
Kriminellen aus Dresden, der dort wegen Scheckbetrug mit Haftbefehl gesucht
wurde. Als die Kriminalpolizisten nach der Festnahme die Wohnung durchsuchten,
fanden sie einen Zettel mit dem Text: »Da guckt ihr dumm, ihr Arschlöcher – der
Vogel ist ausgeflogen«.
Die
an der Verhinderung des Terrorverbrechens beteiligten Hirschberger
Antiterrorkräfte waren zum Teil selbst Kindesväter. Sie schonten ihr Leben
nicht, um fremdes Leben zu schützen. Für ihr mutiges, entschlossenes Handeln
wurden diese Mitarbeiter mit Orden und Medaillen geehrt. Sie verdienten es,
diese voller Stolz tragen zu dürfen. Im nunmehr »geeinten« Deutschland ist das
ihnen nicht erlaubt. Die Erinnerung an die Geiselbefreiung werden sie sicher
weiter in ihren Herzen tragen. Heute stellt sich die Frage, hat dieser
Kriminelle – wie nicht wenige einstige Rechtsbrecher – etwa auch
Haftentschädigung erhalten? Hat man ihn mittels Gerichtsbeschluss
rehabilitiert? Wurde er vom Täter zum »Stasi-Opfer« erklärt?
Sicher
gehörte es zu den erklärten Zielen eines jeden Mitarbeiters der Schutz-,
Sicherheits- und Justizorgane der DDR, alle Straftaten aufzuklären. So
lobenswert eine solche Grundeinstellung ist, sie wird wohl immer – mehr oder
weniger – ein frommer Wunsch bleiben. Es gab demzufolge auch für mich nicht nur
Erfolge, ich musste auch mit Niederlagen fertig werden. Über eine meiner
Niederlagen, eine der empfindlichsten, möchte ich nunmehr berichten.
Sie
betrifft den spektakulären Flug zweier Pößnecker
Familien, die mit einem Heißluftballon die Staatsgrenze zur BRD überwanden. Das
Spektakel veranlasste eine amerikanische Filmgesellschaft, darüber einen Film
zu drehen, in den westlichen Medien erfolgte eine ausgiebige Publizierung
dieses Ereignisses. Diese gelungene spektakuläre Republikflucht hatte auch eine
Vorgeschichte. Einige Zeit vorher wurde im Kreis Schleiz
in einem Waldstück ein herrenloser Heißluftballon gefunden. Dazu gab es eine
Reihe von Versionen. Die Palette reichte vom abenteuerlichen jugendlichen Spiel
bis zum möglichen illegalen Überflug der Staatsgrenze. Aus meiner Sicht war es
notwendig, von der letztgenannten Version auszugehen. Aus diesen Gründen nahm
die Aufklärung des Fundes in meiner Arbeit eine zentrale Stelle ein. Es begann eine
zielstrebige, konzentrierte Arbeit, um Produzenten und Nutzer rechtzeitig, vor
einer möglichen Wiederholung eines Fluges zu finden.
In
der Technischen Untersuchungsstelle des MfS wurde der Ballon einer Überprüfung
unterzogen, um Hinweise für die Täterermittlung zu erhalten. Aus meiner
langjährigen Praxis besaß ich die Erfahrung, dass die Technische
Untersuchungsstelle eine qualifizierte Arbeit leistete und setzte große
Erwartungen in sie. Leider erfüllten sich diese nicht. Im Gegenteil, mit dem
Gutachten schickten sie uns leider in die falsche Richtung. Das Gutachten sagte
aus, der Ballon sei auf einer Industrienähmaschine gefertigt. Dafür kämen zwei
Typen in Betracht. Wir stellten damals im Bezirk Gera etwas über 400 derartiger
Industrienähmaschinen fest. Auch über den Aufkauf größerer Mengen Stoff, den
Kauf und die Füllung mehrerer größerer Propangasflaschen, über das zur
Erzeugung von Heißluft benutzte Brennersystem usw. versuchten wir Hinweise zu
erhalten. Wir taten viel, um eine mögliche Wiederholung zu verhindern.
Schließlich stellte wir fest, weder der im Wald von Schleiz
gefundene Ballon, noch der in der BRD gelandete, wurden auf einer
Industrienähmaschine angefertigt. Beide Ballons entstanden auf einer einfachen
Haushaltnähmaschine der Firma Singer. Wir hatten uns völlig überflüssig mit den
400 Industrienähmaschinen und deren Nutzern befasst. Im Nachgang will ich damit
nicht die Gutachter für die Landung in Naila
verantwortlich machen. Wem sollte dies heute noch etwas nutzen? Angesprochen
habe ich dieses Problem nur deshalb, um zu zeigen, wie sehr Gutachten über den
Erfolg oder Misserfolg in der Arbeit entscheiden können.
Eine
Bemerkung zu diesem Flug gibt es aber doch noch. In den heutigen Massenmedien
wird nicht selten über die angebliche »flächendeckende Kontrolle und
Überwachung« durch die »Stasi« berichtet. Ihr wird ein Perfektionismus
angedichtet, den es in der Praxis niemals gab und wahrscheinlich auch nicht
geben wird.
Wir
erhielten keinerlei Hinweise zu den Versuchen, die mit dem Brennersystem in
einem Pößnecker Wohnhaus unternommen wurden, obwohl
dessen Bewohner befürchteten, dass ihr Wohnhaus durch die starke Flammenbildung
in Brand geraten könne. Wo war denn hier die propagierte »flächendeckende
Überwachung«?
Wer
hat übrigens noch nichts über die Schießwütigkeit der
Grenztruppen der DDR gelesen? Hier gab es laut der Medien doch nur »Mauer- und
Todesschützen«. Bei der Landung des Ballons in Naila
fanden sich beispielsweise keine Einschüsse in der Gondel. Dem Ballon
entstiegen auch keine durch Schüsse der Grenztruppen verletzten Personen und
auch keine Toten mussten abtransportiert werden. Diese Tatsachen passen nicht
in das Bild, das man über unsere Grenztruppen zeichnet. Warum haben sie den
Ballon denn nicht beschossen?
Es
gab nicht nur einen Überflug der Staatsgrenze von Ost nach West. Sie gab es
mittels so genannter Drachengleiter, mittels GST-Sportflugzeugen
(Sportflugzeuge der Gesellschaft für Sport und Technik) oder Agrarmaschinen der
Interflug. Ich kenne nicht einen einzelnen Fall, wo es diesbezüglich zur
Schusswaffenanwendung kam, wo seitens der Luftstreitkräfte der DDR ein
Flugkörper vom Himmel geholt wurde.
Vor
Jahren gab es im Hauptpostamt Gera den Versuch eines Raubüberfalls. Das Ziel
des Täters bestand darin, sich in den Besitz einer größeren Summe Bargeld zu
bringen. Zu den bedrohten Personen dieses Überfalls gehörte eine
Postangestellte, die gerade hochschwanger war. Es war zu befürchten, dass sie
gesundheitliche Schäden davonträgt. Sie erlitt einen Schock. Mehrere
Postangestellte störten das Vorhaben des Eindringlings, so dass er von seinem
Vorhaben Abstand nahm. Unter Zurücklassung einiger persönlicher Gegenstände
ergriff er die Flucht.
Der
Vorfall verursachte in Gera erhebliches Aufsehen, zumal solche Straftaten in
der DDR Seltenheitswert besaßen.
Dieser
Raubüberfall auf das Geraer Hauptpostamt zählte zu Straftaten der schweren
allgemeinen Kriminalität. Für uns war es aber selbstverständlich, dass wir die
Kriminalpolizei bei der Aufklärung mit unseren spezifischen Mitteln und Methoden
unterstützten. In die systematische Bearbeitung wurden auch IM einbezogen. Sie
wurden orientiert, auf alle Hinweise zu achten, die Anhaltspunkte zur
Überführung des Täters enthielten. Wieder einmal bewährten sich Qualität,
Umsicht und Verantwortung, mit der IM zur Sicherheit der Menschen in DDR
beitrugen. Ein IM, der im Auftrage seines Betriebes mit anderen
Betriebsangehörigen in verschieden Landesteilen der DDR tätig war, stellte
fest, dass die ähnlichen, bisher ungeklärten Raubüberfälle immer dann
stattgefunden hatten, wenn er mit seinen Kollegen im jeweiligen Gebiet
arbeitete. Von seiner Vermutung, dass der Täter möglicherweise unter den
eingesetzten Betriebsangehörigen sein könnte, unterrichtete er seinen
Führungsoffizier.
Weitere
Aufklärungsmaßnahmen bestätigten die Vermutung. Der Täter wurde gefunden. Ihm
konnte nachgewiesen werden, dass er vor einigen Jahren bereits einen Überfall
in Berlin verübte, einen erheblichen Barbetrag erbeutete und dabei mit großer
Brutalität gegen eine Reinigungskraft dieser Einrichtung vorging. Bis zu seiner
Verhaftung in Gera blieb dieses Verbrechen unaufgeklärt. Die Aufklärung war vor
allem einem wachsamen inoffiziellen Mitarbeiter zu verdanken. Sicher hat er
seine aufrichtige Arbeit für Sicherheit und Ordnung in unserem Land, wie alle
inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, heute mit Diskriminierung und
Verleumdung bezahlt.
Nunmehr
einige Bemerkungen zur Antragstellung von Bürgern der DDR auf Entlassung aus
ihrer Staatsbürgerschaft mit dem Ziel der Übersiedlung in den »Westen«,
vordergründig die BRD. Dieses Problem hat uns über Jahre beschäftigt. Es band
erhebliche Kräfte des Ministeriums. Es entwickelte sich von Einzelerscheinungen
im Verlauf einiger Jahre zu einer regelrechten Massenbewegung. Wo lagen die
Gründe, dass sich zahlreiche Bürger unseres Landes dafür entschieden, ihre
Staatsbürgerschaft aufzugeben und in den Westen zu gehen?
Die
in der inneren Entwicklung der DDR zu suchenden Ursachen wurden nicht
realistisch gewertet. Es gab Kräfte in der politischen Führung, die diese
Entwicklung als Feindtätigkeit deklarierten. Und damit schob man die
Verantwortung dem MfS zu. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera äußerte
sich mir gegenüber: »Wann wollte ihr mit den Ansinnen der Antragsteller auf
Übersiedlung endlich Schluss machen? Ihr müsst nur härter durchgreifen, um
diesen Feinden das Handwerk zu legen.«
Sowohl
in schriftlichen Lagebeurteilungen, als auch in mündlichen Berichterstattungen
ersuchte ich die SED-Führung des Bezirkes, dass man sich mit den inneren
Ursachen dieser Entwicklung auseinandersetzen sollte, die in der Regel nichts
mit Feindtätigkeit zu tun hatte. Nicht selten wurde mir entgegnet, womit sich
die Partei auseinandersetzen muss, ist ihre Angelegenheit und nicht Sache der
Staatssicherheit.
Das
alles führte mit dazu, dass wir dieses Problem nie in den Griff bekamen. Wir
beherrschten es nicht – es beherrschte uns. Ich kenne keine andere
Aufgabenstellung des Ministeriums, wo es ein vergleichbares »auf und ab«
gegeben hat. Zentrale Entscheidungen in den Verfahrensfragen wechselten nicht
selten täglich. Ausreisewillige DDR-Bürger begingen bewusst strafbare
Handlungen, um auf diese Weise ihre Übersiedlung zu erreichen, mehr oder
weniger zu erzwingen. Das wurde zu einer regelrechten »Modeerscheinung«.
Wiederholt unternahmen Leiter der Bezirksverwaltungen unseres Organs den
Versuch durchzusetzen, dass keine Übersiedlungen mehr aus der Haft in die BRD
erfolgen. Unser Verlangen fand kein Gehör. Die Antwort lautete, dass es auch in
Zukunft aus der Haft heraus Übersiedlungen geben wird. Mit dieser Tatsache
müssten wir leben und uns operativ darauf einstellen. Worauf wir uns alles
einstellen sollten, entwickelte sich mehr und mehr zu einem Fass ohne Boden.
Auf mehreren zentralen Dienstkonferenzen des Ministers wurden ihm Vorschläge
unterbreitet, wie wir die Lage auf diesem Gebiet besser beherrschen können. In
der Mehrheit verfielen sie der Ablehnung.
Bei
uns war beispielsweise die Bezeichnung »rechtswidriges Ersuchen« üblich. Welche
der Ersuchen aus staatsrechtlicher Sicht als »rechtmäßig« zu werten sind, war
eine unserer Fragen. Bis zu meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst blieb
eine exakte Beantwortung aus. Was den Bezirk Gera betraf, so waren wir und die
Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes nicht selten der Kritik der
SED-Bezirksleitung ausgesetzt.
Im
Zusammenhang mit den Übersiedlungen blieb mir eine Begebenheit in Erinnerung,
die den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung persönlich betraf. Eines Tages
erhielt ich aus Berlin von einem der Stellvertreter des Ministers einen Anruf.
Er stellte mir die Frage, ob der 1. Sekretär mit einer bestimmten weiblichen
Person verwandt sei. Auf Anhieb konnte ich diese Frage beantworten. Es handelte
sich um die Ex-Schwiegertochter von ihm.
Daraufhin
ließ mich der Anrufer wissen, dass die Ex-Schwiegertochter mit ihren beiden
Kindern in der BRD-Botschaft in Budapest säße. Sie wolle dieselbe nur dann
verlassen, wenn sie mit ihren Kindern ungehindert in die BRD ausreisen dürfe.
Der
Stellvertreter des Ministers erteilte mir den Auftrag, den 1. Sekretär über den
Sachverhalt umgehend zu informieren. Da zu erwarten sei, dass die westlichen
Medien darüber berichten, sollte er diese Information von uns und nicht über
die Westmedien erfahren.
Bei
der Überbringung der Nachricht entgegnete Herbert Ziegenhahn: »Was habe ich mit
dieser Sache und mit dieser Frau zu tun? Mein Sohn ist von dieser Frau
geschieden, sie geht mich überhaupt nichts mehr an.«
Sie
aber saß mit seiner leiblichen Enkelin und einem zweiten Kind in der BRD-Botschaft
und wollte ihre Ausreise erzwingen.
Mich
bewegte diese Erklärung, diese Reaktion, die jede menschliche Regung vermissen
ließ, zutiefst. Während seine Gattin mit Tränen in den Augen in ihrer Küche
saß, zeigte er nicht die geringste Reaktion.
Zu
einem »Terrorakt der besonderen Art« möchte ich mich noch äußern. In einem der
Tagesrapporte der Deutschen Volkspolizei über die Lage im Bezirk Gera war zu
lesen, dass die Sekretärin eines leitenden Offiziers der Nationalen Volksarmee
Opfer eines »Terroranschlages« wurde. Nach Rückkehr von einer Dienstreise war
sie demnach von unbekannten Tätern in der Nähe ihrer Wohnung brutal
zusammengeschlagen worden. Der Grad der Verletzungen habe dazu geführt, sie in
das Bezirkskrankenhaus Gera einzuliefern. Bereits mit dem Lesen dieses Berichts
traten bei mir Zweifel über dieses Vorkommnis auf. Sie beruhten auf zwei
unterschiedlichen Gründen. Erstens, ich konnte mir schwerlich vorstellen, was
»Terroristen« im Schilde führen, wenn sie eine Sekretärin im Dienstgrad eines
Feldwebels auf der Straße zusammenschlagen. Zweitens, ich besaß bereits vor dem
Überfall auf diese Sekretärin Kenntnisse über ihren Chef, die mich veranlassten
in eine andere Richtung zu denken. Mitten in meinen Überlegungen zu eventuell
zu veranlassenden Maßnahmen gab es zahlreiche Anrufe bei mir zu diesem
Vorkommnis. Angefangen beim Minister, über den Ersten Sekretär der
Bezirksleitung der SED, dem Chef der Volkspolizei des Bezirkes Gera, dem
Bezirksstaatsanwalt und anderen. Mit Ausnahme meines Ministers wurden mir
zahlreiche Ratschläge erteilt, wie ich bei der Aufklärung dieser
»Terroranschläge« vorgehen sollte. Lediglich dem Chef der Volkspolizei ging es
nicht um Ratschläge, ihm ging es um eine Abstimmung unseres Vorgehens zur
Klärung dieses Ereignisses. Für Ratschläge von Leuten, die keinerlei Sach- und
Fachkenntnis zur Aufklärung von Straftaten besaßen, war ich besonders
empfindlich. Wenn ich davon die Nase voll hatte, antwortete ich nicht selten
gereizt, dass ich mit guten Ratschlägen bereits über Jahre versorgt sei.
Im
Gespräch mit Minister Mielke in dieser Sache äußerte ich meine Überlegungen.
Vor allem ließ ich ihn wissen, dass ich über inoffizielle Informationen zu
diesem leitenden Offizier aus dem Bereich NVA-Wehrkommando verfüge, die seinen
Alkoholmissbrauch sowie sexuelle Belästigungen weiblicher Mitarbeiterinnen
betreffen.
Eine
Zustimmung zu meinen geplanten Maßnahmen durch den Minister erfolgte. Sie war
notwendig, da dieser leitende Offizier Mitglied der SED-Bezirksleitung und Nomenklaturkader des zuständigen Militärbezirks war. Die
zur Klärung des Sachverhalts von mir eingesetzten Mitarbeiter erhielten die
nötige Orientierung und im Ergebnis ihrer Tätigkeit bestätigte sich:
Terroristen gab es nicht. Es gab einen Dienstvorgesetzten, der seine Sekretärin
im volltrunkenen Zustand sexuell missbrauchen wollte. Da sie sich entschieden
gegen seine Belästigungen zur Wehr setzte, schlug er sie brutal zusammen. Er
übte Druck auf sie aus, drohte weitere körperliche Züchtigungen an, wenn sie
nicht bei der »Variante Überfall von Terroristen« bleibt. Nachdem er dieser
Straftat überführt war, erfolgte seine Degradierung. Unter Aberkennung aller
verliehenen militärischen Auszeichnungen erfolgte sein Ausstoß aus der
Nationalen Volksarmee. Auch in diesem Fall kamen die entscheidenden Hinweise
zur korrekten Klärung von inoffiziellen Mitarbeitern.
Hin
und wieder musste ich mich mit Hinterlassenschaften aus der Zeit des Faschismus
befassen. In einer Dorfkirche des Kreises Pößneck kam es in den 70er Jahren zu
einer Dachreparatur. Im Gebälk des Kirchturms entdeckten Bauleute einen dort
versteckten Jutesack. In ihm befand sich ein eingenähter Gegenstand. Er wurde
von den Dachdeckern dem Ortspfarrer übergeben. Der Pfarrer öffnete im Beisein
der Handwerker dieses Paket. Es fand sich eine Gestapo-Akte aus der Stadt Prag.
Angelegt wurde sie von der ehemaligen Gestapo-Leitstelle Prag. Sie bezog sich
auf das Attentat an dem ehemaligen Reichsprotektor Reinhard Heydrich.
Angefangen von Tatortaufnahmen, wo die Erschießung stattfand, bis zu der
Entdeckung der Attentäter in einer Prager Kirche, enthielt die Akte alle
Einzelheiten zu dem Anschlag.
Soweit
ich mich erinnere, die Attentäter verteidigten sich in dieser Kirche gegen die
Faschisten und kamen dabei ums Leben. Der Pfarrer übergab die Akte an den
zuständigen Kreisdienststellenleiter. Von ihm kam sie auf meinen Tisch und ich
leitete sie an Minister Mielke weiter. Einige Zeit danach informierte er mich,
dass er die Akte in Prag an unser damaliges Bruderorgan übergeben hat. Wie die
Gestapo-Akte aus der Leitstelle Prag den Weg in die Dorfkirche nahm, dies wird
wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Wichtig erscheint mir, nach ihrem Fund
kam sie in die richtigen Hände.
Zum
Abschluss dieses Kapitels meiner Erinnerungen möchte ich mich zum Wirken von
Militärspionen westlicher Nachrichtendienste im ehemaligen Bezirk Gera äußern.
Anlässlich des XI. Parteitages der SED wurde die Bezirksverwaltung Gera des
Ministeriums für Staatssicherheit der DDR mit einem Ehrenbanner des ZK der SED
ausgezeichnet. Die Auszeichnung stützte sich in starkem Maße darauf, dass wir
in der Aufklärung und Entlarvung von westlichen Militärspionen republikweit
einen guten Platz einnahmen. Allein in meinen letzten zehn Dienstjahren
entlarvten wir ein Dutzend Militärspione. Sie arbeiteten für verschiedene
westliche Nachrichtendienste. Es dominierten die Militärspione des
Bundesnachrichtendienstes der BRD. Selbst die bestgemeinten Ratschläge des BND
an seine Militärspione halfen nicht, um sie vor unserem Zugriff zu schützen.
In
der schriftlichen Anleitung des Bundesnachrichtendienstes der BRD an seine in
der DDR wirkenden Militärspione war in der Einleitung derselben zu lesen: »Aus
Ihren persönlichen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime werden sie ja
größtenteils die Praktiken der staatlichen Organe kennen. Trotzdem wollen wir
in dieser Anleitung Ihnen nochmals all die uns zunächst wichtig erscheinenden
Punkte für Ihre Sicherheit aufzeigen, um Sie vor möglichen Unbedachtsamkeiten
zu schützen. Die meisten dieser Ratschläge sind einfach und verständlich, so daß sie keiner längeren Erläuterung bedürfen. Bitte halten
Sie sich an diese Ratschläge strickt, da sie für Ihre Sicherheit von
ausschlaggebender Bedeutung sind. Eine Gefahr kann erst eintreten, wenn Ihnen
auf diesem Gebiet gravierende Fehler unterlaufen. Meistens sind diese dann
nicht mehr rückgängig zu machen.«
Die
beiden letzten Sätze aus der zitierten Einleitung der Ratschläge des BND an
seine Militärspione sollte man sich in aller Ruhe auf der Zunge zergehen lassen.
Hier schiebt der BND den Schwarzen Peter in die Taschen seiner Militärspione.
Wie stand dort geschrieben? Eine Gefahr könne erst eintreten, »wenn Ihnen auf
diesem Gebiet gravierende Fehler unterlaufen«. Im Klartext: Wer sich von der
Staatssicherheit erwischen lässt, ist selber schuld. Dem BND wäre hier mehr
Selbstkritik anzuraten, denn in der Regel war die Entlarvung seiner Spione
nicht das Resultat von deren Fehlern. Eine Enttarnung ging in erster Linie auf
das Konto des BND selbst. Er beging folgenschwere Fehler im Verbindungswesen
zwischen Zentrale und Spion. Hier hakten wir ein und deckten auf. Vor allem
jene Mitarbeiter, die sich mit der geheimen postalischen Verbindung vom Spion
zu seiner Zentrale beschäftigten, leisteten eine hervorragende Arbeit.
Noch
einmal zurück zum Text der BND-Ratschläge.
»Erzählen
Sie niemanden, außer Ihrer Frau, wobei Sie sich diesen Schritt vorher gut
überlegen müssen, von Ihrer geheimen Tätigkeit für uns. Vertrauen Sie es auch
nicht Ihrem besten Freund an, denn er könnte ungewollt Fehler machen, mit denen
er die Aufmerksamkeit anderer auf Sie lenkt. Sie müssen stets unterstellen,
dass sich in Ihrem Bekanntenkreis Personen befinden können, die als Spitzel
verpflichtet sind. Seien Sie daher bei politischen Gesprächen vorsichtig und
halten Sie sich mit Ihren Äußerungen zurück.«
Mir
scheint zumindest bemerkenswert, dass der BND in seinen Verhaltensmerkmalen
festschrieb, seine Spione übten eine geheime Tätigkeit aus. Eine solche geheime
Tätigkeit wird überall auf unserer Erde, als Spionage unter Strafe gestellt.
Trotzdem verzichtet kaum ein Staat auf sie und lässt sich die Arbeit mit ihnen
nicht verbieten.
Ein
anderer klug gemeinter Ratschlag des BND an seine Spione lautete: »Bedenken
Sie, dass über den bisherigen Rahmen gehende Geldausgaben Neugier hervorruft,
die mit Nachforschungen verbunden sein können. Größere Geldbeträge, die Sie von
uns erhalten, zahlen Sie nur in solchen Raten auf der Bank oder Sparkasse ein,
die Sie glaubhaft von Ihrem Verdienst hätten ersparen können. Meiden Sie
Geldausgaben, die mit Ihrem Verdienst nicht in Einklang stehen.« Da in einem Rechtsstaat wie der BRD alles seine Ordnung
hat, wird geheime Tätigkeit für ihn mit hohen Geldbeträgen honoriert.
Offensichtlich gab es keine Skrupel, sich des schnöden Mammons zu bedienen.
Bevor
ich noch ein wenig aus der »BND-Gebrauchsanweisung« zitiere, möchte ich mich
hier zu einem anderen Gedanken äußern. Alles was das MfS dereinst an
Erkenntnissen über westliche Nachrichtendienste – insbesondere über den BND – gewann,
lag in unseren Archiven. Jetzt wachen die »Stasi-Unterlagenverwalter« sorgsam
über diese Akten, damit nichts an die Öffentlichkeit dringt. Was diese Akten
aber über das MfS und seine inoffiziellen Mitarbeiter beinhalten, wird zumeist
mit diffamierenden Begriffen wie »Stasispitzel« über die Medien vermarktet.
Nun
noch zu einem weiteren Ratschlag des BND an seine Spione, der nicht gerade »der
feinen englischen Art« entspricht: »Kommen Sie mit fremden Personen zusammen,
von denen Sie interessante Dinge erfahren können, so vermeiden Sie unbedingt
durch direkte Fragen den Gesprächspartner stutzig zu machen. Versuchen Sie
vielmehr, durch unverfängliche Bemerkungen dem Gespräch die gewünschte Richtung
zu geben. Die anderen reden lassen, selber aber ein aufmerksamer Zuhörer sein.
Das von Ihnen gezeigte Interesse darf niemals den normalen Rahmen überschreiten.«
Der
Bundesnachrichtendienst rüstete seine Spione zur Erledigung der
Spionageaufträge in der Regel mit Codetafeln, Geheimschriftverfahren,
technische Hilfsmittel zum Empfang von Anweisungen und der Übermittlung von
Informationen auf dem Funkweg aus Bezüglich des Umgangs mit diesen Mitteln
besagten die Ratschläge des BND: »Alle Geräte und Unterlagen, die Sie für Ihre
Geheimdienstliche Tätigkeit verwenden, müssen Sie so verstecken, dass sie
sowohl vor Zufallsentdeckungen (Kinder, Verwandtenbesuch, Handwerker) sicher
sind, als auch bei einer gründlichen Durchsuchung Ihrer Wohnung nicht gefunden
werden können. Grundsätzlich dürfen Sie daher die geheimen Unterlagen nur dann
dem Versteck entnehmen, wenn sie gebraucht werden, nach Benutzung müssen sie
sofort wieder ordnungsgemäß versteckt werden.«
Was
die Auftragserteilung an die Spione des BND betraf, so handelte es sich um eine
recht umfangreiche Palette. Aus dieser möchte ich die »Sofortmeldeflicht«
hervorheben, die für alle ehemaligen Militärspione des BND in der DDR als
Hauptaufgabe galt. Dazu hieß es in den Orientierungen des BND: »Ihre Aufgabe
besteht darin, dass Sie uns entsprechend Ihrer jeweiligen Möglichkeiten
sachlich und objektiv berichten. Um Gefahren und Krisenherde rechtzeitig zu
erkennen, ist es von bedeutender Wichtigkeit, dass Sie Anzeichen, die allgemein
nur vor oder während Krisenlagen (Phase der Kriegsvorbereitung, der Verfasser)
auftreten, sofort melden.«
Der
BND gab die Orientierung, dass folgende Probleme als wichtige derartige
Anzeichen zu werten sind: vermehrte, ungewöhnliche Militärbewegungen (Straße,
Schiene); Ein- und Ausrücken der ganzen Truppe; neue Truppen im Objekt;
Einberufung von NVA-Reservisten; Urlaubs- und Ausgangssperre für die NVA und
die Sowjetarmee; Sperrung von Straßen für den zivilen Verkehr; verstärkte
Bewachung von Objekten in denen Dienststellen; Behörden oder
Auslandsvertretungen untergebracht sind; Auftauchen ausländischer Truppen, z.
B. Polen, Tschechen usw.
Bereits
an anderer Stelle machte ich darauf aufmerksam, dass an der Trennlinie zwischen
Kapitalismus und Sozialismus im Herzen Europas ein erbitterter Kampf stattfand.
Hier wird der Beweis dafür angetreten. Dieser Kampf ging auch um den Erhalt
rechtzeitiger Informationen bezüglich der Vorbereitung eines heißen Krieges.
Im
atomaren Zeitalter braucht man nicht darüber zu philosophieren, welche
Bedeutung der Ausschaltung des Überraschungsmoments zukommt. Schon hier könnte
der Ausgang eines künftigen Krieges entschieden werden. Ohne Übertreibung ist
festzustellen, die Ausschaltung des Überraschungsmoments war die Hauptaufgabe
aller nachrichtendienstlichen Quellen auf beiden Seiten der damaligen
Frontlinie.
Zur
Nachrichtenübermittlung von Informationen, die nicht der Sofortmeldepflicht
unterlagen, rüstete der BND seine Spione mit so genannten »vorgefertigten«
Briefen aus. Auf diesen hatte der BND-Spion den verschlüsselten unsichtbaren
Geheimtext aufzubringen. Diese vorgefertigten Briefe stellte man in der BRD
her. Auf konspirativem Weg – meist über so genannte »Tote Briefkästen« –
gelangten sie in die Hände der BND-Spione. Die Benutzung derartiger Briefe für
Spionagezwecke geschah vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass die Handschrift
des Spions verborgen bleibt. Die Briefumschläge trugen als Empfänger
Deckadressen in der BRD und als Absender nutzte der BND Namen und Adressen von
real existierenden Bürgern der DDR. Die Handschrift des in der BRD
angesiedelten Produzenten dieser Briefe stimmte nicht mit der Handschrift des
aus der DDR gewählten Absenders überein.
In
den Fällen, wo wir diesen Umstand erkannten, lieferte uns der BND gewissermaßen
von selbst die Ausgangsinformationen für eine spätere Entlarvung seiner Militärspione.
Zur Verwendung vorgefertigter Briefe zur nachrichtendienstlichen
Informationsübermittlung hieß es in der Anleitung des BND: »Zur Übermittlung
der von Ihnen gewonnenen Erkenntnisse und Berichte verwenden Sie bitte
ausschließlich die von uns erhaltenen Briefe. Auf keinen Fall dürfen Sie auf
anderen Briefen einen Geheimtext (G-Text) aufbringen. Auch dann nicht, wenn Sie
keine vorgeschriebenen Briefe mehr zur Verfügung haben sollten. Wir werden uns
stets bemühen, Sie rechtzeitig mit Nachschub zu versorgen. Ihre Mitteilungen
müssen grundsätzlich verschlüsselt sein. Auch wenn das Verschlüsseln Zeit in
Anspruch nimmt, müssen wir auf dieser Methode bestehen …«
Wenn
es dem MfS trotz dieser Sicherheitsvorkehrungen gelang, in die konspirative
Arbeitsweise des BND einzudringen, dann, weil auf unserer Seite kluge
Mitarbeiter am Werke waren. Woher nahm sich der BND das Recht, seine
Spionagebriefe mit Absendern real existierender DDR-Bürger zu versehen?
Immerhin setzte er diese damit der Gefahr aus, unter Spionageverdacht zu
geraten. Was würde wohl geschehen, wenn auf diese Art missbrauchte DDR- Bürger
gegen den BND Anzeige erstatten? Der BND hätte sicher damit keine Probleme,
denn ein für den BND zuständiger Staatsminister erklärte einst: »Wie wir ohne
bestimmtes Feindbild eine Bundeswehr unterhalten, brauchen wir unsere
Nachrichtendienste. Zu wissen, was ein anderer Staat kann und macht oder machen
will, ist das legitime Interesse eines auf seine Sicherheit und die Erhaltung
des Friedens bedachten Staates. Die Nachrichtendienste eines Staates sind
Ausdruck seiner Souveränität.«
Diesen
Ausführungen wäre nichts hinzuzufügen, wenn das für die Nachrichtendienste des
souveränen Staates DDR gleichfalls als legitimes Recht anerkannt wird. Nach
meinem Wissen gibt es noch Länder auf dieser Erde, wo eine inoffizielle
nachrichtendienstliche Arbeit hoch geschätzt wird. Beispielsweise gab es
englische Spione, die für ihre Tätigkeit geadelt wurden.
In
einer englischen Fernsehsendung fragte man einen englischen Wissenschaftler, welchen
Beruf er ergriffen hätte, falls er kein Wissenschaftler geworden wäre. Er
erwiderte: »Dann wäre ich ein Spion für die englische Krone und könnte mich der
Anerkennung selbiger erfreuen.«
Aus der KD
Altenburg zur Bearbeitung von Spionagezentren der US-Geheimdienste
Von
Klaus Eichner
Jahrgang
1939; Diplomjurist; MfS/AfNS/Auslandsaufklärung der
DDR 1959 -1990; Oberst a. D.; zuletzt Leiter des Bereiches C der Abteilung IX
der HV A
Altenburg:
Auf der Suche nach Spionen
Ich
hatte 1959 die Zweijahresausbildung in Potsdam-Eiche (3. Hochschullehrgang)
absolviert und war auf die Kreisdienststelle meiner Heimatstadt Altenburg
versetzt worden. Dort wurde ich der Arbeitsgruppe Spionageabwehr (Linie II)
zugeteilt.
Für
den Kreis Altenburg waren die Schwerpunkte der Spionageabwehr zwei Objekte der
Roten Armee: Eine großräumige Kasernenanlage am Stadtrand zu beiden Seiten der
Fernverkehrsstraße nach Leipzig und ein Flugplatz am Rande eines größeren
Waldgebietes (Leinawald) südlich der Stadt. Anfang
der 60er Jahre unternahm die Spionageabwehr des Bezirkes Leipzig verschiedene
Versuche, die Identifizierung von Spionen an militärischen Objekten mit
größerer Effektivität zu gestalten.
Den
Planungen lagen folgende Aussagen festgenommener Agenten zugrunde: Jeder
Militärspion hatte ein bis zwei feststehende Objekte von außen zu
kontrollieren. Dazu musste er in Abständen von ca. vier Wochen das Objekt
aufsuchen und evtl. bauliche Veränderungen, Hinweise auf veränderte Belegungen
und aktuelle Aktivitäten am und im Objekt aufnehmen und an die Zentrale
berichten. Der dazu notwendige Aufenthalt in unmittelbarer Nähe des Objektes
war einer der neuralgischen Punkte für den Spion.
Anschließend
musste der Agent eine Information – in der Regel mittels eines vom Geheimdienst
vorgefertigten Tarnbriefes – im Geheimschriftverfahren an die Zentrale
abschicken. D. h. er musste nach der Kontrolle des Objektes in ca. 24 Stunden
einen Post-Briefkasten aufsuchen und den Brief einwerfen. Auf diesen
Kenntnissen gründete sich die Planung unserer Abwehrmaßnahmen: Feststellung und
Dokumentierung von Personen am Objekt, Identifizierung der Person durch
Beobachtung bis zum Wohnsitz, kurzfristige Aufklärung der Person und
Observation in den nächsten 24 bis 48 Stunden.
In
der Theorie klang das alles sehr schlüssig und Erfolg versprechend – aber die
Praxis sah doch etwas anders aus. In Abstimmung mit der sowjetischen
Militärabwehr organisierten wir in Altenburg entsprechende Kontrollmaßnahmen an
der Kaserne am Ortsausgang. Eine Wohnung am Rande der Kaserne mit günstigem
Blick zur Fernverkehrsstraße wurde unser Stützpunkt und der Standort einer
Fotokamera. Alle bedeutsamen Feststellungen wurden in einem Tagebuch
festgehalten. Die ständige Kontrolle während der Tageszeit und die Bereitschaft
mehrerer Gruppen zum Einsatz als Beobachter stellten uns vor große personelle
Probleme.
In
Absprachen mit den Leitern des Volkpolizeikreisamtes und des Amtes der
Transportpolizei in Altenburg vereinbarten wir, dass diese mehrere junge Kräfte
zum Einsatz für uns abkommandierten – natürlich unter entsprechender Legendierung. Nach kurzer Zeit hatten wir eine effektiv
arbeitende Einsatzgruppe vor Ort. Aber greifbare Ergebnisse blieben aus. Nur
eine von uns überprüfte Verdachtsperson verhielt sich so am Objekt, wie wir uns
das Verhalten eines Spions vorstellten. Die Überprüfung ergab aber, dass diese
Person für einen leitenden Mitarbeiter der Spionageabwehr erfasst war, der in
Abstimmung mit seinem Führungsoffizier seinen Kontrollauftrag des
Geheimdienstes an der Kaserne erfüllte.
Über
längere Zeit beschäftigte uns ein Rentnerehepaar aus Altenburg. Sie kamen fast
täglich mit einem Handwagen an der Kaserne vorbei und fuhren zu einer
Mülldeponie am Ortsausgang. Dort entsorgte auch die Sowjetarmee ihren Müll. Nun
war uns bekannt, dass Militärspione auch den Auftrag hatten, Müllhalden in der
Nähe der Objekte nach Schriftmaterial zu durchsuchen. Das war schon der zweite
Verdachtspunkt. Bei visuellen Kontrollen konnten wir im Handwagen der beiden
Alten aber nur Altstoffe (Flaschen, Schrott etc.) feststellen. Wir
organisierten eine sehr intensive Kontrolle des Rentnerehepaares – aber sie
gingen nie zu einem Briefkasten, es gab auch keine anderen Hinweise auf eine
mögliche Spionagetätigkeit. Das einzige greifbare Ergebnis war: sie hatten mit
den Altstoffen ein beträchtliches Vermögen gesammelt, zwei oder drei Häuser
waren ihr Eigentum.
Dann
bekamen wir einen Hinweis aus der Festnahme eines Spions in Karl-Marx-Stadt:
Der Agent hatte von seiner Zentrale als zeitweiliges Kontrollobjekt die Kaserne
in Altenburg zugewiesen bekommen. Als er das erste Mal dort ankam, war ihm
klar, dass er sich dort wie auf dem Präsentierteller bewegte – also auffallen
musste. Seine Überprüfungen ergaben, dass eine Omnibuslinie von Altenburg aus
an der Kaserne vorbei in den Landkreis führte. Vom Bus aus konnte man außerdem
weitaus besser in das Objekt Einsicht nehmen als zu Fuß an der Umfassungsmauer
entlang. Der Spion fuhr also mit dem Bus inmitten von Einwohnern der
umliegenden Orte oder auch gelegentlicher Touristen (einige Kilometer entfernt
war ein Stausee) an unserem Objekt vorbei. Das erforderte von uns ganz andere
Reaktionen. Wir gliederten eine Gruppe aus unseren Einsatzkräften aus, die
regelmäßig mit dem Omnibus fahren durften. Aber wie verhält sich ein Spion, der
sein Kontrollobjekt in einem Omnibus besucht? Nach normaler Logik müsste er an
einigen Haltestellen hinter der Kaserne aussteigen, aber kein Ziel ansteuern
und eventuell den oder einen der nächsten Omnibusse für die Rückfahrt zu
nehmen. Wenn er klug ist, fährt er einige Haltestellen weiter und steigt nicht
gleich hinter der Kaserne aus. Unsere Beobachter mussten sich also oft
unterwegs auf mehrere Verdachtspersonen aufteilen. Dieser zusätzliche Aufwand
brachte uns auch keine Erfolge. Entweder hatte der Spion aus Karl-Marx-Stadt
nur ganz allein diese zündende Idee oder unsere Selektionskriterien reichten
nicht aus, um die richtigen Verdachtspersonen herauszufiltern.
Einige
Zeit später versuchten wir eine ähnliche Aktion zur Absicherung des
Flugplatzes. In unmittelbarer Nähe des Flugplatzes befand sich ein Altersheim,
in dem viele Parteiveteranen der SED untergebracht waren. Zuerst einmal ging es
uns um eine spezielle Orientierung der Insassen auf erhöhte Aufmerksamkeit im
Verlauf ihrer Spaziergänge. Dazu beriefen wir eine Versammlung der Heimbewohner
ein, auf der wir über die Bedeutung des Flugplatzes für die Sicherung der DDR,
über die Aktivitäten der Geheimdienste und das Verhalten von Spionen vor Ort
informierten. Gemeinsam mit der Heimleitung wählten wir eine Gruppe rüstiger
und zuverlässiger Rentner aus, die wir in einem vorbereiteten
Kontrollstützpunkt einsetzen wollten. Dazu hatte uns die Forstwirtschaft einen
Bauwagen an einer von uns ausgewählten Kreuzung hingestellt, von wo aus
mögliche Annäherungswege an den Waldrand mit Einsichtmöglichkeiten
auf den Flugplatz kontrolliert werden konnten.
Die
Besatzung des Bauwagens war ebenfalls mit Fototechnik ausgerüstet und einige
rüstige Rentner konnten zur Observation von Verdachtspersonen eingesetzt werden.
Natürlich war das alles nur auf einige ausgewählte Schwerpunkte konzentriert.
Eine umfassende Absicherung war mit diesen Mitteln nicht möglich. Aber auch
hier ging uns kein Spion in das Netz.
Mehr
Erfolg hatten wir einige Jahre zuvor mit einem unserer IM, der als Taxifahrer
tätig war. Zu ihm stieg eines Tages am Bahnhof Altenburg ein Reisender, der
sich zu einem Ort in der Nähe des Flugplatzes fahren ließ. Er hatte eine
Angelausrüstung dabei, wie er sagte, um dort zu fischen. Nun war der IM mit der
Gegend vertraut und wusste, dass es dort weit und breit kein Angelgewässer gab.
Und dazu war der Mann eigens mit der Bahn und nun mit dem Taxi unterwegs?
Entsprechend unserer Instruktionen blieb der IM in Kontakt mit dem Reisenden,
der schon bald als Werber und Kurier des militärischen Geheimdienstes der USA
identifiziert werden konnte.
Manchmal
half auch der »Genosse Zufall«. Kurz nach dem 13. August 1961 informierte mich
ein ABV, zu dessen Abschnitt auch eine Kaserne der Sowjetarmee gehörte. In
einem Wäldchen in der Nähe hatten spielende Kinder ein Heft gefunden, in welchem Fahrzeugbewegungen aus und zur Kaserne notiert
worden waren, die Typen der Militärfahrzeuge, Kennzeichen und andere Details.
Auf der Rückseite des Heftes hatte der »Autor« ein Kündigungsschreiben an den
Kreisbaubetrieb Altenburg entworfen und sogar mit seinem Namen unterzeichnet.
Unsere Ermittlungen im Betrieb ergaben, dass der Mann wenige Tage vor der
Schließung der Grenze die DDR verlassen hatte.
Aus
den vorliegenden Unterlagen stellten wir Angaben zu einem Fahndungsvorgang
wegen erwiesener Spionagetätigkeit zusammen. Als ich beim Pass- und Meldewesen
des VPKA den Antrag des Geflüchteten für den Personalausweis mit Passbild
anforderte, erinnerte sich die Leiterin, dass wegen jenes Mannes unlängst eine
Anfrage des Präsidiums der Volkspolizei Berlin bei ihr eingegangen sei. Der
Mann war kurz nach den Grenzmaßnahmen noch einmal in die DDR-Hauptstadt zum
Zweck der »Familienzusammenführung« eingereist und dabei von den Grenzern als
Republikflüchtling festgenommen worden. Da wir nun den Vorwurf der Spionage
erhoben, wurde er in die U-Haft von Berlin nach Leipzig überstellt. Die
Untersuchungen ergaben, dass er für den französischen Geheimdienst spioniert
hatte. Wohl selten konnte mit nur wenigen administrativen Überprüfungen wie
hier ein Spionagevorgang erfolgreich abgeschlossen werden.
Als
Spezialist für die Analyse der Entwicklung
und
Tätigkeit der US-Geheimdienste
Nachdem
ich in der Kreisdienststelle in Altenburg erste Erfahrungen in der Spionageabwehr
gesammelt hatte, kam ich einige Jahre später zur Hauptverwaltung Aufklärung und
wurde dort Mitarbeiter der neu gebildeten Abteilung IX (Gegenspionage/Äußere
Abwehr). Dort qualifizierte ich mich zum Spezialisten für die Analyse der
Entwicklung und Tätigkeit der US-amerikanischen Geheimdienste. Das brachte es
mit sich, dass ich neben der Auswertung von Dokumenten aus den
US-Geheimdiensten relativ eng in die direkte Zusammenarbeit mit den dort
platzierten Quellen einbezogen wurde.
Im
Verlauf weniger Jahre erhielten wir einen tiefen Einblick in die Strukturen,
Aufgabenstellungen, Ausrüstungen und perspektivische Entwicklung der
Geheimdienste der fernmelde-/elektronischen Aufklärung der Vereinigten Staaten.
Das betraf sowohl den zentralen Geheimdienste National Security Agency (NSA) als auch die entsprechenden
Gliederungen in den Teilstreitkräften der USA. Mitte der 80er Jahre beschafften
Quellen der Hauptverwaltung Aufklärung geheime Dokumente, die heute jedem
Whistleblower zur Ehre gereichen würden.
Eine
zentrale Aufgabenstellung für die Äußere Abwehr des MfS war die Aufklärung des
Objektes Teufelsberg in Berlin-Grunewald. Dieses Objekt konnte man zwar von
einigen Standorten in Ostberlin aus sehen, aber niemand wusste, was sich hinter
den Verkleidungen der Radome, die wie riesige
Golfbälle aufragten, verbarg.
Einige
Zeit später konnten wir dokumentarisch belegen, dass die Field Station Berlin (FSB), so die interne Bezeichnung, auf dem Teufelsberg in Westberlin zu den
bedeutendsten Stationen der fernmelde-/elektronischen Spionage der
USA-Geheimdienste in Europa gehörte. Die logistische Verantwortung für die
Station Teufelsberg hatte der Geheimdienst der US-Landstreitkräfte Intelligence and Security
Command (INSCOM), aber die operativ-fachliche Führung erfolgte durch
Vertreter der NSA.
Die
NSA hatte eine Außenstelle ihrer Europavertretung direkt im Objekt mit einem
Personalbestand von ca. zwölf Mitarbeitern eingerichtet. Vom Teufelsberg aus
bestanden mehrere Direktkanäle für die Übermittlung von aufgefangenen
Funkverkehren unmittelbar in das NSA-Hauptquartier in Fort George
Mead/Maryland. Das betraf insbesondere bedeutsame Nachrichtenlinien der DDR und
der Sowjetarmee, zu denen Interesse bestand, mit Hilfe der
Hochleistungs-Computer der NSA-Zentrale eine Dechiffrierung zu versuchen.
Zusätzlich
zu den laufenden Programmen übermittelte die NSA-Zentrale täglich spezielle
Aufklärungsforderungen an die FSB. Das konnten sowohl spezielle Inhalte sein,
die zusätzlich in die Selektions- und Auswertungscomputer eingespeist wurden
oder auch besondere Erfassungsziele für die Peilanlagen.
Die
Funktion der Station Teufelsberg wurde begünstigt durch die geographische Lage
des 115 m hohen Trümmerberges im Grunewald und durch das physikalische Umfeld
mit nach Aussagen der Experten besonders günstigen Ausbreitungsbedingungen für
elektromagnetische Wellen.
Im
Zusammenwirken mit den Anlagen des Geheimdienstes der US-Luftwaffe (Electronic Security Command – ESC) in
Berlin-Marienfelde waren damit die US-Geheimdienste in der Lage, von Westberlin
aus Erfassungen von elektronischen Abstrahlungen z. B. von Waffen- und
Waffenleitsystemen, von Funkverkehren unterschiedlicher Reichweite bis in
Tiefen von 600 Kilometer in die osteuropäischen Staaten vorzunehmen. Außerdem
wurden von diesen Objekten aus spezielle Funk-Fernverbindungen (die Fachleute
nennen sie Troposcatter-Verbindungen = Funkverkehre
unter Nutzung der stratosphärischen Streustrahlungen), mit deren Hilfe z. B.
die Kommunikation mit dem Hauptquartier des Warschauer Vertrages und dem
Generalstab der sowjetischen Streitkräfte aufrechterhalten wurde, sowie die
sowjetischen Satellitenfunkverbindungen erfasst und ausgewertet.
Auf
dem Teufelsberg waren neben den INSCOM-Einheiten weiterhin Elemente der
Luftwaffenaufklärung1 sowie Einheiten der britischen fernmelde-/elektronischen
Aufklärung2 ständig im Einsatz.
Diese
Einheiten unterhielten auf dem Teufelsberg eigenständige Erfassungs- und
Auswertungsplätze und waren darüber hinaus für die Koordinierung der
Aktivitäten zwischen den von ihnen vertretenen Diensten zuständig.
Im
Jahre 1986 hatte der Geheimdienst INSCOM ein mittelfristiges
Modernisierungsprogramm der Station bis in die Jahre 1995 beschlossen. Das
Programm enthielt Maßnahmen zur Modernisierung der Peil- und Empfangstechnik,
zum kurzfristigen und ständigen Austausch veralteter Computeranlagen für die
Erfassung, Auswertung und Datenübertragung sowie zur generellen Modernisierung
der Arbeitsplätze. Jährlich waren im Rahmen dieses Programms allein für die
Modernisierung dieses einen Objektes zwischen 15 und 60 Millionen Dollar
vorgesehen.
Im
Zusammenhang mit der Auflösung des Objektes ab August 1992 wurde in den Medien
auch bekannt, dass die Bundesregierung für den Aufbau der FSB 300 Millionen DM
Steuergelder den Amerikanern zugeschossen hat.3
Im
Objekt Teufelsberg wurden als ständige Aufgaben u. a. folgende
Spionageprogramme gegen DDR-Einrichtungen rund um die Uhr realisiert: Erfassung
des Richtfunkverkehrs der SED (Deckbezeichnung: KOMMISSAR); Erfassung der
Richtfunkverkehre der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA
(Deckbezeichnung: THORNBUSH); Erfassung der Funkverkehre des MfS, besonders
auch des nachrichtendienstlichen Führungsfunks (Deckbezeichnung: ODDMAN).
Darüber
hinaus wurden alle offenen Nachrichtenverbindungen der DDR aufgezeichnet und
ausgewertet, u. a. die täglichen Lageinformationen der SED-Gliederungen an das
ZK der SED, die veraltete Richtfunkstrecken in der DDR nutzten. Diese, auch der
SED-Führung als nicht abhörsicher bekannten Richtfunkverbindungen, hatte der
zuständige ZK-Sekretär Günter Mittag zur ständigen Kommunikation mit den
wirtschaftsleitenden Organen der DDR, insbesondere den Generaldirektoren der
Kombinate, okkupiert. Wer Vorstellungen hat über die Anforderungen Mittags an
seine »Untergebenen« und von seinem fast stündlichen konkreten
Informationsbedarf rund um die Uhr, der wird bestätigen können, dass damit
ständig ein tagesfertiges Bild der wirtschaftlichen Lage der DDR für die
US-Geheimdienste zugänglich war.
Obwohl
naturgemäß die DDR-Aufklärung vorrangig die ostwärts gerichteten Aktivitäten
der FSB im Visier hatte, war offensichtlich, dass nicht wenige Ressourcen der
Station Teufelsberg auch westwärts gerichtet waren. Das betraf sowohl das
direkte Umfeld in Berlin (West) und in der BRD als auch weitere Aktivitäten
gegen NATO-Partner. Die Amerikaner haben sich doch solche günstigen Bedingungen
noch nie entgehen lassen!
Zumindest
ein Teil der Auswertungsergebnisse der FSB wurde in den letzten Jahren im
Direktverbund an eine NATO-Führungsstelle in Börfink
in der Westpfalz weitergeleitet. Die Personalstärke der FSB betrug rund 1.000
Mitarbeiter, davon 230 im Schichtdienst. Ein Teil leistete seinen Wehrdienst
ab, insbesondere im technischen und logistischen Bereich. Kern des Personals
waren jedoch länger dienende Militärangehörige, besonders mit Sprachkenntnissen
in Russisch, Polnisch, Tschechisch und natürlich in Deutsch.
Woher
hatten wir diese internen Kenntnisse?
Das
Team BLITZ und PAUL
Die
Abteilung IX der HV A arbeitete in Westberlin mit einem inoffiziellen
Mitarbeiter türkischer Nationalität zusammen, der als Zivilangestellter bei den
amerikanischen Streitkräften im Auto Craft Shop
beschäftigt war und dort als Kfz-Meister eine allseits anerkannte,
qualifizierte berufliche Arbeit leistete. BLITZ, so sein Deckname in der HV A,
war aber auch ein Agent in einer Position, wie man ihn sich nicht besser hätte
vorstellen können. Zu ihm kamen fast alle Angehörigen der amerikanischen
Dienststellen (wer hatte schon von ihnen kein Auto!), einschließlich aller
Geheimdienstorgane. Er besaß Möglichkeiten, sich innerhalb der US-Objekte in
Berlin zu bewegen und lernte so mit der Zeit immer mehr Mitarbeiter der
unterschiedlichen amerikanischen Dienststellen kennen, die ihn als anerkannten
Kfz-Spezialisten wiederum an andere vermittelten.
Da
er von uns erfolgsorientiert bezahlt wurde, erledigte er seine »Aufträge« mit
Engagement und Findigkeit. Einen Fehler hatte er jedoch, er war zu sprunghaft
aktiv. Die Richtlinien und das Verständnis einiger Vorgesetzter in der HV A für
die Gestaltung operativer Beziehungen gingen immer von klaren Verhältnissen
zwischen IM und Führungsoffizier aus, auch von einer klaren Unterordnung des IM
unter die Aufträge und Verhaltensinstruktionen. Und nun dieser BLITZ immer mit
seinen »Blitzaktionen«, unklaren Angaben über die Beziehungspartner und geheimnisvollen
Andeutungen. Die Eskapaden von BLITZ brachten die ganze schöne Theorie
durcheinander, und nicht jeder Vorgesetzte konnte dafür Verständnis aufbringen.
Einen
Glückstreffer in den häufigen, aber bis dahin immer erfolglosen Versuchen von
BLITZ, der HV A einen amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter zur Werbung
zuzuführen, landete BLITZ mit dem Mitarbeiter des US-Geheimdienstes INSCOM,
James W. Hall III. Hall arbeitete, damals noch im Unteroffiziersdienstgrad, auf
dem Teufelsberg. Er war ein ausgezeichneter Analytiker und hatte innerhalb
seiner Einheit einen guten Ruf. Hall suchte nach Möglichkeiten, seine
finanzielle Situation zu verbessern. Ihm schwebte vor, sich innerhalb einer überschaubaren
Zeit ein solches finanzielles Polster zu verschaffen, das ihm einen
sorgenfreien Lebensabend in den Staaten garantieren könnte. Außerdem brauchte
er gerade aktuell viel Geld, um seinen Flugschein zu finanzieren (ein
finanziell sehr anspruchsvolles Hobby). Dafür waren ihm – der
marktwirtschaftlichen Erziehung sei Dank – viele Mittel recht, wenn er nur
selbst das Risiko bestimmen konnte. BLITZ wiederum spürte mit seinem
untrüglichen Sinn für Geschäfte, das sich ihm hier die große Chance bot, an diesem
»Geschäft« auch sehr gut zu verdienen, und stürzte sich mit Feuereifer in diese
Angelegenheit. Und Hall brachte die ersten Materialien aus der Field Station.
Eines der ersten Dokumente war das NATO-Dokument Allied Communications Publication (ACP)
mit der Darstellung der Kommunikationslinien zwischen den weltweiten
Erfassungs- und Verarbeitungsstationen der fernmelde-/elektronischen Aufklärung
der Intelligence Community der Vereinigten Staaten
unter der Ägide der NSA. Im Dokument wurden alle Erfassungseinheiten in allen
Ländern mit ihren Standorten und Bezeichnungen aufgeführt und deren technischen
Verbindungslinien verdeutlicht. Erstmalig konnten wir nun alle ELOKA-relevanten
Standorte in der BRD und in Westberlin identifizieren und ihre Grundfunktion darstellen.
So ein Dokument hatte es im MfS noch nicht gegeben. Wir waren fasziniert, nicht
nur über dieses Dokument an sich, sondern vielmehr auch durch die sich nunmehr
abzeichnenden Möglichkeiten aus diesem Vorgang.
Die
Arbeit mit der neuen Quelle verlief außerordentlich erfolgreich. Der
amerikanische Publizist Peter Wyden erwähnt in einer
Fußnote seines Buches WALL den
Vorgang Hall und verweist darauf, dass ähnlich wie beim Alt-Glienicker
Spionage-Tunnel die Wirksamkeit der Station Teufelsberg durch die Arbeit von
James W. Hall III mit der Übermittlung von Geheimnissen der elektronischen
Spionage zumindest eingeschränkt war. Nach Wydens
Angaben hat ein Programm, das Hall uns übergeben hat, den USA Hunderte von
Millionen Dollar gekostet.4
In
der Zwischenzeit hatten wir dem Vorgang den Decknamen PAUL gegeben. Zwischen
BLITZ und HALL kam es zu einer ausgezeichneten Zusammenarbeit. Alles, was HALL
nicht im Original liefern konnte, nahm er zum Feierabend aus dem Objekt mit
nach Hause und übergab es BLITZ, der alles kopierte und dann die Unterlagen
wieder an HALL zurückgab. BLITZ ging dabei recht locker und unbedarft heran. Er
ging mit den streng geheimen Unterlagen, die mit den höchsten
Sicherheitseinstufungen bedacht waren, in große Kaufhäuser und zog sie dort über
öffentlich zugängliche und nutzbare Kopierer. Eine völlig ungewöhnliche, dafür
aber sichere Methode, denn so verrückt konnte man gar nicht denken.
BLITZ
machte sich über all die Jahre der Zusammenarbeit mit HALL und der HV A keine
Sorgen um seine Sicherheit. Er arbeitete unorthodox und mit einer
Selbstsicherheit, die unseren operativen Mitstreitern mehr als nur einmal den
Schweiß auf die Stirn trieben und den Schauer über den Rücken laufen ließen.
BLITZ tat eben alles irgendwie anders als man es von einem konspirativ tätigen
Verbindungsmann erwartete.
Die
Einsatzzeit von PAUL auf der Field Station in Berlin ging dem Ende entgegen.
Für uns war es wichtig zu erfahren, wohin er zu seinem nächsten Einsatz
kommandiert würde. Nach einem kurzen Intermezzo in einer für uns nicht
bedeutsamen Einheit in den USA bewarb sich HALL um einen Posten beim 533th
Military Intelligence Bataillon (533th MIBn) in Frankfurt. Unter Nutzung seiner guten
Arbeitsergebnisse in der Field Station und unter Beibringung entsprechender Referenzen
seiner Vorgesetzten konnte er seine Stationierung in Frankfurt erreichen.
Da
es sich bei dem 533th. MIBn um eine zentrale
Auswertungseinheit für die Fernmelde/Elektronische Spionage im europäischen
Einsatzraum handelte, erweiterten sich aber nun die Möglichkeiten der
Informationsbeschaffung von PAUL. Wir kamen jetzt an mehr und interessantere
Unterlagen und Dokumente heran als in der Zeit an der Field Station Berlin.
Unsere
Quelle war auch deshalb so erfolgreich, weil neben seiner persönlichen Pfiffigkeit
die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen in allen von HALL frequentierten
Objekten lasch war und diese erfolgreich umgangen werden konnten.
Für
den unmittelbaren Transport der Dokumente aus seinem Dienstzimmer bis zu BLITZ
erbat HALL von uns lediglich eine zu einem Container umgebaute Sporttasche, wie
sie fast jeder amerikanische Soldat mit sich herumschleppte. Das Versteck,
welches die Sporttasche zum Container umfunktionierte, musste aber nach seinen
Forderungen ein entsprechendes Volumen aufweisen, um die oft umfangreichen
Dokumentensendungen aufnehmen zu können. In der Tasche dann einige verschwitzte
Sportsachen und fertig war die perfekte geheimdienstliche Tarnung, wesentlich
weniger spektakulär als bei 007!
Während
seiner Stationierung in Frankfurt übernahm BLITZ weiterhin die Betreuung von
PAUL. Er war als Instrukteur und Kurier tätig. Natürlich war diese Aufgabe mit
Risiken verbunden, aber auch hier ging BLITZ mit einer Kaltschnäuzigkeit zu
Werke, die selbst gestandene Geheimdienstmitarbeiter verblüffte. BLITZ übernahm
von HALL umfangreiche Geheimdienstdokumente und deponierte sie auf dem
Beifahrersitz seines Autos. Darüber legte er ein paar unverfängliche Dinge
(Zeitungen, Zeitschriften usw.) und transportierte die Unterlagen aus Frankfurt
über die Transitstrecken nach Berlin(West), wo sie dann von uns in Empfang
genommen wurden. Nie ist etwas passiert und es hat keine Pannen gegeben.
Um
zu verdeutlichen, um was für ein Unikum es sich bei BLITZ handelte, soll eine
Anekdote nicht unerwähnt bleiben. BLITZ hatte durch seine Tätigkeit im Fuhrpark
der amerikanischen Streitkräfte in Westberlin auch Kontakt zu den
Abwehrmitarbeitern des 766th MI Detachment bekommen.
Diese Kontakte baute er Stück für Stück weiter aus. Seine Freundschaft mit dem
Leutnant Armado Parade hat ihn einige Zeit auch gut
geschützt. Besonders gut stand er mit dem damaligen Commander LtCol. Paul Herrington. BLITZ war
sogar so verrückt, mit einem Taschenrecorder Herrington
zu Hause aufzusuchen und mit ihm Diskussionen und persönliche Gespräche zu
führen. Im Halbstundenrhythmus ist er dann auf Toilette gerannt, um das Band
umzudrehen bzw. zu wechseln. Diese Aktivitäten waren natürlich nicht in unserem
Interesse, zumal der Informationswert solcher Gespräche relativ gering ist. Aber
es ging alles gut, BLITZ stellte auf unsere Forderung hin diese Art der
Informationsbeschaffung ein und beschränkte sich auf die von uns vorgegebenen
Aufgaben. Herrington war in dieser Hinsicht jedoch
nachtragender. Als altgedienter Mitarbeiter der Gegenspionage (u. a. mit
Kriegseinsätzen in Vietnam) war er wütend, so hereingelegt worden zu sein. Als
sich nach der Enttarnung von BLITZ die Möglichkeiten boten als Zeuge im
Gerichtsverfahren gegen BLITZ zurückzuschlagen, nutzte er diese Gelegenheit
gründlich aus.
Die
Stationierung von HALL in Frankfurt boten dem Vorgang natürlich völlig neue
Möglichkeiten. Das Angebot an Dokumenten, die PAUL nun »besorgen« konnte, war
enorm gewachsen. Auf unsere Bitte hin gab er uns einen Überblick, über die zur
Auswahl stehenden Unterlagen. Natürlich bestand keine Frage, dass wir sie alle
haben wollten, einigen mussten wir uns nur über die Frage der zu realisierenden
Reihenfolge und der Bezahlung. Selbstverständlich kann auch ein HALL nicht
einfach beim Geheimdienst an den Tresor oder an das Regal gehen und das eine
oder andere Dokument herausnehmen. Es mussten immer günstige Umstände und
Situationen abgepasst werden, die nach außen hin den Schein wahren und keinen
Verdacht wecken sollten. Er schaffte es, selbst Dokumente, deren Ausleihe nur
über eine EDV-gestützte Bestätigung und Nachweisführung möglich war, zu
beschaffen.
Auf
unsere Fragen nach dem Wie gab er ausweichende Antworten, verwies darauf, dass
man nur mit Geduld die richtige Gelegenheit abwarten musste.
BLITZ
hatte in unserem Auftrag in Frankfurt am Main eine kleine Wohnung gemietet und
einen Tischkopierer angeschafft. Dort arbeitete er viele Stunden, um die von
PAUL beschafften Dokumente zu kopieren. Sie hatten ein perfektes System der
Dokumentenübergabe entwickelt. PAUL kam mit seiner Sporttasche in einen
PX-Laden, dort übernahm BLITZ die Tasche und brachte die Dokumente in die
Wohnung. Nach Dienstschluss kam auch PAUL in die Wohnung zur Unterstützung der
Kopierarbeiten. Zur Beschleunigung des Kopierverfahrens hatten sie die
Abdeckplatte des Kopierers entfernt und mussten nun mit Sonnenbrillen arbeiten.
PAULs
Einsatzzeit in Frankfurt näherte sich dem Ende. Es waren keine Chancen in
Sicht, für den europäischen Handlungsraum eine erneute Stationierung zu
bekommen. Trotz Bemühungen seinerseits wurde ihm in Anerkennung seiner guten
Leistungen und im Zusammenhang mit seiner weiteren Qualifizierung und
Beförderung ein Einsatzort in den Vereinigten Staaten zuerkannt. Das stellte
die Anforderungen an das Verbindungssystem zu PAUL vor unüberwindliche
Schwierigkeiten. Die Leitung der HV A entschied, dass wir nicht in den USA
operieren werden. Andererseits sollte für alle Fälle, z. B. bei Aufenthalten
von PAUL in Europa, ein persönliches Verbindungssystem funktionssicher bereitstehen.
Ende
1987 hatte der Bereich IX/A der HV A die Zusammenarbeit mit BLITZ eingestellt,
ihn in Ehren verabschiedet, da er in die Vereinigten Staaten übersiedeln
wollte. Als Instrukteur für alle Fälle zur evtl. Betreuung von PAUL wählten die
operativ zuständigen Mitarbeiter einen erfahrenen IM mit ausgezeichneten
Sprachkenntnissen aus, einen Hochschullehrer an der Humboldt-Universität zu
Berlin. Manfred S. trug den Decknamen »Hagen«, bezogen auf seinen Herkunftsort
Hagen/Westfalen. Hätten wir an der Hochschule des MfS auch eine Ausbildung in
den »Deutschen Heldensagen« gehabt, wäre uns evtl. aufgefallen, dass dieser
Deckname auch »nomen est omen« für Verrat am Freunde, für Heimtücke und Niedertracht
sein könnte. Aber wir vertrauten diesem »Hagen« und er erhielt stückweise
Kenntnis vom Vorgang PAUL, nahm selbst an einem Treff in Ostberlin teil.
Wie
später durch authentische Informationen belegt werden konnte, war »Hagen« ein
klassischer Doppelagent. Er war in den 80er Jahren für Kontaktaufnahmen in
Westberlin unter Nutzung seiner perfekten englischen Sprachkenntnisse
eingesetzt gewesen. Dort beging er ca. 1986 einen primitiven Diebstahl in einem
Kaufhaus und wurde dabei gestellt.5 Der Vorgang landete auf dem Tisch eines
Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz, der eine Telefoneintragung
im Kalender von »Hagen« als amerikanische Linie der HV A identifizierte und das
Material direkt seinem Kontaktpartner beim amerikanischen Geheimdienst zuschob.
So wurde »Hagen« Doppelagent der Amerikaner. Hätte jener Mitarbeiter des LfV seine Dienstvorschriften eingehalten, den Vorgang an
das BfV in Köln gemeldet und nicht eigenständige
Bündnispolitik betrieben, dann wären wir dank Klaus Kuron6 rechtzeitig zu der
Information über »Hagens« wahre Haltung gekommen. So aber nahm das Verhängnis
seinen Lauf.
Im
Dezember 1988 schlug dann die Spionageabwehr der USA zu. Sie hatten durch einen
Komplex illegaler Maßnahmen und Provokationen genügend Beweise
zusammengetragen, um beide verhaften und anklagen zu können. »Paul« wurde von
einem Militärgericht zu 40 Jahren Haft verurteilt; BLITZ erhielt vor einem
Zivilgericht das Urteil lebenslange Haft ohne Möglichkeiten einer Bewährung.
Durch
den couragierten Einsatz eines amerikanischen Anwalts gelang es, eine
Überstellung von BLITZ in seine Heimat Türkei zu erreichen. Trotz der Forderung
der USA, BLITZ weiterhin lebenslänglich in der Türkei zu inhaftieren, war er am
nächsten Tag frei und konnte danach zu seiner Familie nach Berlin ausreisen.
James
Hall verbüßte 23 Jahre Haft in einem Militärgefängnis in den USA und wurde dann
im September 2011 »vorzeitig« entlassen. Er arbeitet jetzt in einem kleinen
Betrieb für Verleih und Reparatur landwirtschaftlicher Geräte.
Die
DDR-Aufklärung hat im Prozess der Auflösung der HV A zum Objekt »Teufelsberg«
archiviert: die zentrale Direktive des Chefs der NSA (diese Direktiven wurden
»USSID = U.S. Signal Intelligence Directive«
genannt) Nr. 1005 über die Tätigkeit der Field Station Berlin; das Dokument über die mittelfristige
Modernisierungsplanung bis 1995; eine Dokumentation als gemeinsame Analyse der
HV A und der Hauptabteilung III des MfS über das Objekt Teufelsberg mit
detaillierten Darstellungen der Struktur, Funktionen, Zielobjekte und
Aufklärungsergebnisse.
Zu
den Spitzenergebnissen, die unsere Quellen beschafften, gehörte das rund 4.200
Blatt umfassende Dokument mit der Bezeichnung National SIGINT Requirements List (NSRL).
Dabei
handelte es sich um eine weltweite Wunschliste der Intelligence
Community für die fernmelde-/elektronische Aufklärung unter Federführung der
NSA. In ihr wurden akribisch die Interessenlagen aller amerikanischen
Geheimdienste sowie einzelner ihrer Strukturen, aber auch die Wünsche anderer
Regierungsorgane, so des Weißen Hauses, des Außen- oder Energieministeriums an spezifischen
Informationen zu bestimmten Regionen und Ländern festgehalten. Detailliert
wurden die Informationsinteressen über die Außen-, Innen- und
Wirtschaftspolitik, Potenzen an strategischen Rohstoffen; Streitkräftelage,
Besitz an Massenvernichtungswaffen, Grundlagenforschung (vor allem jene
Bereiche, aus denen auch für die Vereinigten Staaten Überraschungseffekte durch
potentielle Gegner oder Partner entstehen konnten), spezielle
Rüstungsforschung, Energiepolitik, besonders Kernenergieforschung u. ä., in der
Regel auch zur Tätigkeit der Geheimdienste der Länder definiert. Die NSA als
»federführendes Organ« hatte für diese Liste in einem extra Gliederungspunkt
die gegenwärtigen und künftigen potentiellen Möglichkeiten der
Informationsbeschaffung mittels der fernmelde-/elektronischen Aufklärung sehr
detailliert bewertet.
Die
NSRL hatte bei uns einen Umfang von mehr als zehn großen Leitzordnern – und wir
kannten die Informationsinteressen der Vereinigten Staaten bezüglich jedes
Landes der Erde! Außerdem enthielt die NSRL einige zentrale,
länderübergreifende Themen, wie Probleme der Nichtweiterverbreitung von
Massenvernichtungsmitteln, internationaler Terrorismus, internationaler Waffen-
und Drogenhandel.
Bezüglich
der UdSSR und der anderen sozialistischen Staaten enthielt das Dokument auch
Aufstellungen von Zielobjekten (z. B. Lager von ABC-Waffen, militärisch
nutzbare Grundlagenforschung und Rüstungsproduktion) und von Zielpersonen
(vorwiegend Wissenschaftler). Das waren natürlich Signale für konkrete Spionageinteressen.
Wir wussten, ihre Einspeisung in die NSA-Computer bewirkte, dass bei jeder
Nennung des Namens in einer Aufzeichnung diese zur weiteren Auswertung
selektiert wurde. Gleichzeitig war klar, dass damit eine strenge Überwachung
und nachrichtendienstliche Bearbeitung bei Einreisen, z. B. in die USA,
verbunden sein würde.
Ein
anderes Positivum brachte die NSRL jedoch noch mit sich. Wir konnten schon
damals mittels der Informationsinteressen der Intelligence
Community nachweisen, wie stark deren Interessen auch an der Bearbeitung der
Verbündeten waren. Seitenweise wurden Informationswünsche zu Ländern wie
Frankreich, Großbritannien, Kanada oder der BRD fixiert, insbesondere Umfang
und Detailliertheit der Informationsinteressen zu Frankreich (ca. 50 Blatt) und
zur BRD (ca. 36 Blatt) waren beeindruckend.
Zu
den bedeutendsten Dokumenten aus der Zusammenarbeit mit der Quelle PAUL gehörte
ein streng geheimes Dokument der aktiven Kriegsvorbereitung mit der
Deckbezeichnung CANOPY WING. Die Arbeitsgruppe zur Erarbeitung des Dokumentes
CANOPY WING wurde von der Regierung der USA Anfang 1986 einberufen. Das war
ein Zeitpunkt, da hatte Gorbatschow schon seine Politik des »neuen Denkens«
öffentlich verkündet, die Vision einer menschlichen Gesellschaft ohne Atomwaffen
bis zur Jahrtausendwende in die Diskussion gebracht, das Aufbrechen der
erstarrten Blockkonfrontation eingeleitet. Zu diesem Zeitpunkt wurden die
qualifiziertesten Analytiker und Praktiker der US-Geheimdienste und des
Pentagon zusammengezogen, und ihnen wurde nochmals die Aufgabe gestellt, alle
Möglichkeiten der modernen Waffensysteme und elektronischen Kampfführung zu
prüfen, um einen erfolgreichen atomaren Enthauptungsschlag gegen die
Führungszentren der UdSSR und des Warschauer Vertrages zu gewährleisten.7
Unsere
Quelle PAUL gehörte zu diesem Kreis der Auserwählten. Als dann nach
wochenlanger Abwesenheit von PAUL das Dokument auf unserem Tisch lag, rieselte
uns ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht nur deshalb, weil wir noch nie
ein Dokument der US-Geheimdienste mit so vielen Geheimhaltungsvermerken und
Schutzwörtern, mit der höchsten geheimdienstlichen Sicherheitseinstufung
innerhalb der Intelligence Community, in der Hand
hatten. Vor allem hatten wir ein kompaktes Material der aktiven Kriegsvorbereitung,
der Vorbereitung einer Aggression gegen den Warschauer Vertrag vor uns liegen.
Und das in diesem historischen Kontext. Hier ging es nicht mehr um eine
Verteidigungsplanung. Die Aufgabe war von den Vereinigten Stabschefs der USA
klar gestellt: Zur Vorbereitung eines Angriffs durch die NATO mussten die
Führungszentren des Gegners aufgeklärt, durch elektronische Maßnahmen
arbeitsunfähig oder durch selektiven Waffeneinsatz zerstört sein! Der atomare
Gegenschlag der sowjetischen Seite sollte damit verhindert, ein Kernwaffenkrieg
wieder führbar und gewinnbar gemacht werden.
Aus
dem Inhalt sind mir noch folgende Aussagen in Erinnerung: Es bilanzierte die
bisherigen Möglichkeiten der Elektronischen Kampfführung und die technischen
und softwareseitigen Anforderungen an weitere Entwicklungen zur Vorbereitung
bzw. Unterstützung eines nuklearen Erstschlages/Enthauptungsschlages gegen den
Generalstab der UdSSR sowie gegen das Oberkommando des Warschauer Vertrages.
Die Grundaufgabe war, die Fähigkeiten des Warschauer Vertrages zur Abwehr eines
Schlages und zur Auslösung eines atomaren Gegenschlages lahm zu legen. Dazu
wurden als Aufgaben gestellt: Identifizierung der Führungsstellen und der
Ausweichstellen im Spannungsfall; Aufklärung von Standorten, Strukturen, Personal,
technischen Ausrüstungen mit exakten Parametern und Zielkoordinaten;
Möglichkeiten der Störung des normalen Betriebes, u. a. durch Kurzschlüsse mit
Hilfe von mikroskopischen Kohlenstoffasern oder durch Einsatz von chemischen
Kampfstoffen; elektronische Blockierung der Arbeit unmittelbar vor dem Schlag,
damit keine Gegenreaktionen möglich sind; Anforderungen an den Einsatz
verschiedener Waffensysteme zur schlagartigen Zerstörung von Führungsstellen u.
a. Einrichtungen (einschließlich punktgenauer Zielsucheinrichtungen für
Waffensysteme, die gegen »gehärtete« Bunkersysteme einsetzbar sind);
Möglichkeiten der Täuschung/Fälschung (u. a. unter Nutzung der Fähigkeit, mit
Hilfe der Computersimulation ein zeitechtes Einschalten in
Befehlsübermittlungen z. B. im Funkverkehr Flugzeug – Bodenstation oder
Leitstelle – U-Boot zu erreichen).
Die
Arbeitsgruppe veranschlagte für all diese Projekte einen Finanzbedarf von 14,5
Milliarden Dollar an Investitions-, Betriebs- und Wartungskosten sowie den
Einsatz von rund 1.570 Mitarbeitern.9
Vorgang
KID
Einige
Zeit hatten wir einen recht intensiven Informationsfluss mit Dokumenten über
das Westberliner Objekt der Electronic Security Group der US-Luftwaffe und
seine Funktion im Rahmen der amerikanischen fernmelde/elektronischen Aufklärung
von Westberlin aus. Sie hatten ihren Ursprung bei dem Sergeanten Jeffrey M. Carney (HV A-Deckname KID), der im September 1985 in die
DDR überlaufen wollte. Carney war aufgrund seiner
Sprachkenntnisse und als Spezialist für Kommunikationsfragen in der 6912th
Electronic Security Group (6912th ESG) eingesetzt. Vertreter der HV A konnten
KID überzeugen, noch einige Zeit als unsere Quelle in diesem Objekt tätig zu
sein.
Als
besonders bedeutsam empfanden wir Informationen über ein spezielles Forschungsprogramm
der NSA und des ESC. Die Geheimdienste prüften die Möglichkeiten, sich über
Computersimulationen in den direkten Funkverkehr zwischen den
Bodenleitstationen und den Einsatzflugzeugen des potentiellen Gegners in
Echtzeit so einzutakten, dass beide Gegenstellen das
nicht bemerkten. Über diesen Weg sollten falsche Befehle an die Flugzeuge
übermittelt werden. Das klang zwar anfangs wie Science Fiction, war aber harte
Realität.10
Die
Auswirkungen solcher Maßnahmen in einem realen Einsatz könnten katastrophal
sein. Voraussetzungen dafür waren erst einmal umfangreiche Datenbanken, in
denen die Stimmenprofile der Flugzeugbesatzungen und der Offiziere der
Leitstellen erfasst und ständig aktualisiert wurden. Ebenso, wie auch früher
schon ein erfahrener Auswerter den Funker einer Gegenstelle an der
»Handschrift« der Bedienung der Morsetaste erkennen konnte, waren die
Analytiker des ESC in der Lage, mit den ersten Worten den russischen
Gesprächspartner in der Kommunikation mit den Einsatzflugzeugen zu identifizieren.
Später
übersiedelte KID dann doch in die DDR. In Abstimmung zwischen der
Hauptabteilung III (Funkaufklärung) und der HV A wurde KID zur tagesaktuellen
Auswertung von ausgewählten Fernsprechverbindungen der US-Geheimdienste
eingesetzt. Zur Tarnung erhielt er Personaldokumente der DDR.
Mit
der Auflösung des MfS und dem Ende der DDR musste sich auch KID eine neue
Perspektive suchen. Er fand eine Beschäftigung als Triebwagenfahrer bei der
U-Bahn in Berlin, die ihm sehr zusagte. Damit schien seine Perspektive als
«ehemaliger DDR-Bürger« gesichert. Aber es kam doch anders, Uncle
Sam verzeiht keinen Verrat. Nachdem die amerikanischen und deutschen Behörden
direkten Zugriff auf dem Territorium der DDR hatten, spürten die
US-Geheimdienste mit Hilfe des deutschen Verfassungsschutzes KID in Ostberlin
auf. Ein bewaffnetes Einsatzkommando des Geheimdienstes der Luftwaffe entführte
ihn in einer Nacht- und Nebelaktion am 22. April 1991, verbunden mit einer
rabiaten Hausdurchsuchung. KID wurde über den Flughafen Tempelhof in die USA
verbracht; ein amerikanisches Gericht verurteilte ihn zu 38 Jahren
Freiheitsentzug, er wurde bereits aus der Haft entlassen.11
Jeffrey
Carney hat kürzlich in den USA ein Buch mit seinen
Erinnerungen herausgebracht (Against all Enemies). Er ließ sich das Manuskript von
verantwortlichen Mitarbeitern der amerikanischen Luftwaffe zensieren – das sagt
etwas über den Inhalt!
Dokumente
im Archiv der BStU?
Der
Bereich IX/C spielte bei der legalen Auflösung der HV A eine nicht unwesentliche
Rolle. In der Phase der aus eigener Entscheidung veranlassten Reduzierung der
Aktenbestände – etwa ab November 1989 bis zur Besetzung der Zentrale des MfS am
15. Januar 1990 – hatten die Materialbestände der unmittelbaren operativen
Strukturen logischerweise den Vorrang bei der Vernichtung. Im Bereich
Auswertung sollte das erst einmal nur Informationen betreffen, die direkten
Aufschluss über die Quellenlage der HV A in den Geheimdiensten der westlichen
Hauptstaaten betrafen.
Mit
der Besetzung der Zentrale am 15. Januar 1990 wurde uns deutlich bewusst,
welchen Erkenntnisgewinn über unsere Quellenlage westliche Geheimdienste bei
einem direkten Zugriff auf unsere Unterlagen bekämen. Da war aber unser Zugang
zu den Diensträumen bereits äußerst eingeschränkt, für die eingesetzten Kräfte
im Rhythmus von 24 oder 48 Stunden möglich. Wir verständigten uns in der
Leitung der Abt. IX darüber, dass bei jeder »Dienstschicht« der zur
Vorbereitung der Auflösung in das Dienstobjekt eingesetzten Kräfte auch
Mitarbeiter des Bereiches IX/C gehören mussten. Dabei kam uns zugute, dass die
operativen Bereiche bis zum 15. Januar 1990 bereits eine sehr gute Vorarbeit
geleistet hatten.
Jedenfalls
war der Materialbestand im März 1990 – nachdem am 23. Februar 1990 der
Beschluss des Zentralen Runden Tisches über die legale Auflösung der HV A
gefasst wurde – bereits von allen wesentlichen, direkt auf die Quellen
führenden Informationen bereinigt. Aber wir hatten immerhin noch einige
Lkw-Ladungen mit gespeicherten Informationen, Ausarbeitungen, Karteien, Dossierablagen u. v. a. Die Verladung dieser Unterlagen für
die endgültige Vernichtung in einem Außenobjekt der HV A in
Berlin-Hohenschönhausen erfolgte unter strenger Aufsicht von Vertretern der
Kirchen. Bei vielen von diesen Unterlagen konnte eine komplexe Analyse immer
noch Spuren zu unseren Quellen legen. Dann erreichte uns die Festlegung des
Zentralen Runden Tisches und der Leitung der HV A, dass ein gewisser Bestand an
Unterlagen, der für eine spätere historische Bewertung der Arbeit der HV A von
Nutzen sein konnte (und nach unserer Vorstellung auch die Wirksamkeit der
Arbeit der HV A einem unvoreingenommenen Zeitzeugen demonstrieren konnte), für
eine Archivierung bereitgestellt werden sollte. Also mussten die in chaotischer
Unordnung in einem Keller angehäuften Unterlagen noch einmal vorselektiert
werden. Wir schleppten einen Teil des Materialbestandes aus dem Keller wieder
in die zeitweiligen Arbeitsräume und sichteten sie unter diesem neuen
Blickwinkel. Nach mehreren Prozeduren der Säuberung blieb ein immer noch
ansehnlicher Bestand an Originaldokumenten und Ausarbeitungen übrig. Die
»Säuberungen« betrafen ausschließlich alle Bezüge auf originale Aussagen von
Quellen.
Im
Juni 1990 war es dann so weit. Die zur Archivierung vorgesehenen Materialien
wurden in einen Transporter verladen, und eine Kolonne von Fahrzeugen,
begleitet von Funkstreifenwagen mit Blaulicht und besetzt mit Polizisten, die
mit MPi ausgerüstet waren, bahnte sich den Weg in die
Normannenstraße, die frühere Zentrale des MfS. Im Archivraum der Abt. XII des
MfS stapelten wir die Unterlagen in bereitstehende Stahlschränke. Ein letztes
Mal hatte ich körperliche Berührung mit Unterlagen, die einmal der ganze Inhalt
meiner langjährigen Arbeit waren.
Was
verschwand hier in den Schränken der späteren Gauck-Behörde? Allein die
dokumentarischen Materialien über die USA-Geheimdienste füllten einen großen
Stahlschrank: Kopien der bedeutendsten zentralen Direktiven des Direktors der
NSA, von der Nr. 1 (Grundaufgaben der NSA) über die Direktive zur Regelung der
Partnerdienstbeziehungen der NSA bis zur Direktive über die Tätigkeit der
Field-Station Berlin-FSB auf dem Teufelsberg; zehn Ordner mit der National
SIGINT Requirements List (NSRL); das DIA-Dokument
»TENS« – eine Übersicht über die weltweite Organisation der Spionagetätigkeit
der USA-Geheimdienste; das 47-seitige
Dokument mit der Deckbezeichnung »CANOPY WING« mit Übersetzung; mehrere
detaillierte Dokumente über die Organisation der elektronischen Spionage gegen
die DDR von ortsfesten Anlagen aus, z. T. im automatisierten Betrieb (Projekt
»TROJAN«), durch den regelmäßigen Einsatz von Aufklärungsflugzeugen in
unmittelbarer Grenznähe oder durch mobile Einsatzkräfte der Geheimdienste; die
umfangreiche Studie über die Formierung und Modernisierung des Geheimdienstes
der USA-Landstreitkräfte INSCOM; in Auswertung der vorliegenden Dokumente und
anderer Informationen eine Zusammenfassung unserer Erkenntnisse über die
operative Spionagetätigkeit der USA- Geheimdienste gegen die DDR mit den
grundsätzlichen Aufgabenstellungen, den spezifischen Methoden und den erkannten
Zielobjekten und Zielpersonen; eine Kartei mit den kompletten Angaben über die
Dienststellen und Objekte der USA- Geheimdienste auf dem Territorium der BRD
und Westberlins; mehrere Ordner mit Dossierangaben
über Mitarbeiter der USA-Geheimdienste, von den CIA-Direktoren bis zu
operativen Mitarbeitern der Residenturen im
deutschsprachigen Raum.
Außerdem
hatten wir als Abteilung IX noch archiviert: Analysen zu Struktur und Arbeitsweise
des BND, z. B. die Feinstruktur der Zentrale und die Übersicht über alle
Außenstellen; Analysen zur Spionagetätigkeit des BND gegen die DDR; die komplette Kartei über alle hauptamtlichen
BND-Mitarbeiter sowie Dossiers über eine größere Zahl von Mitarbeitern des BND
(ca. 15 schmale Ordner); Materialsammlungen über das BfV
und die LfV, Dossiers über Mitarbeiter des
Verfassungsschutzes; mehrere Exemplare einer Auskunft über die Spionageabwehr
des Verfassungsschutzes; eine Liste der Mitarbeiter des MAD ; diverse
Materialien zum Staatsschutz der BRD; eine Sammlung von zusammenfassenden
Analysen über Struktur, Hauptangriffsrichtungen und Arbeitsweise der
Geheimdienste aller NATO-Staaten und weiterer europäischer Länder (z. B. sehr
detaillierte Darstellungen zu den Geheimdiensten Großbritanniens und
Frankreichs).
Aber
diese Dokumente blieben nicht für immer in den Schränken der damaligen
Gauck-Behörde. Unter Berufung auf Regelungen des sogen.
Stasi-Unterlagen-Gesetzes, die Zugriffsrechte der westlichen Geheimdienste auf
Unterlagen aus den Beständen des MfS – soweit sie Quellen dieser Geheimdienste
betreffen – sichern sollen, forderte das Bundesministerium des Inneren im
ersten Halbjahr 1992 die »Herausgabe« von Dokumenten entsprechend einer langen
Liste von Unterlagen. Der damalige Direktor der Gauck-Behörde und spätere
Präsident des BND, Dr. Hansjörg Geiger, veranlasste die Übergabe dieser
Unterlagen an das Innenministerium, von wo aus sie dann offensichtlich wieder
in die Hände der US-Geheimdienste gelangten.
Anmerkungen
1 ‑Teile der 6912th Electronic Security Group, später 690th Electronic Security Wing
2 ‑Teile der 26. Signal Unit = Royal Air
Force sowie das Detachment 3 des 13. Signal
Regiment = Army
3 Vgl. Berliner Zeitung vom 21.
Oktober 1992
4 ‑Vgl. Peter Wyden: Wall: The Inside
Story of Divided Berlin; Simon and Schuster, New York; 1989, S. 114
5 ‑Aus der Praxis der HV A sind nicht
wenige Fälle bekannt, dass Auslandskader der DDR oder auch IM bei Einsätzen in
der BRD oder Westberlin durch ganz billige Kaufhausdiebstähle auffielen und
danach auch in der Regel als Agent oder Doppelagent für die andere Seite
arbeiteten. Der Verfassungsschutz hatte sich darauf eingestellt und mit den
Kaufhaus-Detekteien ein Informationssystem vereinbart, wenn Bürger aus
sozialistischen Staaten durch solche Delikte bekannt wurden. Die
Kaufhaus-Detektive verzögerten die Untersuchungen, bis ein Mitarbeiter des
Verfassungsschutzes den »Fall« übernehmen konnte.
6 ‑Klaus Kuron war Quelle der Abt. IX
der HV A im Bundesamt für Verfassungsschutz und verantwortlich für alle
Doppelagentenvorgänge des BfV
7 ‑Die USA hatten bereits 1983 begonnen,
innerhalb der NATO-Gremien ihr neues, offensives Konzept der »chirurgisch
sauberen Enthauptungsschläge« vorzustellen; die Arbeitsgruppe CANOPY WING
sollte offensichtlich schon eine modernisierte Version auf der Grundlage
neuester technischer und technologischer Einsatzmöglichkeiten erstellen
8 Details aus Quick vom Mai 1990 (Hefte 20 und 22)
9 ‑Hinweise auf diese Realität sind z.
B. zu finden in: Spiegel 34/1995, S.
132: »Schweiß schnuppern«. Der Autor verweist dort auf diverse Vorbereitungen
des Pentagon auf »information warfare«,
u. a. auch auf die Übermittlung gefälschter Befehle über Sprechfunk.
10 ‑Angaben
aus Focus 25/1997 und Washington Post vom 21. Dezember 1991
11 ‑Jeffrey
Carney kehrte 2011 nach Berlin zurück und versuchte
in Deutschland neuerlich Fuß zu fassen, was aus verschiedenen Gründen misslang.
Er lebt heute wieder in den USA
Von
Harry Mittenzwei
Jahrgang
1931; Diplomjurist; MfS/AfNS 1952-1990; Oberst a. D.;
zuletzt Abteilungsleiter in der HV A
Im
August 1957 war ich Zuhörer in einem Prozess vor den 1. Strafsenat des Obersten
Gericht der DDR in Berlin. Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer klagte auf der
Grundlage umfangreicher Beweisdokumente und eines Gutachtens des
Militärhistorikers Dr. Egbert von Frankenberg fünf Agenten von in Westberlin
aus operierenden US-Geheimdiensten wegen Spionage und aktiver Mitwirkung an der
Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen die Staaten des Warschauer Vertrages
an.
Unsere
Regierung hatte am 23. Dezember 1956 in einem Memorandum auf die zunehmend
massiven Attacken dieser Dienste gegen die Grundlage des gesellschaftlichen
Systems in der DDR und die Gefährdung des Friedens hingewiesen und von der UNO
entsprechende Konsequenzen gefordert. Im zweiten Halbjahr 1956 war durch die
Sicherheitsorgane der DDR eine größere Anzahl solcher Agenten festgenommen und
verurteilt worden. Dieser jetzt laufende letzte Prozess war praktisch der
Abschluss einer ganzen Serie von Verhandlungen, die durch die zuständigen
Bezirksgerichte geführt wurden und er sollte noch einmal mit seiner gründlichen
Auswertung die Öffentlichkeit über die gefährliche Wühltätigkeit dieser gegnerischen
Dienste ins Bild setzen.
Angeklagt
waren fünf Personen, von denen drei dem US-Geheimdienst MID (Military Intelligence
Detachement) in Berlin-Zehlendorf dienten und zwei Abteilungsleiter einer
Dienststelle des CIC (Counter Intelligence Corps) in Berlin-Dahlem. Dem vorliegenden
Beweismaterial war zu entnehmen, dass es sich bei den Handlungen dieser Leute
nicht nur schlechthin um das Sammeln von Informationen und deren Übergabe an
die Amerikaner handelte. Den Beschuldigten war voll bewusst, welche Ziele und
Absichten ihre Auftraggeber mit diesen Unternehmungen verfolgten und welche
Bedeutung ihr Mitwirken an deren friedensgefährdeten Aktionen hatte.
Der
Angeklagte Alfred F. war leitender Mitarbeiter in Zentralen Entwurfsbüro der
Deutschen Reichsbahn in Berlin. Von dort steuerte er eine Agentengruppe im
Reichsbahnbereich Pirna-Bad Schandau, über die damit die Amerikaner unter
anderem den gesamten Güter- und Personenverkehr, der auf dem Schienenwege
zwischen der DDR und Südosteuropa verlief, im Griff hatten und damit die
Möglichkeit bekamen, uns schwere wirtschaftliche Schäden zuzufügen.
F.
war 1939 nach der Besetzung durch die Deutsche
Wehrmacht und die Angliederung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich
Mitarbeiter der Reichsbahn geworden. Nach der Aussiedlung der deutschen
Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg war er im Raum
Dresden untergekommen und weiter bei der Bahn tätig. Er kam dann 1952 in die
Zentrale der Deutschen Reichsbahn nach Berlin. Dieser Aufstieg gelang ihm, weil
er verschwiegen hatte, dass er vor 1945 aktiver Nazi war. Nach Hitlers Einfall
wurde er Mitglied der NSDAP und im Deutschen Beamtenbund.
Durch
Vermittlung seines damaligen Vorgesetzten geriet er an den US-Geheimdienst. Er
wurde zu einer Geburtstagsfeier nach Westberlin eingeladen. Dabei kam es zu
diesem Kontakt. Es begann sofort eine intensive Zusammenarbeit. F. lieferte
alles, was ihm in seiner Funktion in die Hände kam. In Berlin hatte er noch
keine Wohnung. Die Amerikaner orientierten darauf, dass er ihnen, bevor er
dorthin verzieht, weitere Kontakte im Bereich Pirna verschafft. Und das wurde
zuerst der Mitangeklagte Walter K. Anfangs Fahrdienstleiter, dann zum
Dispatcher auf dem Eisenbahnknotenpunkt Pirna-Bad Schandau aufgestiegen, war er
die ideale Person für die Interessen des MID. Zu seinem Auftrag gehörte, sich
ein progressives öffentliches Ansehen zu erwerben. Als Stadtverordneter der CDU
in der Stadt Wehlen und eine aktive Gewerkschaftsarbeit an seiner
Arbeitsstelle, ist ihm das auch bald gelungen. Beide bauten gemeinsam eine
Agentengruppe auf und nutzen auch in ihrem Umgangskreis Personen für die
Informationsbeschaffung, die nicht ahnten, was mit ihren gegebenen Auskünften
geschah.
Unter
den geworbenen Agenten befand sich ein Mitarbeiter des Rangierdienstes des
Pirnaer Güterbahnhofs, der die Laufzettel an den Waggons vertauschte. So
rollten dann die durch seine Hände gehenden Ladungen an falsche Zielorte. Was
nach Rostock gehen sollte kam in Erfurt an und umgekehrt. Dadurch entstanden
oft erhebliche Störungen in der Volkswirtschaft. Bei Transporten im
Transitverkehr mit empfindlichen Ladungen entfernte er die entsprechenden
Markierungen, die auf besondere Sorgfalt beim Rangieren hinwiesen. Auch damit
verursachte er große Schäden vor allem bei Im- und Exportgütern.
F.
lieferte den Amerikanern umfangreiche Informationen aus allen acht
Reichsbahnbezirken. Neben Streckenplänen, Brückenzuständen und Personalbestand
ging es hauptsächlich auch um Abläufe im Transportwesen. Da interessierte, was
von wo nach wo ging, welche wichtigen Verladepunkte es im ganzen Land gab,
welche Bedeutung welcher Eisenbahngrenzübergang sowohl in wirtschaftlicher als
auch in militärischer Hinsicht hatte, wie der momentane Zustand der Bahnanlagen
war und welche Pläne für die Zukunft existierten. Bei wöchentlichen Treffs mit
den Amerikanern wurden die Antworten auf diese Fragen sowohl mündlich als auch
schriftlich und teils in Originalunterlagen oder auch in Form von Fotokopien
überbracht.
Die
Gruppe von K. erweiterte sich in kurzer
Zeit um drei weitere Agenten. Neben den allgemeinen Aufgaben ging es da vor
allem um die bahntechnischen Anlagen der Flugzeugindustrie in Dresden, des
Kernforschungsinstituts in Rossendorf und um die
Zulieferer zu diesen Einrichtungen. Auch die Forschungseinrichtungen in
Pirna-Sonnenstein gehörten zu den Zielobjekten. Das Besondere an der ganzen
Geschichte war aber die Tatsache, dass nicht nur Informationen geliefert
wurden. Man debattierte auch über den Zweck der ganzen Angelegenheit. Ganz
konkret wurde erörtert, wie und an welcher Stelle und in welcher Stärke mit
künftigen Luftangriffen das Verkehrsnetz der Bahn am effektivsten außer Betrieb
gesetzt werden konnte. Die Perfidie wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass
Dresden erst im Februar 1945 von angloamerikanischen Bombern zerstört worden
war.
Es
ging noch weiter. Die Agenten sollten sich darauf vorbereiten, wie sie nach
diesen Luftschlägen auf schnellsten Wege Informationen über deren Auswirkung
und auch über die Stimmung der Bevölkerung nach diesen Attacken an die
Amerikaner geben können. Zu diesem Zweck wurde ein besonderes Verbindungssystem
vorbereitet. Neben Deckadressen in der BRD, Ausrüstung mit Geheimschriftmitteln
und dem Aufbau eines Kuriersystems, legte man zur unpersönlichen Nachrichtenübergabe
sogenannte Tote Briefkästen an.
Nicht
zu dieser Eisenbahntruppe, aber zur gleichen Agentenzentrale, gehörte die
dritte Angeklagte, Jutta T. Sie war als Sekretärin im VEB
Wissenschaftlich-Technisches Büro für Gerätebau von einem Bekannten, der vor
einiger Zeit die DDR verlassen hatte, nach Westberlin eingeladen und dem
Geheimdienst zugeführt worden. Auch ihr Persönlichkeitsbild entsprach den
Vorstellungen der Amerikaner. Aus einer Gutsbesitzerfamilie stammend, hatte sie
im Jahre 1930 ein Medizinstudium begonnen. Zwei Jahre später brach sie das ab
und trat der NSDAP bei. Nach Hitlers Machtantritt meldete sie sich freiwillig
zum Reichsarbeitsdienst und kam als Reichsarbeitsdienstführerin nach Stettin.
Dort übernahm sie 1940 die Funktion der Gaufrauenschaftsleiterin,
also eine recht hohe Funktion im Parteiapparat der Nazis. Durch Heirat zog sie
1944 nach Berlin. Nach Kriegsende begann sie nach mehreren anderen
Beschäftigungen ein Studium an der Fachschule für Betriebswirtschaft und war
vor ihrem Wechsel in die neue Tätigkeit bis 1954 Produktionsleiterin in einem
Berliner Chemiebetrieb. Ihr politisches Image als progressive Person erwarb sie
sich im Auftrag der Amerikaner durch aktive Gewerkschaftsarbeit, in der
Betriebssportgemeinschaft und als Vorsitzende des Frauenausschusses des
Unternehmens.
Sie
lieferte an den Geheimdienst umfangreiche Materialien über Entwicklungen in der
zivilen und militärischen Luftfahrt, über Flugsicherung und Luftabwehr, die
Entwicklung meteorologischer Anlagen und über Navigationssysteme auf dem Gebiet
der Luft- und Seeortung. In ihrer Funktion kamen ihr auch Unterlagen anderer
Forschungseinrichtungen und Unternehmen der DDR in die Hände. Diese
Dokumentationen verbrachte sie regelmäßig in kurzen Abständen im Original nach
Westberlin, übergab sie dem zuständigen Geheimdienstmitarbeiter und wartete ab,
bis sie abfotografiert wurden um sie dann wieder mit nach Hause zu nehmen.
Der
eigentliche Grund für meine Anwesenheit bei diesem Prozess waren die beiden
nächsten Angeklagten Friedrich W. und Werner Ch. Sie
kamen aus dem von mir geführten Operativ-Vorgang »Rote Spinne«. Alle
Mitarbeiter dieser Geheimdienststelle bekamen als Erkennungszeichen eine Art
Taschentuch aus Japanseide mit einem kleinen in eine Ecke eingedruckten roten
Spinnensymbol. Daher dieser Vorgangsname. Bevor ich mich zu den operativen
Details äußere, ist es angebracht, die Persönlichkeitsbilder der beiden, die
der CIC-Dienststelle des US-Geheimdienstoffiziers Captain Walter dienten, etwas
näher anzusehen.
Als
Sohn eines Berufsoffiziers begann W. nach dem Schulabschluss im Jahre 1920 eine
Lehre bei der Deutschen Bank, um auf Wunsch seines Vaters die höhere
Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Als ausgebildeter Bankbeamter trat er dann schon
1926 in die Nazipartei ein. Seine politischen Aktivitäten im Sinne dieser
Bewegung führten 1929 zu seiner Entlassung aus dem Bankhaus Dellbrück-Schickler
und Co, in dem er zu dieser Zeit arbeitete. Da er keine neue Beschäftigung
fand, emigrierte er über Schweden nach Finnland und verdiente seinen Unterhalt
als kaufmännischer Angestellter. 1932 kehrte er nach Deutschland zurück, war
kurze Zeit arbeitslos und wurde sofort nach Hitlers Machtantritt Mitarbeiter
der Geheimen Staatspolizei.
Sein
Einsatz erfolgte zuerst bei der Zerschlagung der Reste der Kommunistischen und
der Sozialdemokratischen Partei. 1934 kam er zur Sittenpolizei. Bei einer
Hausdurchsuchung eignete er sich widerrechtlich Wertsachen an. Das brachte ihm
eine Verurteilung zu acht Monaten Gefängnis ein. Fünf Monate musste er davon
abbüßen. Seine neue Arbeitsstelle war danach die NS-Ferienorganisation »Kraft
durch Freude«. Diese Beschäftigung war aber recht kurz. Nach wenigen Wochen
holte ihn die Gestapo zurück in die Abteilung Fremdenüberwachung. Unter Nutzung
seiner erworbenen skandinavischen Sprachkenntnisse waren seine Zielobjekte vor
allem Ausländer aus dieser Region, die sich längere Zeit in Deutschland
aufhielten. Man stattete ihn mit Personaldokumenten aus, die ihn als
Sportjournalist auswiesen.
In
Berlin gab es damals in der Budapester Straße eine zu jener Zeit recht bekannte
Ballettschule. Das war ein Treffpunkt honoriger Personen und vor allem
ausländischer Diplomaten. Den Nazis war sie ein Dorn im Auge, weil man nicht
wusste, was sich da so alles abspielte. W.
gelang es, sich unter seiner neuen Identität dort einzuschmuggeln und
dafür zu sorgen, dass die Chefin und zwei ihrer Mitarbeiterinnen verhaftet
werden konnten. Als Belohnung für diesen Erfolg wurde er als ZbV (»Zur besonderen Verwendung«) mit dem Dienstgrad
SS-Obersturmführer in den Stab des SS-Reichsführers Heinrich Himmler versetzt.
Sein
neues Aufgabengebiet waren Erkundungen in Kreisen der höheren Naziführung, in
denen sich oppositionelles Gedankengut entwickelte. Ein spezieller Auftrag
richtet sich gegen den Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht. Der sollte
umgebracht werden. Das war W. jedoch zu viel. Wegen Befehlsverweigerung, die
Nazis gingen bekanntermaßen auch hart mit ihren eigenen Leuten um, sperrte man
ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Als besondere Demütigung für ihn
als Judenhasser war sein Einsatz als Blockältester in einem Judenblock. Zu
dieser Zeit wurde im KZ Sachsenhausen eine so genannte Frontbewährungseinheit,
bestehend aus kriminellen SS-Angehörigen und anderen Verbrechern, angeführt von
dem wegen Kinderschändung vorbestraften SS-Offizier Dirlewanger,
gegründet. W. bekam hier die Möglichkeit mitzumachen. Und er tat es. Mordend
und plündernd zog diese Truppe durch die besetzten Gebiete. Zuerst in
Frankreich und dann in der Sowjetunion verrichteten sie ihr verbrecherisches
Werk.
Das
Wüten dieser Bande erregte selbst in führenden Nazikreisen Ablehnung. Im Sommer
1944 wurde sie aufgelöst und ihre Angehörigen in die Wehrmacht eingegliedert.
Nach kurzem Fronteinsatz in Frankreich kam W. in den Stab des
Generalfeldmarschalls Model als Kraftfahrer. Im Februar 1945 wurde er als
Feldwebel der Wehrmacht entlassen, um nicht als ehemaliger SS-Mann in
Kriegsgefangenschaft zu geraten. Zur Vervollständigung seines
Persönlichkeitsbildes sei noch gesagt, dass er mit dem Kriegsverdienstkreuz,
dem Eisernen Kreuz II. Klasse und der bronzenen Nahkampfspange ausgezeichnet
wurde.
Nach
Kriegsende kam er auf Umwegen nach Berlin, übte verschiedene Tätigkeiten aus
und bekam eine Stelle als Kraftfahrer bei der französischen Besatzungsmacht.
1948 wurde er Gefängniswärter in Tegel. Das endete 1950, weil er als derjenige
erkannt wurde, der während eines Fronturlaubs im Kriege einen Berliner
Geschäftsmann, der sich gegen Hitler geäußert hatte, ins Konzentrationslager
brachte, in dem dieser ums Leben kam. W. wurde deswegen von einem Westberliner
Schwurgericht zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt. Nach dieser Zeit ging
er wieder auf Suche nach Arbeit und lernte dabei einen angeblichen Detektiv
kennen. Der nutzte ihn gegen Bezahlung für verschiedene Ermittlungs- und
Beobachtungstätigkeiten. Gegen Ende des Jahres 1953 schlug der Detektiv vor, W.
seinem Chef zwecks Aufnahme einer ordentlichen Arbeit vorzustellen. Dieser Chef
war der CIC-Mann Captain Walter und W. war von da an fester Angestellter bei
diesem Geheimdienst.
Nun
zum fünften Angeklagten in diesem Prozess – Werner Ch.
Der hatte nicht ganz so eine spektakuläre Vergangenheit wie der eben
beschriebene W. Seine Befähigung für diese Tätigkeit ergab sich aus anderen
Eigenschaften, die den Amerikanern Appetit machten. Als kaufmännischer
Angestellter war er in den 30er Jahren in die Arbeitslosigkeit geraten.
Deswegen meldete er sich im Jahre 1935 als Berufssoldat zur Deutschen
Kriegsmarine, in der er bis zum Kriegsende 1945 diente. Nach kurzer
Gefangenschaft und verschiedenen Beschäftigungen danach bekam er 1949 eine
Stelle bei der HO, Landesleitung Brandenburg, in der er es bis zum
Abteilungsleiter Ein- und Verkauf von Wirtschaftswaren brachte. Unter Missbrauch
seiner Möglichkeiten veruntreute er eine größere Menge devisenträchtiges
Meißner Porzellan und verschob es zugunsten seiner Privatkasse nach Westberlin.
Das kam heraus und brachte ihn eine Verurteilung zu sechs Jahren Haft, von
denen er drei Jahre absitzen musste, ein.
Nach
der Haftentlassung verließ er die DDR in Richtung Westberlin und nahm Kontakt
zu seinem damaligen Kumpel, mit dem er die Porzellanschiebungen gemeinsam
gemacht hatte, auf, ohne zu wissen, dass der inzwischen den Amerikanern als einer
der Stellvertreter von Cptn. Walter diente. In dieser
Eigenschaft hätte der ja eigentlich nun dafür sorgen müssen, dass sein in Not
geratener alter Freund entsprechend seinem Wunsch als politischer Flüchtling
aufgenommen wird. Nichts in dieser Richtung geschah. Ch.s
Anerkennung wurde abgelehnt. Als er seinen Personalausweis wieder haben wollte,
um in die DDR zurück zu kehren, verweigerte man das. Dagegen empfahl ihm sein
Freund, den Beschwerdeweg zu gehen und vermittelte ihn an die »Kampfgruppe
gegen Unmenschlichkeit« und die »Vereinigung der Opfer des Stalinismus«.
Während er in der KgU nur registriert wurde, traf er
bei der VOS auf einen uns aus anderen operativen Zusammenhängen schon bekannten
Agenten. Der versprach Hilfe und vermittelte bis zur Klärung der ganzen Sache
eine Beschäftigung in der Registratur der Organisation. Er hatte selbst eine
faschistische Vergangenheit. Schon vor 1933 war er Anhänger von Hitler und in
dessen Partei aktiv. Das rette ihn damals vor einer wegen Unterschlagung ausgesprochen
längeren Gefängnisstrafe und brachte ihm nach der Machtübernahme einen Posten
im Parteiapparat der Nazis ein. Am Ende war er Hauptpropagandaleiter der NSDAP
für das Land Brandenburg.
Ch. wurde mit der Sortierung der
Kartei der VOS beschäftigt. Dabei notierte er sich eine größere Anzahl Adressen
von DDR-Bürgern, in weiser Voraussicht, daraus einmal Kapital schlagen zu
können. Zu dieser Zeit tauchte Friedrich W. bei ihm auf und bot die
Zusammenarbeit mit dem USA-Geheimdienst an. Ch.
stimmte zu, wurde zu Cptn. Walter gebracht und zur
Zusammenarbeit verpflichtet. Die Anerkennung als politischer Flüchtling
erfolgte zwar nicht. Bei einer solchen Prozedur wären zu viele Außenstehende
mit den Interessen der Amerikaner konfrontiert worden. Das sollte auf alle Fälle
vermieden werden. Es wurde ein Westberliner Personalausweis ausgestellt, Ch. konnte das Flüchtlingslager verlassen und in Berlin
eine Wohnung nehmen. Soweit erst einmal zu den Persönlichkeitsbildern der
Angeklagten.
Die
vom Gericht verhängten Urteile waren hart. F. und W. bekamen wegen der Schwere
ihrer Straftaten lebenslängliche und die anderen zeitlich begrenzte
Freiheitsstrafen. Wenn man heute darüber spricht, wird oft die Frage gestellt:
Warum hat die DDR so hart zugeschlagen? Spionage haben doch alle gemacht.
DDR-Spione, die im Westen erwischt wurden, sind doch viel milder davon
gekommen. Da muss man schon genau hinsehen. Kein DDR-Spion hatte den Auftrag an
Kriegsvorbereitungen oder dem Sturz des westlichen Herrschaftssystems zu
arbeiten, Brände zu legen oder Sabotageakte auszuführen. Der Einsatz unserer
Leute erfolgte ausschließlich zur Erkennung und Abwehr der Angriffe der anderen
Seite, die aus ihrer Absicht, die DDR zu beseitigen, nie ein Hehl gemacht hat.
Dass dabei die Methoden der Abwehr auch außergewöhnliche Handlungen notwendig
machten, lag in der Natur der Sache. Was das Wesen der westlichen
Geheimdienstarbeit war und im übertragenen Sinne heute noch ist, habe ich hier
schon unter Bezug auf die Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes genannt.
An
dieser Stelle muss ich jetzt zur Erläuterung der Zusammenhänge um zwei Jahre
zurückgehen. Im Sommer 1955 wurde ich zur Hauptabteilung II versetzt. Das war
die Zentrale der Spionageabwehr in Berlin. Meine praktischen Erfahrungen bis
dahin bestanden in zwei Jahren Arbeit als Sachbearbeiter in einer kleinen
Kreisdienststelle, die mit dieser Art von Feindkontakten nicht allzu viel zu
tun hatte, und aus den neun Monaten Theorie aus dem gerade abgeschlossenen
Grundlehrgang an der Ausbildungsstätte in Eberswalde. Es waren mehrere
Teilnehmer aus diesem Lehrgang, die sich da am neuen Arbeitsplatz einfanden und
vom stellvertretenden Hauptabteilungsleiter empfangen wurden. In seinen Worten
betonte er die Notwendigkeit der personellen Verstärkung dieser Diensteinheit,
weil die anfallenden Aufgaben unter den zu dieser Zeit herrschenden Bedingungen
nicht mehr zu bewältigen waren. Die Hauptabteilung bestand zu dieser Zeit aus
sechs Unterabteilungen. Mein Einsatz erfolgte in der HA II/1, damals die
amerikanische Linie, die so um die 30 operative Mitarbeiter hatte. Das
entsprach etwa der Zahl der Agentenzentralen, die von Westberlin aus gegen die
DDR ihr Unwesen trieben.
Wie
kompliziert die die Lage war merkte ich, nachdem mir ein konkretes
Aufgabengebiet übertragen wurde. Vom zuständigen Referatsleiter bekam ich den
Schlüssel für einen Stahlschrank, in dem die gesammelten Dokumentationen zu
einer Einrichtung des amerikanischen Geheimdienstes aufbewahrt wurden. (Das war
die CIC-Dienststelle des Cptn. Walter, die ich in
meinen vorausgegangenen Ausführungen schon genannt habe.) Das vorliegende
Material war bis zu diesem Zeitpunkt aus Mangel an Personal nur gesammelt
worden und bedurfte dringend einer systematischen Bearbeitung. Vor allem war
eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Diensteinheiten, die es
erarbeitet hatten, nötig. Daraus ergab sich nun für die kommende Zeit meine
Aufgabe.
Jetzt
musst erst einmal alles gesichtet, geordnet und ein Sachstandsbericht
erarbeitet werden. Was ich da vorfand übertraf alles, was ich bisher über
Geheimdienstarbeit gelernt hatte. Jetzt war es mein normaler Alltag. Man half
mir natürlich bei der Fertigung des Berichts und ich konnte ihn in der
vorgegebenen Zeit von zwei Wochen abliefern. Nach einigen kleinen Korrekturen
wurde er dann auch akzeptiert. Es ging weiter. Ein Arbeitsplan für die künftige
Bearbeitung dieser Feindzentrale musste gefertigt werden. Davon hatte ich aber
nun überhaupt keine Ahnung. Aber auch da gab es Helfer, die mir zeigten, wie
das zu machen war.
Die
im Dienstgebrauch verwendeten Begriff »Offensive Abwehr« oder auch »Äußere
Abwehr« waren dabei die Grundlage und mir wurde in diesem Zusammenhang erst
richtig bewusst, was sie inhaltlich bedeuteten. Normalerweise denkt man bei der
Arbeit an einem solchen Komplex, man macht gegnerische Agenten sichtbar und
legt sie auf irgendeine Weise lahm und damit ist die Sache geklärt. So einfach
sollte das aber nicht sein. Auf diese Art zu kämpfen hieße, die erkannten
Personen fängt man weg, der Gegner sucht sich neue, man entlarvt sie wieder und
so weiter und so fort. Das wäre ein nicht enden wollender Kreislauf, in dem man
den Dingen immer hinterher läuft und zu keinem Ende kommt.
Offensive
Abwehr meinte aber das Übel an der Wurzel zu packen und diese gewissermaßen
trocken zu legen. Meine konkrete Aufgabe bestand demnach darin, die vorhandenen
Möglichkeiten zu nutzen, mit eigenen Agenturen in die gegnerische Zentrale
einzudringen, sie von innen heraus lahm zu legen und zu zerstören. Das mir
vorliegende operative Material stammte hauptsächlich aus den Arbeitsergebnissen
verschiedener Diensteinheiten. In den Bezirksverwaltungen gab es analog zu der
Struktur in der Zentrale auch die für die Spionageabwehr zuständigen
Abteilungen II. Deren Leiter warteten schon lange auf eine Stelle in der
Zentrale, wo sie Arbeit zu diesem konkreten Material abstimmen konnten. Ich war
jetzt der Anlaufpunkt für die Genossen von der Basis, die alle schon längere
Zeit in diesem Metier tätig waren und sich in den Sitten und Gebräuchen dieses
Geschäfts gut auskannten. Entgegen meinen Bedenken lief das alles recht gut an.
Es war für mich, wie man das so nennt, eine Qualifizierung im Prozess der
täglichen operativen Arbeit. Die Amerikaner nannten es »learning
by doing«.
Das
verlief besonders positiv, weil die Partner meine Situation beachteten und im
Zusammenwirken sehr kooperativ waren.
Wer
war nun mein konkreter Gegner? Eingangs sagte ich schon, die USA unterhielten
in Westberlin so an die 30 Filialen der verschiedenen militärischen und zivilen
Geheimdienste, die in der Mehrzahl getarnt als private Einrichtungen in der
Stadt verteilt waren. Die von Cptn. Walter befand
sich zuerst in Berlin-Dahlem, sie zog in jener Zeit, als ich sie bearbeitete,
nach Lichterfelde-West um. In beiden Fällen handelte es sich um unscheinbare
Stadtvillen, bei denen kein Außenstehender ahnte, was sich hinter deren
Fenstern tatsächlich abspielte Am letzteren Standort existierte diese
Einrichtung bis zur durch unsere Maßnahmen bedingten Auflösung im Jahre 1957.
Der Chef war der schon erwähnte Cptn. William von
Walter. Er gehörte, nach eigenem Bekunden, in den USA als leitender Mann der
faschistischen Organisation Ku-Kux-Klan an. Im
Koreakrieg war er Kommandeur einer Fallschirmjägereinheit. Stolz berichtete er
über die Teilnahme an Terroreinsätzen in Nordkorea. Noch während des Krieges
wurde er vom CIC übernommen und danach in die benannte Funktion nach Berlin
delegiert.
Wir
waren im Besitz schriftlicher Originaldokumente, auf deren Grundlage die
Amerikaner ihre Agenten ausbildeten und instruierten. Wie wir in den Besitz
dieser Dinge gekommen sind, geht aus meinen weiteren Ausführungen hervor. Was
also hier gesagt und beschrieben wird sind keine Deutungen und Vermutungen. Es
entstammt dem von den Amerikanern selbst formulierten Originaltext. Die
Zielgebiete dieser Dienststelle waren vor allem die DDR und darüber hinaus
Polen und die CSSR. Ihre Aufgabenstellung bestand in umfassender
Informationsbeschaffung auf allen Gebieten, durch Sabotage, Diversion und
Unterwanderung die Entwicklung in den Zielgebieten zu stören und aktive
Vorbereitungen zur Unterstützung westlicher Streitkräfte für den Fall eines
militärischen Konflikts zu treffen. Also die gleichen Handlungen, wie ich sie
eingangs beim Einsatz der anderen Angeklagten nannte.
Neben
einer schriftlichen Fassung seiner Aufgaben war jeder Agent im Einsatzgebiet
mit sogenannten Erkennungstafeln ausgestattet. Sie bestanden aus Blättern im A
5-Format auf denen alles, was den Geheimdienst interessierte, bildlich
dargestellt und mit Zahlencodes versehen war. Der Spion konnte damit die
meisten seiner zu liefernden Informationen in einfachen Zahlentabellen
übermitteln. Um beim Militärischen zu bleiben, es war nicht nur möglich, auf
diese Art militärische Ausrüstungen zu benennen. Die Bilder umfassten auch
Uniformen, Dienstgrade, Art der Waffengattung bis hin zu Orden und Abzeichen
der Armeeangehörigen.
Walters
Dienststelle unterhielt in den Tagen, als ich die Bearbeitung übernahm, etwa 60
aktive Agenturen in der DDR. An der Ausweitung und Qualifizierung dieses Netzes
wurde eifrig gearbeitet. Neben der umfassenden Sammlung von
Spionageinformationen aller Art geriet immer mehr in den Vordergrund die Suche
und der Ausbau von Stützpunkten für die Lagerung von Waffen und Sprengstoffen,
die Schaffung von Funkstützpunkten, von Unterkünften für konterrevolutionären
Gruppen und von Nachrichtenschleusen. Die Agenten wurden auch in bestimmten
Abständen immer wieder abgefragt, ob sie auch im Falle eines bewaffneten
Konflikts bereit sind, weiter mit den Amerikanern Verbindung zu halten.
Die
Methoden zur Beschaffung von Namen neuer Werbungskandidaten waren vielfältig.
Man unterhielt ständige aktive Kontakte zu solchen Organisationen, die sich vor
allem dem Kampf gegen die DDR verschrieben hatten, extra dafür gegründet und
zum großen Teil von den Amerikanern finanziert wurden, wie die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher
Juristen, der Rundfunk im
Amerikanischen Sektor, die Ostbüros der SPD und
des DGB, die Westberliner
Politische Polizei und natürlich die
sogenannten Sichtungsstellen der westlichen Geheimdienste in den Aufnahmelagern
für DDR-Flüchtlinge. Von all denen holte man sich ständig Adressen von
DDR-Bürgern und erkundete Möglichkeiten, sie zu kontaktieren.
Es
war ja bekannt, das Ostbüro der SPD, inzwischen von
führenden Leuten der Partei selbst bestätigt, war eine Geheimdienstgründung.
Ursprünglich von den Engländern erdacht, geriet es sehr bald in
US-amerikanische Hände. Sie operierten ins Gebiet der DDR über Verbindungen,
die die Sozialdemokratie auch nach der Vereinigung zwischen KPD und SPD zur SED
1946 noch in den Osten unterhielt. Auch der
RIAS bemühte sich intensiv um Ostverbindungen. Mit seinen Rätselsendungen
der verschiedenen Art, die speziell auf Hörer aus dem Osten ausgerichtet waren,
bekam er viele Zuschriften ins Haus. Personen, die die bewusst einfach
gehaltenen Quizfragen richtig beantworteten, wurden dann nach Westberlin zur
Abholung ihrer in großer Zahl ausgeschütteten Gewinne eingeladen. Dabei wurden
sie raffiniert ausgefragt. Mit denen, die den US-Leuten ein interessantes
Persönlichkeitsbild boten, versuchte man in Kontakt zu bleiben, um sie dann in
geeigneter Form an sich zu binden. Damit wir in der DDR nicht dahinter kommen,
wer Briefe an den RIAS schrieb, gab
man nach jeder Sendung private Westberliner Deckadressen aus, die ständig
gewechselt wurden. Die Rückinformationen an die Briefschreiber aus der DDR
wurden mit fingierten Adressen aus dem Osten versehen und auch da in die
Briefkästen geworfen, weil man mit Recht annahm, dass sie da nicht so leicht in
unsere Hände geraten.
Neben
zwei weiteren US-Amerikanern waren es vor allem Deutsche mit faschistischer
Vergangenheit, die den hauptamtlichen Mitarbeiterbestand von Walters
Dienststelle ausmachten. Walter vertrat den Standpunkt, auf solche sei im Kampf
gegen den Bolschewismus hundertprozentig Verlass. So fanden wir dort einen
ehemaligen SS-Sturmführer, einen Wehrmachtsoffizier, den ehemaligen
Vorsitzenden der nazistischen Deutschen Partei und auch einen aus dem
kriminellen Milieu stammenden Typen, der eine ganz besondere Aufgabe hatte. Der
unterhielt eine Bande Jugendlicher, die man für alle möglichen Provokationen
einsetzen konnte. Captain Walter meinte, mit einigen Steinwürfen kann man aus jeder
normalen Demonstration eine politische Aktion machen. Durch in solche
Veranstaltungen hineingetragene Gewalt wird Gegengewalt herausgefordert und man
hat das, was man braucht. Dabei verwies er auf die Ereignisse des 17. Juni
1953, wo die Amerikaner mit dieser Methode dazu beigetragen haben, dass aus
anfänglich friedlichen Demonstrationen das wurde, als was es dann in die
Geschichte einging.
Diese
Truppe kam nicht nur im Osten zum Einsatz. Auch in Westberlin und in der BRD
warfen solche Leute bei dem Regime unliebsamen Demos Schaufenster ein, brannten
Müllcontainer an und bedrohten Sicherungskräfte, um Polizeieinsätze zu
provozieren und zu rechtfertigen. Wenn ich heutzutage manchmal höre, welche
Krawalle oft bei an sich vernünftigen Veranstaltungen entstehen, stellt sich
bei mir auch immer wieder die Frage: Mischt da jemand in den eben beschriebenen
Sinne mit? Auch die oft bei Veranstaltungen dem linken Milieu zugeschriebenen
randalierenden Vermummten, die da Chaos inszenieren, lassen da bei mir solche Gedanken
aufkommen.
Nachdem
ich mich einigermaßen mit dem ganzen Sachverhalt vertraut gemacht hatte, rief
mich mein Abteilungsleiter zu sich. Ich sollte mit ihm nach Erkner fahren.
Obwohl ihm das in seiner Dienststellung zustand, hatte er keinen eigenen Kraftfahrer.
Er fuhr seinen Wagen selbst oder ließ sich hin und wieder von einem seiner
Mitarbeiter transportieren. So nahm ich an, es sollte sich um einen solchen
Fall handeln. Unterwegs erfuhr ich, worum es ging. Er wollte mir einen seiner
Inoffiziellen Mitarbeiter zur weiteren Zusammenarbeit übergeben. Für mich war
das schon eine Überraschung. Es handelte sich nämlich um einen ehemaligen
leitenden Mitarbeiter der Walterschen CIC-Zentrale,
der aus Sicherheitsgründen zurückgezogen worden war. Von ihm erfuhr ich dann
die vielen Detailinformationen über die inneren Zustände in dieser Truppe und
über die Charaktere der dort tätigen Leute.
In
den Bezirksverwaltungen des MfS liefen mehrere Operative Vorgänge zu Walters
Aktivitäten. Ein Schwerpunkt war wohl dabei der Uranbergbau im Erzgebirge, also
die Wismut-AG im Raum Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz). Interessantes
Material lag auch aus den Verwaltungen Berlin, Cottbus, Dresden und
Frankfurt/Oder vor. Die Genossen von der Wismut hatten gerade eine interessante
Maßnahme laufen, in die ich einbezogen wurde. Der Leiter eines Materiallagers
der Wismut-AG war nach Westberlin geflüchtet. In seinem Verantwortungsbereich
hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben und die Kriminalpolizei ermittelte gegen
ihn. Zur gleichen Zeit lag er in Ehescheidung. Seine Frau hatte ihn aus der
Wohnung gewiesen und dann kam für ihn als SED-Mitglied noch ein Parteiverfahren
hinzu. Das alles überforderte seine Kräfte und in einer Kurzschlussreaktion, im
Glauben, sich den Problemen entziehen zu können, ging er in den Westen. Da
hatte er sich aber geirrt. In den Notaufnahmelagern, wo die DDR-Flüchtigen
gesammelt wurden, gab es die so genannten Sichtungsstellen der westlichen
Geheimdienste. Da musste jeder Angekommene, in der Reihenfolge US-Amerikaner,
Engländer, Franzosen durch. Wer für diese Leute als besonders interessant galt,
blieb bei der jeweiligen Firma hängen und wurde aus dem normalen Ablauf des
Verfahrens herausgenommen. Unser Wismutmann war für
die Amerikaner ein gefundenes Fressen. Der Uranbergbau galt ja für die Geheimdienste
aus nahe liegenden Gründen als Hauptangriffsziel.
In
den Westen gehende DDR-Bürger wurden in der Regel mit offenen Armen empfangen.
Wollte man jedoch jemanden, wie in diesem Falle, zur völligen Offenbarung zwingen
oder gar in geheimdienstliche Aktivitäten gegen die DDR einbinden, trieb man
mit diesen Personen oft ein übles Spiel. Um sie von sich abhängig zu machen,
wurden ihnen erst einmal Schwierigkeiten bereitet, aus denen sie ohne die
vermeintliche Hilfe der Amerikaner nicht wieder heraus kamen. Da man wusste,
dass manche, im konkreten Falle traf das ja zu, wegen zu erwartender
Strafverfolgung nicht wieder in die DDR zurück konnten, drohte man die
Aufenthaltsverweigerung für den Westen an, wenn sie ihre Fluchtgründe nicht
durch glaubwürdige Schriftstücke oder Zeugen beweisen konnten.
Wer
sich nun in seiner Not darauf einließ, der musste aus seinem früheren
Umgangskreis Bekannte nach Westberlin locken und sie dem Geheimdienst in die
Hände geben. Ließen sich solche DDR-Bürger, in der Annahme, für ihren Freund
oder Kollegen etwas Gutes zu tun, darauf ein, waren sie kompromittiert. Man
sagte ihnen ganz offen und brutal, wenn die DDR-Behörden von diesem ihrem
Kontakt etwas erfahren, werden sie mit Sicherheit Ärger bekommen. Und ob die
DDR davon etwas davon mitbekommt, teilte man den Betroffenen so nebenbei mit,
hängt weitgehend vom Wohlwollen der Amerikaner ab. Damit hatte man diese Leute
in der Hand und es gab nicht wenige Fälle wo daraus neue Agenten wurden. So etwas
nennt man normalerweise Erpressung. Das gehörte bei diesen Diensten aber zur
Normalität.
In
diese Situation war unser Wismutmann geraten. Seine
frühere politische Gesinnung hatte er noch nicht verloren. Mit dem
US-Geheimdienst wollte er sich auf keinen Fall einlassen. Schweren Herzens nahm
er Verbindung zu seiner geschiedenen Frau auf. Er bat sie um Nachforschungen,
ob gegen ihn noch strafrechtliche Maßnahmen laufen und unter welchen
Bedingungen er möglicherweise in die DDR zurückkehren kann. Von diesen Dingen
erfuhren unsere Genossen von der Wismutdienststelle.
Man sprach mit der Frau und gewann sie zur inoffiziellen Zusammenarbeit, also
als IM, um ein operatives Spiel, wie das in unserem Sprachgebrauch genannt
wurde, einzuleiten. Sie war bereit, nach Westberlin zu fahren und sich die
Probleme ihres Ehemaligen ausführlich schildern zu lassen und vor allem seine
Vorstellungen zu erkunden, wie er aus diesem Dilemma herauskommen will. Bei
einem zweiten Treffen nahm sie unseren Auftrag mit, ihn zu überzeugen, sich zu
einer Kontaktaufnahme mit der Staatssicherheit in Ostberlin bereit zu erklären.
Das hat funktioniert. Als neuer IM verließ er diese Zusammenkunft und trat in
unserem Auftrag in die Dienste des US-amerikanischen CIC. Da die nun notwendige
intensive Zusammenarbeit von Karl-Marx-Stadt aus nicht einfach zu bewältigen
war, bekam ich diese Aufgabe übertragen.
Jetzt,
wo er sich gegenüber den Amerikanern zugänglich zeigte, nahm die ganze
Angelegenheit schnell in unserem Sinne ihren Lauf. Der Zeuge, der jetzt von der
Wismut aus nach Westberlin reiste, war ein speziell dafür instruierter IM. Er
wurde schneller als wir annahmen von den Amerikanern angeworben und begann
damit seine Kariere als CIC-Agent unter unserer Führung. Bei unserem Freund im
Flüchtlingslager erschien dann der eingangs beschrieben Friedrich W. und
stellte sich als Beauftragter der Amerikaner vor. Das bis dahin erfolglose
Aufnahmeverfahren als Flüchtling wurde unkompliziert abgeschlossen, ein
Westberliner Personalausweis ausgestellt und eine Wohnung vermittelt. Nach
mehreren Kontaktgesprächen, in denen im Großen und Ganzen erklärt wurde, worum
es ging, wurde er von W. Cptn. Walter vorgestellt.
Dieser stellte die Forderung bei der Wismut-AG ein Agentennetz aufzubauen.
Vorerst
verblieb der IM unter der Anleitung von W. Er wurde auch in dessen privaten
Umgangskreis einbezogen. Dazu gehörte noch W.s Freundin, die »Blonde Rita«, wie
man sie nannte. Die war in die Geheimdiensttätigkeit mit einbezogen und
steuerte auch eigene Agenturen in der DDR. Bei den häufigen Zusammenkünften
floss immer reichlich Alkohol und es wurde viel gequatscht und vor allem auch
mit den Ergebnissen der Tätigkeit geprahlt. Für unsere Informationsgewinnung
war das eine echte Goldgrube, für unseren neuen Freund
aber eine gewaltige Strapaze, denn sein Standvermögen beim Trinken war nicht
sehr entwickelt.
Auch
Ch.,
der dem Alkohol zugetan war, fand in diesem Kreis seinen Platz. Wir konnten
damit seine Entwicklung ziemlich genau verfolgen. Auf der Grundlage des bei
seiner Beschäftigung bei der Vereinigung
der Opfer des Stalinismus notierten Adressenmaterials und der Anschriften
von Mithäftlingen aus den verschiedenen Strafanstalten der DDR, in denen er
gesessen hatte, begann er auftragsgemäß diese Leute anzuschreiben und sie unter
ausgedachten Vorwänden nach Westberlin einzuladen. Mehr als 60 Personen bekamen
solche Briefe. Für die Rückantwort bekamen sie Deckadressen in Westberlin
genannt. Wir haben sofort reagiert und versucht, diesen Personenkreis zu
ermitteln. Im Zusammenwirken mit den territorial zuständigen Diensteinheiten
haben wir Kontakte aufgenommen und es ist uns unter Mitwirken der zuständigen
Bezirksverwaltungen gelungen, unter den zehn Leuten, die Ch.
bei seiner Aktion für die Amerikaner gewinnen konnte, sieben als IM anzuwerben
Das war für den Anfang schon ein ganz gutes Ergebnis. Von Cptn.
Walter hatte Ch. ganz konkrete Ziele genannt
bekommen. Neben den allgemeinen Spionageaufträgen wirtschaftlicher,
militärischer und gesellschaftlicher Natur, die alle Agenten hatten, bekam er
konkrete Aufträge. Die betrafen bestimmte Produktionsstätten in Dresden,
Leipzig und Magdeburg und ein Treibstofflager im Süden der DDR. Eine spezielle
Aufgabe war die Schaffung einer Agentur in den Robur-Werken
in Zittau. Dort wurden Kraftfahrzeuge mit luftgekühltem Motor hergestellt, die
vor allem in den Export in Wüstengegenden der Dritten Welt gingen und dort vor
allem beim Militär zum Einsatz kamen. Da wollten die Amerikaner genaueres
wissen.
Wir
fanden dort einen IM der zuständigen Diensteinheit, der in persönliche
Schwierigkeiten geraten war. Eheprobleme, an denen er nicht ganz schuldlos war,
und in deren Folge auch Auseinandersetzungen in seinem Betriebskollektiv,
hatten ihm schwer zugesetzt. In einem Gespräch mit unserem Mitarbeiter äußerte
er einmal, am besten ist, man haut ab. Abhauen war allgemein die Bezeichnung
für in den Westen zu gehen. Diese Bemerkung ließ uns Überlegungen anstellen, um
dann zu sagen: Warum nicht? Die ganze Sache nahm ihren Lauf und ging für uns
ausgesprochen positiv aus. Oft waren für die Absicht, gezielt Personen an den
Gegner anzuschleusen, viele Versuche notwendig. In
vielen Fällen gelang es auch nicht. Hier hatten wir Erfolg. Unser Mann meldete
sich im Flüchtlingslager Marienfelde. Die US-Sichtungsstelle nahm ihn sofort
beiseite, offenbar hatte da Cptn. Walter dringenden
Informationsbedarf angemeldet, Ch. tauchte auf und
nahm die Angelegenheit in die Hand. In diesem Fall verlief die Geschichte
unkompliziert. Ihm erschien offenbar unser Mann sehr sympathisch. Der bekam
sogar eine Wohnung im gleichen Hause vermittelt, in dem Ch.
wohnte. Besser konnte es für uns nicht laufen. Zumal wir damit auch gleich eine
feste Position in dessen engerem Umfeld hatten.
Unter
diesen Bedingen ist es dann gelungen einen weiteren IM, der vor seinem Abgang
nach dem Westen in der Flugzeugindustrie in Dresden gearbeitet hatte,
einzuschleusen. Dem beschaffte Ch. auch eine Wohnung
an derselben Adresse. Wir hatten also dort gewissermaßen einen festen
Stützpunkt. In kurzer Zeit kannten wir von Ch.s
ungefähr zwanzig Agenten, die er bis dahin angeworben hatte, siebzehn mit Namen
und Adresse. Wie schon gesagt, sieben davon waren unsere eigenen Quellen. An
diesen Aktionen war eine ganze Reihe von MfS-Diensteinheiten in den Bezirken
beteiligt. Meine Aufgabe war, das alles zu koordinieren und die Planung der
Bearbeitung zu organisieren. Das war sehr zeitaufwändig und mit ständiger
Reisetätigkeit verbunden.
W.
hatte sich inzwischen auftragsgemäß auf die Schaffung von Stützpunkten nördlich
von Berlin für Waffenlager und die Unterbringung von Diversantengruppen
konzentriert. Von dem bereits erwähnten Mann von der Vereinigung der Opfer des
Stalinismus bekam er Adressen von alten Nazis, die in dieser Gegend wohnten.
Ausgewählt wurden Personen, die in einsamer Umgebung, möglichst in eigenen
abgelegenen Grundstücken wohnten und viel Platz für solche Vorhaben hatten.
Nach unseren ersten Erkenntnissen hatte er in diesen Tagen bereits acht solcher
Basen geschaffen. Die »Blonde Rita« war in diese Dinge fest eingebunden und
machte auch stellvertretend Treffs, wenn W. selbst nicht konnte.
Cptn. Walter war mit seinen neuen
Agentenführen sehr zufrieden. Mit unserer Hilfe war er in bestimmte Bereiche
der Wismut-AG eingedrungen, in denen die Amerikaner bisher noch keinen Fuß
fassen konnten. Für unsere dortigen Genossen war es eine anstrengende Aufgabe,
ständig neue Informationen zu basteln, die uns keinen Schaden zufügten aber die
US-Leute glücklich machten. Wir durften aber auch nicht so weit gehen, dass der
Verdacht entstand, jemand mischt da mit. Wir wussten also weitgehend, wo die
Amerikaner ihre Leute suchten und konnten sie ihnen gezielt anbieten. Das
heißt, auf verschiedene Weise suchten wir und warben IM und setzten sie so ins
Blickfeld, dass die Geheimdienstleute auf sie stoßen mussten. Einfach war das
nicht. Viel Kleinarbeit war nötig und viele Versuche gingen auch ins Leere. Am
Ende war jedoch die Erfolgsquote recht positiv.
Das
Vertrauen, das unsere eingeschleusten IM bei Cptn.
Walter wegen ihrer vermeintlichen Erfolge gewonnen hatten, zahlte sich aus. Es
machte ihn redselig und in seiner Selbstgefälligkeit gab er manchmal Dinge von
sich, die er aus seiner Sicht hätte besser für sich behalten sollen. Aus vielen
kleinen Bemerkungen und Andeutungen konnten wir bei gründlichem Sammeln und
Analysieren wertvolle operative Schlussfolgerungen ziehen.
Bei
der Auswertung der Walterschen Angeberei wurde ein
Spion identifiziert, der lange Jahre im Randgebiet im Norden von Berlin seine
Taten durchführte, sich nach Westberlin abgesetzt hatte und dort umgehend beim
Westberliner Senat eine leitende Stelle einnahm. Wer so vorzüglich behandelt
wurde, der musste schon Hervorragendes geleistet haben. Das Besondere an dem
Mann war, dass er aus seinem engeren Verwandten- und Bekanntenkreis eine Reihe
für den Geheimdienst wichtiger Leute zugeführt hatte, die nun ihre Mission
weiter ausübten. Also begannen wir uns dieses Umfeld näher anzusehen. Vor
seiner Flucht war er Bezirksschornsteinfegermeister in einem Gebiet mit hoher
Konzentration militärischer Objekte der Sowjetarmee gewesen. Eine bessere
Abdeckung als die, die dieser Beruf bot, konnte er kaum gehabt haben. Wer denkt
schon daran, wenn der Schwarze Mann auf den Dächern herum klettert, dass der
Böses im Schilde führt. Eher das Gegenteil ist der Fall. Gilt er doch
normalerweise als Glücksbringer.
Wir
waren bisher noch nicht darauf gekommen, auf welche Weise die Amerikaner die
technischen Ausrüstungen, wie zum Beispiel Funkgeräte oder die geplanten Waffen
und Sprengstoffe, in die DDR gebracht haben oder bringen wollten. Möglichkeiten
dafür gab es ja viele, aber die Erkenntnis, wie es konkret lief, fehlte noch.
Unter den Verwandten des abgegangenen Spions war ein Bestattungsunternehmer und
der schaffte das Material bei seinen Transporten versteckt in Särgen unter den
darin liegenden Leichen über die Grenze. Auf solche Gedanken war bisher keiner
von uns gekommen. Der Mann war schnell ermittelt. Es entstand aber die nächste
Frage: Wie kommt das Zeug an die endgültigen Empfänger? Dazu gab es einen
weiteren Hinweis. Ein Mitarbeiter einer Bäckerei aus Berlin-Pankow hatte sich
von Amerikanern kaufen lassen und holte die Gegenstände bei dem
Leichentransporteur ab, vergrub die Dinge am Stadtrand in so genannten Toten
Briefkästen, dokumentierte die Verstecke und gab die Lagepläne zurück an den
Geheimdienst. Sie wurden dann bei Bedarf an die Endempfänger gegeben und die
konnten das Zeug abholen. Ein ganz wichtiger Hinweis, der zur Identifizierung
des Agenten diente, war: Die besagte Bäckerei sollte in der Zeit, als wir die
Information erhielten, Urlaub machen und geschlossen sein.
Auf
dem Amtswege, also über die zuständigen Stellen beim Rat des Stadtbezirks, war
da nichts zu klären. Wir wollten auch nicht viel Aufhebens
machen. Die Gefahr, dass unsere Aktivitäten an der falschen Stelle bekannt
werden, war ja immer gegeben. So rüsteten wir einen IM als Kriminalisten aus
und ließen ihn planmäßig durch die Straßen Pankows laufen und nach einer
geschlossenen Bäckerei suchen. Das hat zwar einige Zeit in Anspruch genommen,
aber wir hatten Erfolg. Der gesuchte Mann war also gefunden. Wie schon gesagt,
ein Familienvater mit sechs Kindern und darum mit seinem geringen Einkommen
ständig in Geldnot. Für die Amerikaner war das ein leichter Fang. Sie boten für
die geleisteten Dienste eine relativ kräftige Entlohnung. Ohne große politische
Ambitionen und ohne die Tragweite seines Handelns richtig zu erfassen, hatte er
sich auf diese gefährliche Geschichte eingelassen.
Die
Ergebnisse unserer Überprüfungen ergaben: kein verbissener Gegner der DDR. So
wurde der Gedanke verfolgt, den Mann zu überwerben, um damit weitere
Aktivitäten des Geheimdienstes zu erkennen. Er wurde konspirativ zugeführt, wie
das im operativen Sprachgebrauch hieß und mit der Frage konfrontiert, entweder
nach Recht und Gesetz für die begangene Straftat verurteilt zu werden oder zur
Wiedergutmachung (juristisch formuliert: tätige Reue) mit uns
zusammenzuarbeiten und dadurch weiteren Schaden von der DDR abzuwenden. Die
Entscheidung fiel ihm offenbar nicht schwer. Mit ihm als neuen IM bin ich dann
in den späten Abendstunden zusammen mit Günter Kratzsch,
damals Referatsleiter in der Abteilung II/1, der Spionageabwehr, durch die
Wälder rund um Berlin gezogen und wir gruben die verborgenen Schätze wieder
aus. Die Inhalte der Toten Briefkästen waren nicht für den sofortigen Gebrauch
bestimmt. Es waren hauptsächlich Ausrüstungen für den so genannten Tag X, also
für den Zeitpunkt, wo die USA militärisch zuschlagen wollten. Wir mussten also
nicht damit rechnen, dass unsere Handlungen gleich erkannt wurden.
An
dieser Stelle mache ich mal eine Bemerkung zu den Begriffen »konspirative
Zuführung« und »Werbung unter Druck«. Das wirft man ja heute dem MfS als
besonders gemeine Arbeitsmethode vor. Es gibt da eine ganze Reihe von Personen,
die mit uns in Konflikt geraten waren, von denen man hört, sie seien
hinterhältig weggefangen und zur Zusammenarbeit gepresst worden – und sie
erzielen damit natürlich in der heutzutage bei diesem Thema aufgeheizten
Atmosphäre Wirkung. Der Kalte Krieg, von dem manche reden, ihn aber nur als
Wortgefechte am Rednerpult betrachten, war für unsere Mitarbeiter harte
Realität. Und kalt war er in vielen Fällen überhaupt nicht. Da wurde, wie man
so schön sagt, mit scharfen Säbeln gefochten. Die wirksamste Bekämpfung
gegnerischer Geheimdienste bestand im Eindringen in ihre Systeme und die
Lähmung ihrer Aktivitäten von Innen heraus. Am
Effektivsten war das natürlich, wenn man Personen, die schon drin waren,
»herausbrechen«, d. h. zur Zusammenarbeit gewinnen konnte. Das funktionierte in
der Regel nur mit dieser Methode. In dem Moment, wo unsere Maßnahmen öffentlich
wurden, wäre ja ein weiteres Vorgehen in diese Richtung sinnlos gewesen. Aus
diesem Grunde wurden in den meisten Fällen vorgesehene Festnahmen von
Geheimdienstagenten als konspirative Zuführung organisiert. Es durfte erst
einmal kein Außenstehender etwas davon mitbekommen. Das Gesetz ließ bei Gefahr
im Verzuge eine solche Maßnahme ohne richterlichen Haftbefehl innerhalb einer
Frist von 24 Stunden zu. Das ist übrigens auch in der bundesdeutschen
Gesetzgebung so. Um jemanden ohne Aufsehen und ohne Zeugen in die Hände zu
bekommen, war die Anwendung von Legenden und Täuschungen notwendig. Gelang das,
konnte man den Betreffenden bei Annahme unseres Angebots ohne Probleme und
Erklärungen gegenüber irgendjemanden wieder laufen
lassen. Wäre diese Zuführung allerdings öffentlich geworden, war eine
Überwerbung sinnlos geworden.
Was
ist denn daran unmoralisch oder gar verwerflich, wenn eine Person, wie eben der
genannte Bäckergeselle, vor die Frage gestellt wird, entweder für eine
begangene Straftat vor Gericht zu gehen oder durch Zusammenarbeit mit den
Sicherheitsorganen seine Schuld wieder abzutragen und weitere Straftaten zu
verhindern? Diese Anwerbung unter Druck, wie es im innerdienstlichen
Sprachgebrauch hieß, machte dabei einen sehr geringen Teil in der IM-Gewinnung
aus und wurde bei Personen angewandt, die bereits Straftaten begangen hatten.
Dazu muss ich sagen, im Laufe der Zusammenarbeit erwuchsen daraus, wie auch in
diesem Falle, oft Überzeugung und gegenseitiges Vertrauen.
Besonders
auf einen Agenten in der Volkskammer der DDR war Cptn.
Walter stolz. Noch während der Sitzungen des Parlaments, wusste er, was dort
verhandelt wurde. Diesen Mann aus dem Verwandtenkreis des Schornsteinfegers
fanden wir in Cottbus. Er gehörte zur CDU-Fraktion und wurde nach den ersten
Erkundungen als politisch aktiver und staatstreuer DDR-Bürger eingeschätzt.
Durch seine Abgeordnetenimmunität war eine operative Bearbeitung schwierig. Die
erforderlichen Maßnahmen konnten aus diesem Grunde nicht ohne weiteres
durchgeführt werden. Die Beweise gegen ihn waren inoffizieller Natur und wir
wollten auf keinen Fall unsere Quellen gefährden. Um diese Geschichte loszuwerden
und akuten Schaden abzuwenden, entschlossen wir uns, unter einer Legende
Kontakt aufzunehmen und seine unmittelbare Reaktion darauf zu registrieren. Ich
suchte ihn während eines Berlinaufenthaltes in seiner hier gelegenen
Zweitwohnung auf, trug ihm eine ausgedachte Agentengeschichte mit der Bitte
vor, uns zu helfen. Mein Erscheinen hatte ihn sichtlich nervös gemacht. Er
zwang sich deutlich wahrnehmbar zur Gelassenheit und sagte alles zu, was ich
von ihm wollte. Nach Vereinbarung eines neuen Gesprächstermins und meiner
Verabschiedung setzte er sich sofort in die S-Bahn nach Westberlin und kam
nicht wieder. Das hatten wir einkalkuliert und waren auf diese Weise das
Problem los.
Ein
weiterer Agent aus dem Verwandtenkreis des Schornsteinfegers überraschte uns.
Der ehemalige Chef der Betriebsfeuerwehr aus einem für die DDR-Wirtschaft
wichtigen Berliner Großbetrieb und aktives Mitglied der SED diente den
Amerikanern. Wir konnten es kaum glauben. In seiner Funktion als einer der
höchsten Geheimnisträger mit Zugang zu allen sensiblen Bereichen, der wusste wo
man drehen und schalten musste, um den Betrieb zu stören, hatte sich für diese
Sache hingegeben. Durch ihn waren jahrelang Informationen an den Geheimdienst
geflossen, deren konkreter Schaden zwar nicht genau messbar war aber
unmittelbare Gefahren für die Sicherheit des gesamten Unternehmens
heraufbeschworen hatte.
Gegen
seine spätere Festnahme gab es aus der sonst progressiven Verwandtschaft
heftige Proteste. Wir hätten uns geirrt oder wären falschen Anschuldigungen
aufgesessen, wurde behauptet. Die Tatsachen sagten aber anderes aus. Nach
seiner Verurteilung bin ich mit seiner Tochter auf ihren Wunsch nach
Brandenburg gefahren, wo er seine Haftstrafe verbüßte und habe ihr ermöglicht,
ein längeres Gespräch mit ihm zu führen, damit sie selbst hört, was da gelaufen
war. Vor uns saß ein Mann mit auf diesem Gebiet unbeschreiblicher Naivität.
Politisch durchaus interessiert und auch gebildet, war für ihn die gesamte
Geheimdienstproblematik lediglich ein Thema für Kriminal- und Abenteuerromane.
Er gehörte zu der Sorte von Partei- und Staatsfunktionären, die unsere Hinweise
und Warnungen als die von immer schwarzsehenden Spinnern ansahen. Leider gab es
nicht wenige aus diesen Kreisen mit ähnlicher Denkweise.
Bisher
habe ich erzählt, wie wir in gegnerische Geheimdienste eingedrungen sind. Die
haben natürlich das Gleiche mit uns versucht. Von der Berliner Dienststelle gab
es einen Hinweis über einen Mitarbeiter aus der Gerichtsmedizin der
Humboldt-Universität, der in seinem Umgangskreis unbekümmert von seinem
Westberliner Bruder und dessen Beziehungen zum US-Geheimdienst sprach. Weil
dabei auch der Name Cptn. Walter fiel, kam das auf
meinen Tisch. Der Ostbruder von den beiden lebte in einer Gartenkolonie direkt
an der Grenze. Mein erster Gedanke war, hier es handelt sich möglicherweise um
eine dieser Schleusen, die von den Amerikaner mit hoher Intensität in diesen
Gegenden gesucht wurden. Meine Erkundungen ergaben aber ein anders Bild.
Da
er an der Universität offen über die Geheimdienstkontakte seines Bruders
sprach, habe ich ihn eines Tages in seinem Domizil aufgesucht. Er war gar nicht
verwundert. Meistens war es so, wenn man als Mitarbeiter des MfS in einer
diffizilen Sache jemanden ansprach, gab es erst einmal ein gegenseitiges
Herantasten. Es ging gleich lustig darauf los, er bestätigte die
Geheimdienstkontakte seines Bruders und schlug auch gleich vor, wenn wir dessen
Sicherheit garantierten, ihn zu einer nächsten Zusammenkunft mitzubringen.
Seine Beziehungen zu den Amis seien rein finanzieller Natur, ein Gegner von uns
wäre er nicht und wir könnten sicher bei einem Kontakt zu ihm davon profitieren
Das lief alles verdächtig glatt und problemlos, so dass Vorsicht geboten war.
Wir trafen uns dann kurze Zeit später in einer der kleinen Imbissgaststätten am
Spreehafen im Treptower Park. Beide erklärten sich bereit, noch ehe sie richtig
gefragt wurden, für uns gegen die Amerikaner arbeiten zu wollen. Sie hatten
auch schon Decknamen für sich festgelegt. Die Informationen, die dann bei
weiteren Zusammenkünften über die Waltersche
Dienststelle kamen, waren sehr mager. Nach unserem bisherigen Erkenntnisstand
hätte, wenn guter Wille vorhanden gewesen wäre, mehr kommen müssen.
Die
Klärung der Angelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Einmal war ich
etwas zeitig zu einem Treff nach Treptow gefahren. Eine andere Sache war
schneller als geplant abgelaufen und ich wollte dazwischen nicht noch mal
zurück zu Dienststelle. Auf den S-Bahnsteig sah ich, wie mein Freund eilig in
den Zug nach Westberlin stieg. Zur vereinbarten Zusammenkunft erschien er
verspätet und entschuldigte sich damit, nicht rechtzeitig von seiner
Arbeitsstelle weg gekommen zu sein. Hier stimmte etwas nicht. Sein Arbeitsort
lag doch in entgegen gesetzter Richtung und nicht dort, wo ich ihn vor einer
halben Stunde habe hinfahren sehen. Beim kommenden Treff habe ich dann eigene
Beobachter mitgenommen. Die stellten eindeutig fest, er war nicht allein. Mit
ihm war eine Begleitung der anderen Seite, die unser Zusammentreffen im Blick
hatte. Der Verdacht eines Doppelspiels war ziemlich eindeutig. Nach gründlichen
Überlegungen haben wir beschlossen, unsere Erkenntnis nicht preis zu geben und
dieses Spiel mitzumachen. Auf diese Weise haben wir die Amerikaner lange Zeit
mit Desinformationen versorgt.
Wie
diese ausgesehen haben? Ganz einfach. Mit ausgedachten Aktionen unsererseits in
Westberlin haben wir Spuren gelegt, die die US-Amerikaner, wenn sie um ihre
Interessen besorgt waren, verfolgen mussten. Das hat bei denen Kräfte gebunden,
die nicht gegen uns ins Feld geführt werden konnten.
Ein
anderes Beispiel. Ein Selbststeller hatte sich bei uns als Kurier des
US-Geheimdienstes gemeldet, weil er angeblich eingesehen hatte, dass das eine
unmoralische Sache war, für die er sich nicht länger missbrauchen lassen
wollte. Als DDR-Flüchtling lebte er in Westberlin und war von den Amerikanern
mit DDR-Personaldokumenten unter falschem Namen ausgestattet worden. Er
erschien stets plötzlich zu verschiedenen Tag- und manchmal auch zu Nachtzeiten
und zeigte uns Briefsendungen, die er irgendwo in der Umgebung Berlins an
geheimen Stellen ablegen sollte. Die ganze Sache war aber so primitiv gemacht
und widersprach allen Erfahrungen, die wir hatten, dass der Verdacht, wir
werden hier sinnlos beschäftigt, schnell ausreifte.
Wir haben dem Mann vorsichtig durchblicken lassen, wie er durch uns
eingeschätzt wird und er blieb künftig fern. Eine operative Bearbeitung hätte
viel Kraft und Zeit gekostet und nicht viel eingebracht.
In
der Zusammenarbeit mit IM auf diesem Gebiet benutzten wir als Mitarbeiter nicht
unsere Klarnamen. In einem weiteren Fall sprach mich ein Westberliner
Kontaktpartner einmal mit meinem richtigen Namen an. Er erschrak danach
offensichtlich und wurde nervös. Ich habe getan, als hätte ich nichts bemerkt
und das Gespräch normal fortgesetzt. Die Sache war klar. Woher sollte jemand,
mit dem ich vorher nichts zu tun hatte, meinen Namen kennen. Das konnte nur vom
Geheimdienst kommen. In den Geheimdienstzentralen hatte man natürlich im Laufe
der Jahre unsere Identität erkannt. Auch hier haben wir die Sache laufen lassen
und den Mann mit ausgedachten Begründungen Aufträge in Westberlin ausführen
lassen, die denen sicher einige Arbeit gemacht haben.
In
der Gegend am Wannsee, unmittelbar an der Grenze zu Potsdam, gab es auf
Westberliner Seite ein kleines Bordell mit niedrigen Preisen. So um die
fünfzehn Westmark hat damals eine Visite dort gekostet. Das waren noch Zeiten.
Früher war eben alles besser. Vor allem Kundschaft aus dem grenznahen Raum der
DDR vergnügte sich dort. Die Waltersche Dienststelle
hatte in diesem Etablissement einen Zuhälter mit dem Auftrag, die Adressen von
DDR-Kundschaft festzustellen. Das sollte als Mittel zur Erpressung dieser Leute
genutzt werden. Wer wollte schon, dass man zuhause, womöglich sogar die
Ehefrau, erfährt, wo und wie man da seine Freizeit verbringt. Dieser Agent
fühlte sich bei dieser Sache nicht sehr wohl. Ihm gefiel zwar das Geld der
Amis, ihn plagte aber die Angst, im Osten deswegen erkannt zu werden. Dort
lebte nämlich seine Mutter, zu der er den persönlichen Kontakt auf keinen Fall
abbrechen wollte. Was er wirklich trieb, wusste die Mutter nicht. Sie glaubte
ihn als einen Angestellten in der Gastronomie tätig. Im gewissen Sinne stimmte
das ja auch.
Bei
einem Besuch seiner Mutter, mit der wir unter der Legende, Hilfe bei der
Aufklärung von Kriminalität in ihrer Wohnumgebung zu erhalten, Kontakt
hergestellt hatten, nahmen wir mit ihm Verbindung auf. Es kam zum Gespräch und
nach einiger Zeit äußerte er sich auch zu seinen Geheimdienstbeziehungen. Er
erklärte die Bereitschaft zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit uns. Sicher
spielte in diesem Falle auch seine Hoffnung auf Belohnung eine Rolle. Ob wir
von ihm alles erfahren haben, war ich mir nicht sicher. Aber eine ganze Reihe
von entstandenen operativ interessanten Verbindungen zu bestimmten Personen
konnten wir doch feststellen und an die zuständigen Diensteinheiten
weiterleiten.
Besondere
Aktionen gab es auch. Eines Tages rief einer unserer IM aus der US-Zentrale
unter Verwendung eines besonderen Kennwortes an, das für außergewöhnliche Fälle
festgelegt war und einen sofortigen Treff erforderte. Am vereinbarten Ort kamen
wir zusammen. Er zeigte mir einen mit fiktiven Namen ausgestellten
DDR-Personalausweis mit seinem Passbild und aus der Westentasche zog er eine
amerikanische Armeepistole. Diese Ausrüstung hatte er und ein anderer Agent,
den er bisher selbst nicht kannte, soeben von Cptn.
Walter erhalten und den Auftrag bekommen, mit der Bahn nach Dessau zu fahren.
Dort war einem Offizier der sowjetischen Garnison ein Umschlag zu übergeben.
Darin befanden sich ebenfalls gefälschte Personaldokumente, mit denen er
zusammen mit seiner Familie nach Westberlin reisen konnte. Unser Mann und sein
Kumpel sollten die Leute dabei begleiten und ihnen hilfreich zur Seite stehen.
Also eine perfekt vorbereitete vermeintliche Fahnenflucht war da im Gange.
Viel
Zeit zum Nachdenken war nicht gegeben. Wir verständigten den für die HA II
zuständigen sowjetischen Verbindungsoffizier. Der entschloss sich selbst mit
nach Dessau zu fahren. Er nahm das Auto und ich empfand es als günstiger, in
Sichtweite meines IM mit dem Zug zu reisen, ohne dabei mit ihm direkten Kontakt
zu haben. Zur gleichen Zeit beorderten wir eine Beobachtergruppe nach Dessau.
In der Kreisdienstelle haben wir eine Art Führungspunkt eingerichtet und von da
aus die Sache dirigiert. Unsere Beobachter stellten die Dokumentenübergabe an
den Offizier fest, sahen dann aber, dass der sich unmittelbar danach mit zwei Zivilisten
traf, ihnen die erhaltenen Papiere zeigte und mit ihnen gemeinsam das
Kasernengelände betrat. Die Sache war demnach ziemlich klar. Hier trieb die
Militärabwehr ein Spiel gegen den amerikanischen Geheimdienst. Der Offizier war
ihr IM und sie wollten Agenten fassen.
Jetzt
war Gefahr im Verzuge. Wir hätten mit den sowjetischen Genossen Verbindung
aufnehmen können um die Geschichte abzubrechen. Dabei wäre es aber einem
größeren Personenkreis bekannt geworden, dass eine Quelle von uns im Spiel war.
Das musste vermieden werden. Kurz entschlossen beauftragten wir unsere eigenen
Beobachter, sich so zu benehmen, dass ihre Beschattung bemerkt wird. Mir war es
möglich, meinen Mann noch von diesem Vorhaben zu informieren. Die Sache verlief
wie gedacht. Sein Kollege geriet fast in Panik und verlangte den sofortigen
Abbruch der Aktion und die Rückfahrt nach Berlin. So geschah es dann auch. Sie
nahmen den nächsten Zug und berichteten dem enttäuschten Cptn.
Walter von dem Misserfolg des Unternehmens. Für die sowjetischen Partner der
Militärabwehr war das eine Niederlage. Sie hatten wohl viel Zeit und Kraft
investiert, um im Kampf gegen die US-Geheimdienste zu einem Erfolg zu kommen.
Nun war alles im Handumdrehen gescheitert. Für uns war wichtig, unser Mann war
gerettet. Wäre die Geschichte gelaufen, wie es von sowjetischer Seite geplant
war, hätten wir unsere Quelle zurückziehen müssen. Das wäre ein empfindlicher
Verlust gewesen.
Die
US-Geheimdienste arbeiteten neben ihren Agenten mit fester Auftragsstruktur
auch mit einer größeren Anzahl so genannter Reiseagenten. Das waren leicht
erreichbare Leute, die zeitlich unabhängig waren und bei Bedarf jederzeit zur
Verfügung standen. In der Regel kamen dazu mobile Rentner zum Einsatz. Die
wurden losgeschickt, um schnell bestimmte aktuelle Informationen zu beschaffen
oder sie zu überprüfen, zum Beispiel, wenn auf unserem Territorium
Militärbewegungen stattfanden oder sich andere lokale Ereignisse in dieser
Richtung abspielten. Ein Beispiel dazu aus der eigenen Praxis.
Einer
der Abteilungsleiter von Cptn. Walter erzählte von
einem neuen Agenten, bei dem er dabei war, ihn für einen solchen Zweck zu
gewinnen. Es handelte sich um einen gerade in Rente gehenden Angestellten einer
Kreissparkasse am Rande von Berlin. Das wäre ein Mensch, der unbedingt im
Ruhestand noch eine Beschäftigung braucht und deswegen besonders geeignet für
diese Aufgabe schien. Für mich war es nicht sehr schwer, diesen Mann zu
ermitteln. In einer Berliner Randgemeinde fand ich ihn. Nachdem ich einiges zu
seinem Persönlichkeitsbild zusammengetragen und mir ein ungefähres Bild von ihm
machen konnte, beschloss ich, unter einer Legende mit ihm zu reden. Wäre er
nicht auf meine Gespräche eingegangen, hätte ich mich, ohne den Grund für mein
Interesse sichtbar werden zu lassen, wieder verabschieden können. Nach
Recherchen bei der örtlichen Kriminalpolizei ergab sich ein Anlass für meine
Gespräche. In seiner näheren Umgebung wurde wegen Einbrüchen in Gartenlauben
ermittelt. Ich klinkte mich da ein und befragte ihn, ob er zu dieser
Angelegenheit Hinweise geben konnte. Er erwies sich als aufgeschlossener und
interessanter Gesprächspartner, der allerdings zur Einbruchsgeschichte wenig
sagen konnte. Die Bereitschaft, sich etwas um diese Dinge zu kümmern, gab er
und so war die Voraussetzung für weitere Kontakte vorhanden. Wir redeten dann
nicht nur über die konkrete Sache, sondern kamen auch zu Debatten über Gott und
die Welt, wie man so schön sagt – und das war ja eigentlich meine Absicht.
Er
erzählte mir dabei auch von einem Verwandten in Westberlin, zu dem er in der
Vergangenheit nur lockere Kontakte hatte, der sich aber in letzter Zeit sehr um
ihn bemühte. Neulich hätte er von ihm für eine Gefälligkeit sogar 50.- Westmark
bekommen. Das war zwar alles etwas eigenartig, aber es gibt ja heutzutage so
manches, was man nicht gleich versteht, bemerkte er und warum soll man es nicht
tun, wenn es Geld bringt und die Freizeit etwas bereichert. Unser Rentner
sollte an einen bestimmten Ort in die Nähe von Magdeburg fahren und dort einige
Fotos anfertigen. Der Auftraggeber hatte dort seine Jugend verbracht und jetzt,
wo er an der Familienchronik arbeitet, stellte er fest, dass ihm aus dieser
Gegend einige Bilder fehlen. Die brauchte er nun.
Mein
Gesprächspartner war ein reiselustiger Mensch, begab sich an diese Stelle und
traf dort auf eine sowjetische Militäreinheit, die im Rahmen der gerade
stattfindenden Herbstmanöver mit gepanzerten Fahrzeugen eine Flussdurchquerung
übte. Er verzichtete aufs Fotografieren und berichtete seinem Auftraggeber vom
Misserfolg. Der war aber gar nicht unzufrieden mit dieser Botschaft und ließ
sich mit der Bemerkung, Bekannte von ihm hätten großes Interesse an solchen
Dingen und würden sogar Geld dafür zahlen, ausführlich schildern, was da
gelaufen war. Mein Mann war misstrauisch geworden und erwog, die Verbindung
einzuschränken. Er vermutete richtig, er wollte sich auf keinen Fall in ein
Abenteuer einlassen. Ich dachte natürlich anders darüber und nach einigen
weiteren Diskussionen zu diesem Thema einigten wir uns auf ein weiteres
Zusammenwirken. Ich hatte damit einen neuen IM und die Amerikaner einen
weiteren Reisespion, allerdings ohne Nutzen davon zu haben.
Auf
dieser Ebene hatten die Amis noch eine weitere Kategorie von Agenten. An den
Garnisonsstandorten der Sowjetarmee durchwühlten sie systematisch die
Müllplätze, wo die Abfälle aus den Kasernen entsorgt wurden. Alle Arten von
beschriebenem Papier, ganz gleich zu welchem Zweck es vorher gebraucht worden
war und in welchem Zustand es sich befand, wurde gesammelt und nach Westberlin
gebracht. Besonders scharf war man auf privaten Briefverkehr der
Militärangehörigen mit ihren Angehörigen in der Heimat und umgekehrt, der mit
dem Inhalt von Papierkörben auf die Müllhalden kam. Der Sinn dieser Aktion war,
die Charaktere von Soldaten zu erkennen, um mögliche Anhaltspunkte für eine
Kontaktierung zu erhalten und sie möglicherweise zur Zusammenarbeit zu
gewinnen. Diese oft eklige Sammeltätigkeit wurde gut bezahlt. Für unsere
territorial zuständigen Diensteinheiten gab es da Ansatzpunkte zu Erkennung
dieser Sammler im Auftrag der Amerikaner. Die in der DDR angeworbenen und
tätigen Agenten erhielten ansonsten in der Regel monatlich 80 D-Mark und die
Fahrtkosten nach Berlin ersetzt. Zusammenkünfte mit ihnen fanden in regelmäßigen
Abständen, je nach Bedeutung, in ein bis vier Wochenabständen in verschiedenen
Treffquartieren in Westberlin, sie nannten das Stützpunkte, statt.
Uns
war da inzwischen eine ganze Reihe von Adressen bekannt geworden. Die
Auftragserteilung an die Agenten wurde immer mehr intensiviert und
spezialisiert. W. und Ch. hatten sich hauptsächlich
auf ausgewählte militärische Objekte und Einrichtungen in Brandenburg,
Dresden, Leipzig, Frankfurt/Oder und Magdeburg konzentriert. Dazu kamen als
neue Ziele die sowjetischen Einrichtungen und Verwaltungen in Berlin-Karlshorst. Im Raum Dresden war es der Truppenübungsplatz Königsbrück, den man hauptsächlich im Visier hatte. Wegen
seiner besonderen Möglichkeiten wurde Ch. zeitweise
an die US-Geheimdienststelle Onkel-Tom-Straße in Berlin-Zahlendorf delegiert,
die ihm spezielle Aufgaben übertrug.
Jeder
Spion wurde auf Weisung der Amerikaner bei jeder Zusammenkunft in zunehmenden
Maße zu seinem persönlichen Umfeld, zu den privaten Verhältnissen und
Beziehungen, zu den Zuständen an seiner Arbeitsstelle, zum Freundes- und
Bekanntenkreis und zur allgemeinen Lage in seinem Lebensumfeld befragt. All das
wurde gründlich dokumentiert. Sie hatten damals noch nicht die
Sattelitenüberwachung und auch das Handy mit seinen vielen Möglichkeiten gab es
noch nicht. Der Informationshunger war aber nicht weniger unersättlich als
heute. Es wurden auch Einschätzungen von Versammlungen, anderen Veranstaltungen
und Kundgebungen abgefragt. Auch das Verhalten und Beurteilen von konkreten
Personen bei diesen Anlässen war von Interesse. Die Agenten wurden
aufgefordert, aktuelle örtliche Zeitungen und Veröffentlichung aus ihrer
Umgebung und ihrem Wirkungsbereich sowie ständig neue Stadtpläne mitzubringen.
Besonders gefragt waren auch Kenntnisse über Angehörige bewaffneter Organe der
DDR und persönliche Beziehungen zu diesen.
Man
begann für die künftige Tätigkeit bessere und schnellere
Nachrichtenverbindungen aufzubauen. Vor allem der Ausbau von Funkstützpunkten
wurde forciert. Jeder Spion bekam den Auftrag, in seiner Nähe »Tote
Briefkästen« anzulegen, damit ihm Materialien schneller übermittelt werden
können. Mitte des Jahres 1956 wurde noch mal jedem eine Liste mit Fragen
vorgelegt, ich habe das weiter vorn schon erwähnt, wo unter anderem die Bereitschaft
erklärt werden sollte, ob er im Kriegsfalle weiter mitmachen will,
einschließlich aller Konsequenzen, die damit verbunden waren. Es wurde
aufgefordert zu prüfen, ob man Mitglied der Sektion Funken in der Gesellschaft
für Sport und Technik (GST) werden kann, um sein Interesse für die Funkerei und die damit verbundene Technik zu legalisieren.
W., der sich schon geraume Zeit damit intensiv beschäftigte, hatte bereits im
Raum Berlin-Frohnau und -Lübars zwei funktionsfähige
Grenzschleusen mit dazugehörigen Funkstützpunkten installiert. Eine
Telefonschleuse hatte er an der Havel im französischen Sektor geschaffen.
Auf
operativem Wege haben wir das den Franzosen zugespielt, so als ob wir da im
Gange gewesen wären. Die haben sich darauf gestürzt und W. bei einem seiner
nächsten Kontrollgänge attackiert. Dabei wurde sein Schlauchboot versenkt. Erst
danach haben sie bemerkt, dass sie mit ihrem eigenen Waffenbruder in Konflikt
geraten waren.
Diese
alltäglichen Abläufe wurden am 26. Juni 1956 durch eine nun nicht alltägliche
Geschichte unterbrochen. Mein Chef rief mich zu sich, um mit ihm gemeinsam nach
Altglienicke zu fahren. Es war eilig, ich sollte
alles stehen und liegen lassen. Worum es ging, wusste er selber nicht. Gerufen
hatte ihn der KGB-Verbindungsoffizier. An dem Punkt, wo die Hauptzufahrtsstraße
aus dem Süden der DDR nach dem Osten Berlins ankam, stand jenseits der Grenze
auf Westberliner Territorium seit einigen Jahren eine von den USA errichtete
Radarstation. Allgemein nahmen wir an, sie diente der Überwachung unseres in
mittelbarer Nähe liegenden Flughafens Berlin-Schönefeld.
Bei
der Ankunft an besagter Stelle sahen wir vor dem amerikanischen Objekt auf
unserer Seite der Grenze einen großen Erdhaufen, einen Bagger und davor
sowjetische Militärposten mit der Maschinenpistole im Anschlag. In das
ausgehobene mehrere Meter tiefe Loch war eine lange Leiter gestellt, auf der
wir in Begleitung unseres sowjetischen Partners in einen mit Schneidbrennern
aufgetrennten stählernen Tunnel hinab stiegen. Auf der Westseite war er durch
eine Sandsackbarriere mit einem kleinen Guckloch und einem offenbar in großer
Eile handgemalten Schild: Amerikanischer Sektor – Betreten verboten!, abgeschlossen. Nach Osten hin ging es einige hundert
Meter weit unter dicken Kabelsträngen in eine kleine Kammer. Dort waren die
Telefonleitungen der sowjetischen Armee, die von Berlin aus in die Zentrale
ihres Oberkommandos nach Wünsdorf gingen, angezapft
worden. Eine Vielzahl von Geräten mit glimmenden Lampen war da noch in Betrieb.
Die Amerikaner müssen durch diese Entdeckung so schockiert gewesen sein, dass
sie selbst vergaßen, den Strom abzuschalten.
Eine
Spionageaktion dieser Art hat alle überrascht. Keiner von uns, auch unser
KGB-Partner nicht, wussten zu dieser Zeit, dass der sowjetische Geheimdienst
dieses Projekt von Anfang an kannte, sich rechtzeitig darauf einrichtete und
die Sache in aller Ruhe laufen ließ. Als die Amerikaner dann damit fertig
waren, den Erfolg feierten und die Beteiligten ehrten, beschloss man in Moskau,
die Geschichte öffentlich zu machen. Wie das geschehen ist, erlebten wir gerade
hautnah. Zwanzig Jahre später wurde ich noch einmal an das alles direkt
erinnert. Bei meiner Tätigkeit im Bezirk Gera hatten wir einen
KGB-Verbindungsoffizier. Das war der Mann, der in den 50er Jahren den
sowjetischen Kundschafter in London führte, der die Hinweise auf den geplanten
Tunnelbau gegeben hat.
Mit
einer neuen Linie der US-Amerikaner wurden wir konfrontiert. Sie beauftragten
geeignete Agenten, Urlaubs- und Touristenreisen an vorgegebene Ziele in die
Sowjetunion zu unternehmen. Dort sollten sie von verschiedenen Stellen Boden-
und Wasserproben mitbringen. Zur Tarnung wurden diese Sachen in Behältern von
Kosmetikartikeln transportiert. Wir haben die sowjetischen Partner darüber
informiert und sie auch in einem Fall von einer konkreten Reise eines unserer
für die Amerikaner tätigen IM informiert. Allerdings haben wir ihnen nicht dazu
gesagt, dass das unser Mann ist. Sie glaubten, das wäre ein echter CIC-Mann,
der durch uns bearbeitet wird. Kurze Zeit nach der Reise bekamen wir einen
ausführlichen Beobachtungsbericht über den gesamten Ablauf der Tour.
Wir
waren mit unseren IM in der Walterschen Dienststelle
soweit verankert, dass die dort gesammelten Spionageinformationen weitgehend in
unserem Sinne manipuliert werden konnten Auch das in der DDR aufgebaute
Stützpunktsystem war in groben Zügen bekannt. Im Notfall hätten wir es umgehend
außer Betrieb setzen können. Trotzdem stand immer wieder die Frage: Wie lange
wollen wir das alles noch laufen lassen? Da kam die von mir eingangs schon
genannte Initiative der DDR-Regierung mit dem Memorandum an die UNO zu Hilfe.
Bei deren Vorbereitung ging an alle operativen Diensteinheiten die Aufforderung
zu melden, bei welchen gegnerischen Agenturen die objektive Beweislage soweit
entwickelt ist, dass sie festgenommen werden können. Aus dem Operativ-Vorgang
«Rote Spinne« wählten wir 28 Personen aus. Etwa die gleiche Anzahl von Agenten
in diesem Komplex waren unsere IM und das restliche Drittel kannten wir zwar
nicht genau mit Namen und Adresse, wussten aber ungefähr, wo sie wirkten.
Das
Agentennetz von Ch. wäre damit komplett auszuschalten
gewesen. Er hatte aber durch seine immer noch intensiv betriebene
Adressensammlung eine ganze Menge Reserven. So wie wir ihn kannten, hätte er in
kurzer Zeit die Verluste durch Neuanwerbungen ausgeglichen. Ein IM in seiner
unmittelbaren Umgebung brachte uns auf einen Gedanken. Ch.
war Alkoholiker und trank regelmäßig in kurzen Zeitabständen fast bis zur Bewusstlosigkeit.
Für die Fahrten zu den entsprechenden Kneipen benutzte er einen unserer Leute
immer als Chauffeur. Der meinte, es sei für ihn kein Problem einmal bei einer
solchen Tour »aus Versehen« über die Grenze in den Osten zu fahren. So geschah
es denn auch – und wir hatten einen der intensivsten und gefährlichsten Leute
dieser Truppe in der Hand.
Dieses
Unternehmen erregte natürlich viel Aufsehen und der westliche Blätterwald
geriet in Aufregung, weil ein angeblich freiheitlich-demokratischer Bürger Westberlins
gewaltsam in die »Zone«, wie die DDR im Westen damals offiziell genannt wurde,
entführt worden war. Gegen unseren IM, der natürlich nicht wieder in den Westen
zurückkehrte, wurde dort Haftbefehl erlassen. Nichts dagegen, aber doch
interessant und bezeichnend für die damalige Situation sind die Formulierungen,
die dazu vom Westberliner Gericht gebraucht wurden: »Er wird beschuldigt […]
aus Gewinnsucht einen anderen durch List oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb
des Bereichs der in Berlin geltenden Gerichtsverfassung verbracht und dadurch
diesen anderen der Gefahr ausgesetzt zu haben, verfolgt zu werden und hierbei
im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt oder
Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt
oder in seinem Vermögen, seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung
empfindlich beeinträchtigt zu werden, indem er den anerkannten politischen
Flüchtling […] durch List bzw. Gewalt in ein Gebiet außerhalb des
Geltungsbereichs der in Westberlin geltenden Gerichtsverfassung verbracht und
dort den sowjetzonalen Behörden in die Hand spielte. Dadurch ist […] der Gefahr
ausgesetzt worden, im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen Schaden an
Leib oder Leben zu erleiden bzw. seiner Freiheit beraubt zu werden.«
Abgesehen
davon, dass unser IM nicht aus Gewinnsucht handelte, sondern seine Motive
durchaus politischer Natur waren und Ch. nicht
anerkannter politischer Flüchtling war, die Gründe für seine vorherige
Verfolgung in der DDR waren rein krimineller Natur, ist seine berufliche und
wirtschaftliche Stellung in Westberlin, die auf die Teilnahme an aktiver
Vorbereitung einer militärischen Aggression gegen die DDR beruhte, im Grunde
auch nach dortigen Gesetzen strafbar gewesen. Und daran zu erinnern, dass die
genannten sowjetzonalen Behörden die der DDR waren, könnte man auch noch. So
war das eben zu dieser Zeit.
Doch
wieder zurück zum weiteren operativen Vorgehen. Nach der Festnahmeaktion gegen
die Agenten dieser Dienststelle und den Auswertungen der nachfolgenden
Untersuchung kamen weitere dazu. Aus Sicherheitsgründen haben wir einen Teil
unserer im Bereich der Walterschen Dienststelle
tätigen IM zurückgezogen, so dass die Amerikaner vor einem Desaster standen.
Ihr Reaktion war, diese Truppe sofort aufzulösen und alle deutschen
Mitarbeiter, ganz gleich welche Funktion sie hatten, zu entlassen. Das betraf
auch W. Für ihn war das unbegreiflich. Hatte er sich doch mit seinen Taten so
bewährt, dass er sich als einer ihrer Besten fühlte. Beschwerden seinerseits
bei übergeordneten Stellen liefen ins Leere. Sie wurden nicht beantwortet.
Versuche zu persönlichen Vorsprachen verliefen ohne Erfolg. Da meinte er, der
Bundesnachrichtendienst wird sicher für ihn Verwendung haben und bewarb sich
dort. Dabei warb er mit dem Teil seines noch intakten Agentennetzes, von dem er
meinte, der BND könne es sicher gut gebrauchen. Doch der biss nicht an. Die
waren grundsätzlich misstrauisch gegen Leute, die von den Amis »abgelegt«
wurden.
W.
war verzweifelt und wollte auch hier den Beschwerdeweg gehen. Durch unsere
IM-Verbindungen waren wir über seinen Zustand gut informiert und überlegten,
was daraus zu machen sei; denn gefährlich war er nach wie vor für uns. Wir
wussten, er verfügt noch über mindestens acht solcher Stützpunkte, die in den
aktiven Kriegsvorbereitungen eine Rolle spielten. In letzter Zeit wurden da
Überlegungen angestellt, wie man Personen- und Materialtransporte mit
Kleinflugzeugen in die und aus der DDR machen kann. Da wurden abenteuerliche
Pläne entwickelt. Skizzen für Landeplätze wurden entworfen, wo Agenten
abgesetzt und auch wieder aufgenommen werden können. Eine dieser Ideen war,
zwischen zwei weit auseinander stehenden Bäumen, sollte ein langes Gummiseil
gespannt werden, an das die für den Abtransport vorgesehene Person in einem
speziellen Geschirr hing. Ein mit einem Schlepphaken ausgerüstetes
Kleinflugzeug sollte beim Überflug die gesamte Vorrichtung mit Person
aufnehmen. Das klingt alles sehr abenteuerlich. Wir hatten aber diese Pläne im
Original auf dem Tisch liegen.
Das
Problem W. beschäftigte uns sehr intensiv. Keineswegs war ausgeschlossen, dass
sich nach einer gewissen Beruhigung der Lage entweder die Amerikaner oder auch
der Bundesnachrichtendienst dieser Dinge wieder annahmen. Es wäre fraglich gewesen,
ob wir damit solcher Intensität hätten wieder einsteigen können. Da kam der
Zufall zu Hilfe.
Dazu
erst einmal folgende Geschichte. Eines Morgens fand ich beim Dienstantritt
neben meinem Schreibtisch einen gewaltsam aufgebrochenen Tresor. Das war der
berühmte Würzburger Panzerschrank. Für einen Schrank war er etwas klein, aber
sein Inhalt hatte es in sich. Wer diese Zeit mit politischem Interesse erlebt
hat, wird sich an diese Geschichte erinnern. Sie bestimmte damals die
Schlagzeilen der Presse in Ost und West. Was war passiert? In einem anderen
Bereich unserer Hauptabteilung wurde ein IM geführt, der es in eine leitende
Funktion in einer Würzburger CIA-Dienststelle gebracht hatte. In einer
spektakulären Aktion wurde er in die DDR zurückgezogen. Als Beigabe brachte er
den Tresor seines Chefs mit. Die DDR-Filmgesellschaft DEFA hat zu dieser
Geschichte den Film »For Eyes Only«
gedreht, nicht als Dokumentation, sondern als Komödie. Ich habe eine Kopie von
ihm noch bei mir liegen.
Unbewusst
hatte ich am Rande an dieser Aktion mitgewirkt. Bei uns war es üblich, ohne in
alle Zusammenhänge eingeweiht zu sein, andere Diensteinheiten zu unterstützen,
wenn deren eigene Kapazität bei der Durchführung bestimmter Maßnahmen nicht
ausreichte. Das traf auch hier auf mich zu. In einer Wohnung in Alt-Stralau saß ich am Vorabend auftragsgemäß an einem Telefon,
hatte auf einen Anruf zu warten und die eingehende Information weiterzuleiten.
In den mittleren Abendstunden klingelte das Telefon. Ein Heinz meldete: »Der
Onkel Karl ist ins Krankenhaus eingeliefert worden, ihm geht es aber den
Umständen entsprechend gut.« Das war das Kennwort der
geglückten Aktion in Würzburg. Meine Mission war, nachdem ich das weiter
vermittelt hatte, beendet.
Jetzt
stand ich nun vor diesem Panzerschrank. Ich sollte den Inhalt sichten und
registrieren. Die in ihm gewesenen Aktenordner waren aber schon entnommen. Was
ich da noch vorfand war aber auch nicht zu verachten. Neben verschiedenen
Papieren, die nur der Kenner einordnen konnte, fand ich eine beträchtliche
Menge von Blankoausweisdokumenten. Da waren Bundespersonalausweise,
Presseausweise der verschiedenen Agenturen, Ausweise von Ämtern und
Institutionen und als Höhepunkt Hausausweise der Zentrale des
Bundesnachrichtendienstes in Pullach bei München. Dazu fand sich alles was
nötig war, um diese Dokumente auszufüllen und gültig zu machen. Damals gab es
ja noch nicht diese Hightech-Karten wie heute. Man benutzte die Schreibmaschine
oder auch die Handschrift.
Mit
einem eigenen Passbild hätte ich mich da selbst beliebig ausstatten können. Der
BND-Hausausweis sah bei flüchtiger Betrachtung dem echten Dienstausweis dieser
Organisation recht ähnlich. In uneingeweihten Kreisen hätte man damit durchaus
operieren können. Bei den in solchen Situationen üblichen Debattieren und
Herumalbern, das vorkommt, wenn man plötzlich Dinge in der Hand hat, an die man
im normalen Leben nie herankommt, entstand zuerst etwas unernst, dann aber doch
mit immer mehr Nachdenken verbunden die Frage, ob damit an das noch ungelöste
Problem W. heran zu gehen ist. Der kämpfte doch in diesen Tagen verbissen und
ergebnislos um eine Verbindung zum Bundesnachrichtendienst. Über diese
Bemühungen waren wir ständig auf dem Laufenden. Unser Chef meinte, er hätte
einen solchen Mann, der für eine Aufgabe dieser Art geeignet schien.
W.
hatte inzwischen eine neue Bewerbung an den BND geschrieben, die uns in die
Hände kam. Warum sollten wir die Amerikaner nicht mit ihren eigenen Waffen
schlagen? Ausgerüstet mit einem dieser erbeuteten Ausweise nahm der IM Kontakt
zu W. auf. Der war so vernarrt in seinem Vorhaben, beim deutschen Geheimdienst
unterzukommen, dass er keinerlei Verdacht schöpfte. Ursprünglich ging es uns ja
nur darum, seine Agenturen kennenzulernen. Der war aber auch jetzt nur bereit
darüber zu reden, wenn er die Zusage für eine feste Anstellung bekommt. Wir
gerieten in Zeitnot, denn ewig konnten wir mit dieser Legende nicht arbeiten.
Dem
IM bot W. an, eine seiner Grenzschleusen im Norden von Berlin praktisch
vorzuführen. Die Hoffnung, ihn dabei auf DDR-Gebiet zu locken und festzunehmen,
wurde uns nach Rücksprache mit den verantwortlichen Genossen von der Unersuchungsabteilung genommen. Eine Maßnahme dieser Art
direkt an der Grenzlinie barg immer die Gefahr in sich, wir hätten ihn gewaltsam
auf unser Territorium gezogen. Das Gegenteil wäre nicht zu beweisen gewesen,
und einen solchen Skandal konnte die DDR in dieser Situation auf keinen Fall
gebrauchen. Eins habe ich aber dann doch unternommen. Zum besagten Zeitpunkt,
als W. mit dem IM diese Grenzinspektion unternahm, bin ich zusammen mit einem
anderen Mitarbeiter, wir beide getarnt als Spaziergänger, dorthin gegangen. Aus
dem reichlich vorhandenen Gebüsch haben wir die Annäherung der beiden
Kontrahenten jenseits der Grenze beobachtet und sind dann in ungefähr fünf
Meter Entfernung an ihnen vorbeigelaufen. Wenn wir gewollt hätten, wäre sogar
eine Unterhaltung möglich gewesen. Aber soweit wollten wir dann doch nicht
gehen.
Eine
neue Version musste her. W. bestand unbedingt darauf, mit dem vermeintlichen
Vorgesetzten des IM zu sprechen. Er wäre sofort bereit, zu diesem Zweck nach
München zu reisen um dort zu erläutern, wie wichtig seine Verbindungen für den
deutschen Geheimdienst wären. Wir haben hin und her überlegt und dann entschieden
da nachzuhelfen. Aus den vom Würzburger Panzerschrank überkommenen Dokumenten
bekam W. einen Westberliner Personalausweis auf einen ausgedachten Namen und er
setzte sich in Bewegung Richtung München. Geplant war, ihn im Raum Michendorf
bei einer Verkehrskontrolle zu ergreifen. Zum Glück hatten wir die
Festnahmegruppe schon am Grenzübergang Drewitz in Aktion gesetzt. Die sollten
ihn erst einmal bis zum Ort der Wegnahme beobachten. Er benahm sich jedoch bei
der Grenzkontrolle derart provokativ, dass ihn der Passkontrolleur, der nichts
von unseren Vorhaben wusste, fast zurückgewiesen hätte. Der Hass auf die DDR
war so groß, dass W. sich selbst in dieser Situation nicht zügeln konnte.
Unsere Genossen reagierten da sofort und nahmen ihn weg.
In
seiner Begleitung befand sich die »Blonde Rita« Damit hatten wir gar nicht
gerechnet. Das war nun ihr persönliches Pech. Für uns war das aber gut, denn W.
verweigerte in der ersten Zeit in der Untersuchungshaft die Aussage. Wenn der
Wärter in Hohenschönhausen die Zellentür öffnete, nahm W. militärische Haltung
an, knallte die Hacken zusammen und erhob den Arm zum »Deutschen Gruß«. Heil
Hitler hat er nicht dazu gesagt. »Rita« erzählte alles, was sie wusste. Sie
kannte sich in den Geschäften ihres Freundes gut aus. Die letzten Stützpunkte
dieser Zentrale konnten lahm gelegt werden. Am Ende zahlte sich das bei ihr für
die Strafzumessung durch das Gericht günstig aus. Nach der umfangreichen
Auswertung und der in solchen Sachen üblichen Nacharbeit, war das Kapitel Cptn. Walter für mich beendet.
Der
Operativ-Vorgang »Rote Spinne« ging ins Archiv. Ohne Arbeit war ich aber nicht.
Da war mir eine neue interessante Information auf den Tisch gekommen. Eine
andere Dienststelle aus den USA suchte Verbindung zu einer außergewöhnlichen
Personengruppe, um zu prüfen, inwieweit diese für den Kampf gegen die DDR
nutzbar ist. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Berlin einen
spektakulären Einbruch in die Deutsche Reichsbank. Die Täter wurden zwar später
gefasst, aber erst einmal waren sie mit ihrer Tat weithin berühmt geworden.
Immerhin galt diese Bank als einbruchssicher. Nach Kriegsende kamen sie auf
freien Fuß. Einer davon kaufte sich aus Beständen der US-Besatzungsmacht in
Westberlin einen ausgedienten Lkw und eröffnete damit ein Fuhrgeschäft. Das
lief sehr gut an und in den kommenden Jahren entwickelte sich aus dieser
Minifirma eins der größten Reise- und Busunternehmen Westberlins. Man kann
heute zu beliebiger Zeit in die Stadt gehen. Garantiert trifft man dabei eines
dieser dazu gehörigen Fahrzeuge an. Dieser Unternehmer machte mit dem damaligen
Autokauf nicht nur für sich ein Geschäft, die Amerikaner machten auch eins mit
ihm.
Sie
hatten ihm den Auftrag gegeben, seine ehemaligen Bankraubkollegen zu finden und
zu prüfen, ob sie für die Zwecke der CIA zu gebrauchen sind. Wir gingen sofort
in die Spur und fanden zwei dieser Leute bei uns im Osten. »Otto« lebte mit
seiner Frau als seriöser Rentner in einer kleinen Wohnung in der Chausseestraße
und »Erwin« verdiente den Unterhalt für seine Familie als Kellner in einem
Restaurant in der Brunnenstraße. Nachdem wir uns beide gründlich angesehen
hatten, wurde entschieden, mit »Otto« zur Sache zu reden. Er wurde an einen
neutralen Ort eingeladen, erschien pünktlich in exakter Aufmachung. Einen
Bankräuber hatte ich mir anders vorgestellt. Dunkler Anzug, weißes Hemd mit
Manschettenknöpfen, Krawatte, Hut und feinste Manieren waren seine äußeren
Zeichen. Ihm war klar, dass etwas Besonderes vorliegen musste, wenn vom MfS
eine Einladung kam. Gleich zu Beginn betonte er, wir sollten nicht um die Sache
herumreden sondern ihm klipp und klar sagen, was wir wollen. Er würde uns eine
offene und ehrliche Antwort geben und wenn wir es wünschten, gegenüber niemand
über das Gespräch ein Wort fallen lassen.
Also
gingen wir die Sache offen an. Im Grunde war ja nichts zu verderben. Zu seinen
anderen drei Mitkumpanen hatte er keinen aktiven Kontakt, das heißt, zu dem
Busunternehmer überhaupt keinen, der war ja zum reichen Kapitalisten
aufgestiegen. Solche Beziehungen wollte er nicht haben. Annäherungsversuche in
Richtung US-Geheimdienst hatte »Otto« bisher in keiner Form bemerkt. Er
erklärte gleich, mit diesen Leuten würde er sich nie einlassen, schon gar nicht
mit den US-Amerikanern, in denen er die Vorreiter des Weltkapitalismus sah.
Allerdings war er bereit, mit den beiden anderen, dem »Erwin« und dem in
Westberlin wohnenden »Udo« Kontakt aufzunehmen und uns die Ergebnisse zu
übermitteln. In Erwartung neuer Nachrichten gingen wir auseinander.
»Otto«
hatte sich mit »Udo« getroffen und erfahren, dass der Busunternehmer schon bei
ihm gewesen ist und ein derartiges Angebot gemacht hat. Das, was »Ottos«
Standpunkt zu den Amis war, galt auch bei »Udo«. Er hatte den Amerikaner
abgewiesen und gewissermaßen vor die Tür gesetzt. Die Angelegenheit war demnach
nicht in unserem Sinne gelaufen. Nun blieb noch zu prüfen, ob bei »Erwin«
Kontaktversuche stattgefunden hatten. Da war aber nichts gewesen.
»Udo«
hatte sich zu einem Gespräch mit uns bereit erklärt. Er erschien als eine
Person, wenn uns damals schon die dänischen Filme von der Olsenbande
bekannt gewesen wären, hätte ich gesagt, es ist der Egon Olsen persönlich. Ihn
wurmte, nachdem er von uns erfahren hatte, worum es bei dieser Geschichte ging,
dass er den ehemaligen Kumpel weggeschickt hat. Auf ein Abenteuer mit dem
US-Geheimdienst, mit unserer Rückendeckung allerdings, hätte er sich furchtbar
gern eingelassen.
Um
es kurz zu machen: Die Versuche, die Sache trotzdem wieder in Gang zu
bringen, sind nicht gelungen. Den Kontakt haben wir aber erst einmal eine Zeit
lang weiter unterhalten. Es wäre schon wissenswert gewesen, was der
US-Geheimdienst mit gewesenen Bankräubern gegen uns im Schilde führt.
Immerhin
konnte ich mich noch darin bilden, wie man in eine gut gesicherte Bank
eindringen kann und welche Qualifikation dafür nötig ist. »Udo« war
ursprünglich Bankbeamter und »Otto« gelernter Geldschrank- und Tresorschlosser.
Gelernt hat er das bei der weltberühmten Firma Jäger in Berlin. Als Kriminelle
fühlten sie sich nicht, eher als Kämpfer gegen das räuberische Finanzkapital,
das sie eben auf ihre Art anzugehen glaubten. Ihr besonderer Stolz lag darin,
dieses rundherum sichere Bollwerk mit Erfolg geknackt zu haben. Sie hatten mit
ihrer Tat damals immerhin eine beachtliche Berühmtheit erlangt. Mehr noch als
»Udo« war »Otto« betrübt, dass die Geschichte mit dem Geheimdienst nicht
geklappt hat. Er wäre gern in seinen alten Tagen noch einmal Mittelpunkt einer
solchen Agentengeschichte gewesen.
Eines
Tages erschien er zu einem Treff und berichtete ganz aufgelöst und freudig über
eine Aktion, die er auf eigene Faust unternommen hatte. Aus den Gesprächen mit
uns war ihm bekannt geworden, dass die Zentrale der Amerikaner, die in dieser
ganzen Angelegenheit aktiv geworden war, sich im US-Hauptquartier in
Berlin-Zehlendorf befand. Er hatte sich auf den Weg gemacht, um die Anlage
genauer zu erkunden. Das geschah mehrmals. Dabei kehrte er, um seinen
Aufenthalt begründen zu können, immer in eine Imbiss-Gaststätte in der Nähe des
Haupteinganges ein. In ihr lernte er einen Handwerker kennen, der täglich sein
Mittagsmahl in diesem Lokal einnahm. Man kam mit der Zeit ins Gespräch und der
Handwerksmann erzählte, wie er im Auftrage seiner Firma als Installateur bei
den Amerikanern arbeitet und auch, dass dieser Einsatz in den nächsten Tagen zu
Ende geht. Dabei erfuhr Otto, wie der Zugang des Mannes in das Objekt geregelt
ist. Nach anfänglichen Ausweiskontrollen hatten sich die Wachposten allmählich
an den Klempner gewöhnt und es reichte aus, beim Erscheinen am Tor einfach den
Namen seiner Firma zu nennen und man war drin.
Unser
»Otto« beschaffte sich eine Montur, wie sie der Handwerker getragen hatte, dazu
eine passende Werkzeugtasche, marschierte auf das Wächterhaus zu, rief laut den
Namen der Firma und konnte passieren. Auf so eine Idee musste man erst einmal
kommen und auch den entsprechenden Mut zu ihrer Realisierung aufbringen. »Otto«
betrat das erstbeste Haus, klopfte an eine Zimmertür und meldete sich als der
bestellte Installateur, der den defekten Wasserhahn reparieren sollte. Man
hatte dort aber keinen solchen und auch niemanden wegen einer Reparatur
bestellt. So entschuldigte er sich für seinen Irrtum und ging mit dieser Masche
durch mehrere Häuser. Er merkte sich alles genau und erschien bei mir mit einem
ausführlichen Lageplan der ganzen Anlage. Das hatte zwar kaum operativen
Nutzen, aber sein Selbstwertgefühl war damit mächtig gestiegen. Von uns aus
hätte er einen Auftrag dieser Art nie bekommen. Es war aber immerhin ein
Beispiel dafür, wie man mit einfachen Mitteln in einen Hochsicherheitstrakt
eindringen kann.
Einmal
haben wir den »Otto« doch noch für eine sinnvolle Sache gebrauchen können. Doch
dazu vorher wieder die dazugehörige Geschichte: Wie Saufen und sexuelle Orgien
bei einigen prominenten Dienern der US-Geheimdienste zu den hauptsächlichen
Freizeitbeschäftigungen gehörten, habe ich schon anderen Beispielen erwähnt.
Mein Chef brauchte mich neben meiner eigentlichen Aufgabe wieder mal für eine
andere Sache als Kraftfahrer. Wie üblich bei solchen Dingen kannte ich anfangs
nicht die operativen Zusammenhänge. Mit meinem Fahrzeug hatte ich mich in den
späten Abendstunden an einem vorgegebenen Platz zu postieren und abzuwarten.
Gegen Mitternacht wurde die Tür des Treppenhauses, vor der ich stand, geöffnet.
Mehrere Mitarbeiter bemühten sich, einen offenbar Volltrunkenen nach außen zu
bugsieren. Der war völlig nackt in eine Decke gewickelt und konnte sich kaum
auf den Beinen halten. Man legte ihn auf den Rücksitz meines Autos.
Das
Entladen in der Untersuchungshaftanstalt Ruschestraße
war nicht einfach. Schließlich stand der Mann an die Hauswand gelehnt, verlor
die umhüllende Decke und rutschte an dem rauen Putz der Wand entlang zu Boden.
Dabei schürfte er sich die Haut auf. Der verantwortliche Offizier der Anstalt
wurde fuchsteufelswild, weil unsere Leute nicht aufgepasst hatten. Er verlangte
sofort die Anfertigung eines Protokolls über die Ursache der Verletzungen. Das
mussten alle als Zeugen unterschreiben. Diese Aufregung war zu verstehen. Im
westlichen Blätterwald wurde gerade in diesen Tagen in großer Aufmachung ein
»Folteropfer aus dem Stasiknast« propagiert. Ein aus der DDR-Haft entlassener
und nach Westberlin gegangener Agent der CIA behauptete, um ihn zu Aussagen zu
erpressen sei er mehrfach mit Säure übergossen worden. Es wurden große Fotos,
vor allem in der Bild-Zeitung, mit
den dabei angeblich entstandenen Verstümmelungen gezeigt. Tatsache war, der
Mann war schon mit diesen Verletzungen, die er sich früher bei einem Unfall an
seiner Westberliner Arbeitsstätte zugezogen hatte, in unsere Hände geraten.
Am
Tage danach erfuhr ich dann, wer da in meinem Auto transportiert wurde. Das war
ein CIA-Resident, der unter dem Deckmantel einer Handelsfirma ein Büro in der
Nähe des Kurfürstendammes unterhielt und von da aus eine starke Agentengruppe
in der DDR führte. Darunter befanden sich mehrere IM von uns. Einer davon war
mit dem Mann so eng liiert, dass der ihn in sein Lotterleben voll mit
einbezogen hatte. Diesen IM gelang es, einen gemeinsamen Besuch in einer
Pension in Ostberlin zu organisieren, wo die »Schöne Elfi« residierte. Die war
in einschlägigen Kreisen als hervorragende Betreuerin exquisiter männlicher
Kundschaft bekannt. Als unsere Genossen dort eintrafen, fanden sie diese Gesellschaft
im totalen Alkoholrausch vor. Die »Elfi« lag nackig und blutend auf einem
Teppich. Sie hatte sich in einem zerbrochenen Sektglas gewälzt und musste erst
einmal notversorgt werden. Es gelang nicht, den besoffenen CIA-Mann
anzukleiden. Man wickelte ihn kurzerhand in eine Decke und schleppte ihn so
nach unten.
Bei
ihm fanden sich nun die Schlüssel von seinem Agentenbüro und dem darin
befindlichen Tresor mit den entsprechenden Dokumentationen. Die Frage war: Wie
kommt man in den Besitz von diesem Zeug? Mein Chef wollte von mir wissen, ob
»Otto« vielleicht dafür geeignet sei. Das war nur zu klären, wenn ich mit ihm
darüber sprach. Nachdem der schon auf abenteuerliche Weise ins US-Hauptquartier
eingedrungen war, durfte für ihn ein so kleines Agentenbüro doch kein Problem
sein. Also suchte ich ihn in seiner Wohnung auf, erklärte ihm den Sachverhalt
und bekam die Zustimmung. Er erhielt die Schlüssel mit entsprechenden
Instruktionen und etwa drei Stunden später erschien er mit einem Koffer voller
Papiere und Akten und war zufrieden damit, den Amis
doch noch eins verpasst zu haben.
Mancher
wird beim Lesen dieser Zeilen sagen, da habt ihr es ja ganz schön schlimm
getrieben. Ja, das waren die hohen Zeiten des Kalten Krieges, den nicht wir vom
Zaune gebrochen haben. Und so kalt war dieser Krieg oft nicht. Man kann das
nicht mit heutigen Zeiten vergleichen. Unsere Gegner hielten sich an keinerlei
völkerrechtliche Regeln, weil für sie die DDR als eigenständiger Staat nicht
existierte. Daraus ergaben sich für uns auch besondere Bedingungen, die den
Charakter des Abwehrkampfes bestimmten. Um das zu verstehen, muss man sich in
die konkrete politische Lage dieser Zeit versetzen. Die Kontakte zu »Otto«,
auch zu seinem Kollegen »Udo« liefen allmählich aus. Wir redeten noch viel über
deren Vergangenheit. Einmal brachte »Otto« noch einen kleinen Koffer mit und
erklärte mir den Inhalt. Darin befanden sich Spezialwerkzeuge zum Öffnen von
Tresorschlössern. Der Privatbesitz dieser Dinge war eigentlich nicht gestattet.
Er wusste, bei uns gab es Verständnis dafür. Uns war klar, er wird das Zeug nie
wieder anwenden und für ihn war es eine Genugtuung, es noch zu besitzen.
Die
Dinge liefen weiter. In der Besucherstelle des MfS in Berlin-Lichtenberg
meldete sich ein Mitarbeiter einer Dienststelle der CIA aus Oberursel bei
Stuttgart. Er kam gleich zur Sache und bot an, gegen Zahlung von 500 D-Mark
wichtige Informationen an uns zu geben. Die Amerikaner wollten ihn zur
Durchführung eines Auftrages in der DDR zwingen, den er nicht auszuführen
bereit war, weil es ihm zu gefährlich erschien und auch seinen allgemeinen
Ansichten widersprach. Deshalb hatte er nach reiflichen Überlegungen
beschlossen, sich den DDR-Organen zu stellen.
Im
Auftrage des US-Geheimdienstes hatte er mehrere Jahre am Hofe von König Faruk
in Ägypten gedient. Er hatte dort praktisch dessen Leibwächter ausgebildet und
geformt. Faruk war inzwischen bei einem Putsch durch Gamal Abdel Nasser
gestürzt worden und musste ins Exil gehen. Damit war auch die Mission für den
Beschützer hinfällig. Im Glauben, für seine Verdienste belohnt zu werden und in
seiner deutschen Heimat eine angemessene Tätigkeit angeboten zu bekommen, sah
er sich nun getäuscht. Die Amis verlangten von ihm den weiteren Einsatz, den er
in dieser Form nicht akzeptieren wollte. Eine offene Ablehnung dieses Angebots
hätte für ihn aber bedeutet, erst einmal keine Existenzgrundlage mehr zu haben.
Durch die Neuansiedlung hier im Lande waren seine Mittel verbraucht und er war
in Finanznot geraten. Die Neueinrichtung einer Wohnung und der Kauf eines
Autos, alles auf Kredit, hatten seine Ersparnisse aufgebraucht und fällige
Raten konnten nicht bezahlt werden. Wenn wir ihm aus dieser Notlage helfen, sei
er bereit, mit uns zusammenzuarbeiten, war sein Angebot.
In
Oberursel unterhielten die Amerikaner eine Spionageschule. Sie hatten dort eine
Gruppe Exilpolen ausgebildet. Die sollten jetzt einzeln illegal durch die DDR
nach Polen geschleust werden. Dazu hatten sie dem Mann DDR-Personalpapiere
gegeben, mit denen er sich hier ungehindert bewegen konnte. Seine erste Aufgabe
war, die Grenze zu Polen eingehend zu erkunden und danach Vorschläge zu
unterbreiten, wie er seine Aufgabe erfüllen will. Als ich meinem Chef etwas
salopp berichtete, dass ein Leibwächter König Faruks aus Ägypten vorgesprochen
hat, der für 500 D-Mark uns Informationen verkaufen will, lachte der erst
einmal und meinte, ich hätte mir da einen Mächtigen aufbinden lassen. Es kam ja
immer wieder vor, dass windige Typen bei uns vorsprachen, um mit oft
abenteuerlichen Angeboten zu Geld zu kommen. Vorsicht war da geboten und es
gehörte auch nicht von vornherein zu unseren Arbeitsmethoden, auf diese Art zu
operativen Erfolgen zu kommen.
Wir
gingen aber schnell zu sachlichem Nachdenken über; denn das, was der Mann über
Oberursel erzählt hatte, entsprach unseren Kenntnissen aus der vergangenen
Arbeit. Unreal erschien das alles nicht. Es wurde beschlossen, die Geldsumme
locker zu machen und auf Gutglück zu vertrauen. Und
wir hatten es. Eine Woche später erschien unser neuer Freund mit dem ersten
konkreten Auftrag. Der erste Pole war über die Oder zu bringen. Die
Vorbereitungen machten wir gemeinsam. Es musste eine Stelle am Fluss sein, die
leicht zu durchschwimmen war und wo sich der Betreffenden gut gedeckt und
ungestört aus- und wieder anziehen konnte. Im Raum Angermünde suchten wir einen
geeigneten Ort aus, der dann an die Amerikaner signalisiert wurde. Für uns war
dabei noch wichtig, an dieser Stelle eine konspirative Festnahme durchführen zu
können.
Die
Sache verlief reibungslos. Der Schleusungskandidat kam in Begleitung eines
anderen US-Agenten zum Bahnhof Angermünde, dort übernahm ihn unser nun zum IM
erhobener Partner und brachte ihn in unmittelbare Nähe der ausgedachten
Übergangsstelle. Das letzte Stück musste er allein gehen und dabei erfolgte die
Festnahme. Unsere Untersuchungsabteilung in Berlin-Hohenschönhausen machte eine
gründliche Auswertung. Danach wurde er an die polnischen Organe übergeben.
Diese Agenten hatten die Aufgabe, nach vollzogenem Grenzübertritt auf dem
Postwege ein Signal an die Amerikaner zu geben. Das war eine Ansichtskarte mit
einem bestimmten Bildmotiv an eine Deckadresse in der BRD. Wir wussten, wie das
laufen sollte, und haben natürlich entsprechend gehandelt.
Eine
Woche später war die nächste Aktion geplant. Als Ort des Ereignisse hatten wir
den Ort Kienitz an der Oder ausgesucht. Dort, wo
heute noch das Panzerdenkmal steht, das an die erste Oderüberquerung der
Sowjetarmee bei ihren Vormarsch 1945 auf Berlin erinnert. Eine mit dichtem
Buschwerk bewachsene Halbinsel, die weit in den Fluss hinein ragt, erschien uns
dafür günstig. Als das den US-Leuten in Oberursel übermittelt wurde, kam sofort
die Order: An dieser Stelle darf das auf keinen Fall stattfinden. Das gab uns
zu denken. Wir informierten unsere zuständige Dienststelle in Frankfurt/Oder
und die bekamen nach entsprechenden operativen Recherchen heraus, dort hatten
sich die Amerikaner bereits festgesetzt. Direkt hinter dem Oderdeich stand eine
alte Mühle. Die steht heute noch als Ruine. Dieser Ort war schon seit längerer
Zeit für eine andere Stelle der US-Geheimdienste reserviert. Da hatte man schon
einen solchen Agentenstützpunkt installiert, wie ich das schon weiter vorn
beschrieben habe. Dieses Objekt bot ausgezeichnete Bedingungen für die
Unterbringung von Untergrundkämpfern, Waffen und so weiter. Außerdem hatte es
da schon vorher Grenzschleusungen gegeben.
Weil
diese Angelegenheit mich zeitlich sehr in Anspruch nahm und von zu erledigenden
anderen Aufgaben abhielt, wurde beschlossen, einen operativen Mitarbeiter nur
für diese Sache freizusetzen. Im kommenden Vierteljahr reiste der unter der
Legende eines Handelsvertreters zusammen mit dem IM zwischen Schwedt und
Görlitz durch das Land und tat, was zu tun war. Es lief erst einmal alles wie
gewünscht. Nach der zwölften Festnahme entstand jedoch das Gefühl, bei den
CIA-Leuten sei ein Verdacht aufgekommen. Um kein Risiko einzugehen, haben wir
die Dinge dann abgebrochen und unseren IM hier in der DDR behalten.
Bei
den Auswertungen der Aussagen der festgenommenen Polen erkannten wir die
strategischen Ziele der USA. Diese speziell ausgebildeten Agenten hatten die
Aufgabe, unter falschem Namen natürlich, in Polen eine sichere Existenz zu
schaffen, sich möglichst aktiv ins gesellschaftliche Leben einzubinden und in
keiner Weise als Gegner oder Kritiker des politischen Systems in Erscheinung zu
treten und ganz einfach abzuwarten. Im Geheimdienstjargon sagt man dazu
»Schläfer«. Dazu passt eine Geschichte, die bei einem anderen Genossen unsere
Abteilung lief. Er führte den polnischen Besitzer einer Autoreparaturwerkstatt
als IM. Der hatte seinen Betrieb in der Nähe eines Wohngebiets von
MfS-Mitarbeiter und diese natürlich auch als Stammkunden. Aus diesem Grunde
hatten sich die CIA-Leute über seine Verwandten in Westberlin an ihn
herangemacht und ihn angeworben. Obwohl es überhaupt keinen Grund gab, sein gut
laufendes Unternehmen hier aufzugeben, hatten man ihn aufgefordert, die
Werkstatt zu verkaufen, nach Polen an einen vorgegeben Ort zu übersiedeln und
dort eine neue aufzubauen. Sie boten dafür reichliche finanzielle Zuwendung.
Auch er sollte im Sinne der dort herrschenden Ordnung ein guter Staatsbürger
werden und sich möglichst einflussreiche Positionen schaffen. Auf diese Weise
begannen schon zu damaliger Zeit die Vorbereitungen für das, was das Land unter
dem Namen Solidarnosc-Bewegung später erlebte.
Es
gab ein unerwartetes Nachspiel. Ein reichliches Jahr nach dem Ende dieser
Geschichte erschien in unserer Berliner Dienststelle eine Frau mit ihrer erwachsenen
Tochter. Sie suchten den Vater ihres unlängst geborenen Enkels. Ein Mitarbeiter
mit dem genannten Namen konnte aber nicht gefunden werden. Als die beiden
Frauen deswegen verärgert gingen, sie nahmen an, das MfS wolle sich nicht zu
den Sünden seiner Mitarbeiter bekennen, kam der Gesuchte ihnen an der Tür
entgegen. Ein ausgesprochenes Pech für ihn war das. Er war damals natürlich
nicht mit seinem echten Namen unterwegs gewesen und konnte somit auch nicht in
der Namenskartei entdeckt werden. Ein zweiter Schlag kam gleich noch dazu. Es
war gerade wieder ein neuer Ministerbefehl ergangen, der besagte, dass bei der
operativen Tätigkeit erbeutetes Material ohne besondere zu genehmigende
Umstände auf keinen Fall von Mitarbeitern in irgendeiner Form genutzt werden
dürfe. Da sah an einem Morgen Minister Mielke bei der Fahrt zur Arbeit, wie auf
einen Parkplatz am Dienstgebäude einer seiner Untertanen aus einem Auto
westlicher Produktion ausstieg. Als Fahrer wurde unser Franzl ermittelt. Der
hatte das Fahrzeug seines IM, mit dem er die Schleusergeschichte betrieben
hatte, mit der Begründung, dass wir einen Teil davon bezahlt hatten, auch hin
und wieder für private Zwecke genutzt. Diese beiden Sünden wurden ihm nicht
verziehen. Seine Laufbahn als MfS-Mitarbeiter war damit beendet.
In
Berlin-Hohenschönhausen gab es nicht nur eine Reihe von Dienstgebäuden des MfS,
es gab auch ein konzentriertes Wohngebiet von Mitarbeitern und aus diesem
Grunde einen diensteigenen Busverkehr in die Zentrale in der Normannenstraße.
Einem wachsamen Genossen war der Friseur aus der Berliner Straße, bei dem viele
unserer Angehörigen Kunde waren, verdächtig aufgefallen. Regelmäßig lief der
mit einer unter den Arm geklemmten Aktentasche an der auf den Bus wartenden
Menschentraube freundlich grüßend vorbei, ohne dass aus seinem Verhalten ein
Sinn für die morgendliche Wanderung zu erkennen war. Wir nahmen uns der Sache
an und fanden schnell die Antwort. In die Tasche war eine Filmkamera eingebaut,
mit der seit geraumer Zeit im Auftrage der CIA die Wartenden fotografiert
wurden.
Ehe
wir die Sache beendet haben, wurden erst einmal die weiteren Umstände
aufgeklärt. In diesem Falle kam operative Technik in der Wohnung des
Verdächtigen zum Einsatz. Man wirft uns ja heute ständig vor, das wäre in
unserer Tätigkeit gang und gäbe gewesen. Wer sich aber darin auskennt und
ernsthaft darüber nachdenkt, muss jedoch zu dem Schluss kommen, so einfach ist
das in der praktischen Ausführung gar nicht. Die Gefahr, dabei erkannt zu
werden, ist unheimlich groß. Wir haben es in solchen Fällen nur dann gemacht,
wenn nichts mehr zu verderben war und die bereits vorliegenden Beweismittel
ausgereicht hätten, die Sache zu beenden. Der Verdacht lag hier jedoch nahe,
dass da noch mehr daran hing und die Handlungen des Mannes sich nicht im Filmen
von Bus-Passagieren erschöpfte.
Die
aufgebrachte Geduld hatte sich gelohnt. Ich will jetzt nicht im Einzelnen
schildern, was da alles heraus kam. Eins war aber von wesentlicher Bedeutung.
Zum Umgangskreis des Friseurs zählte der Inhaber einer Installationsfirma aus
der gleichen Umgebung. Zu dessen Kundschaft gehörten wiederum auch viele
Angehörige des MfS, auch der zu dieser Zeit nicht mehr im Amt befindliche
ehemalige Minister Ernst Wollweber mit seiner Wohnung am Orankesee.
Da gab es noch nicht die Prominentensiedlung in Wandlitz, in der Erich Mielke
lebte. In Wollwebers Haus hatte der Klempner eine Warmwasseranlage installiert,
die er auch ständig wartete. Also der Zugang zum Objekt war ihm fast problemlos
möglich. Die CIA-Leute hatten mit ihm beraten, wie man darin einen Sprengsatz
einbauen und bei Bedarf durch Fernzündung zur Explosion bringen kann. Zur
Realisierung kam der Einbau offenbar nicht, weil Wollweber inzwischen nicht
mehr in dieser Funktion tätig war. Auch hier wird wieder ganz deutlich, dass
der Begriff Spionage nicht isoliert zu betrachten ist. Die Beschaffung von
Informationen ist immer wieder nur der Ausgangspunkt für weitere Handlungen,
die in ihrer Tragweite oft nicht von Anfang an zu übersehen sind. Der Operative
Vorgang wurde mit drei Festnahmen abgeschlossen.
Die
Überwachung der DDR-Bevölkerung durch die »Stasi« war umfassend, hört man bis
heute immer wieder auf allen Kanälen und liest es in den vom Zeitgeist
beherrschten Blättern aller Art. Selbst die Republikflüchtlinge, die in den
Westen gegangen waren, seien dort noch bespitzelt worden. Darüber, was da
wirklich gelaufen ist, verliert man natürlich an keiner Stelle ein Wort. Im
Rahmen der vielen operativen Handlungen ergab sich eine Verbindung zu einer Stelle
im Westberliner Senat, wo man wusste, welche Geheimdienste bei den
Aufnahmeverfahren im Flüchtlingslager welche Leute aus dem normalen Ablauf
heraus nahmen. Das waren dann diejenigen, mit denen versucht wurde, weitere
Aktivitäten gegen die DDR zu organisieren. Neben der umfassenden
Informationsbeschaffung war es die Herstellung von Rückverbindungen in die
Kreise und die Bereiche, aus denen der jeweilige Flüchtling kam und der
Versuch, in diesen neue Agenten anzuwerben. Im Schnitt bekam ich monatlich so fünfzig
bis sechzig Namen von Personen genannt, mit denen die US-Geheimdienste in
dieser Richtung arbeiteten.
Das
war wieder eine ziemlich zeitaufwändige Arbeit. Es ergab sich daraus die
Aufgabe, möglichst schnell festzustellen, wer aus dem zurückgebliebenen
Umgangskreis des Geflüchteten in dieser Hinsicht angesprochen wurde und wie der
darauf reagierte. Der ursprüngliche Gedanke, selbst eine Übersicht darüber zu
haben und die dazu eingeleiteten operativen Maßnahmen in einer Art
Zentralvorgang zu erfassen, musste ich bald aufgeben. Das wäre unter den
gegebenen Umständen nicht zu bewältigen gewesen. Wir vertrauten auf die Wahrnahme der Verantwortung durch die zuständigen Diensteinheiten
an der Basis und beschränkten uns auf entsprechende Hinweise an sie.
An
dieser Stelle bietet sich eine Bemerkung zu den massiven Anwürfen an, die wegen
der angeblich umfassenden Überwachung und Bespitzelung der Menschen in der DDR
unter Berufung auf die Aktenkilometer in unseren Archiven, gegen uns erhoben
werden. Es war üblich, alle operativen Handlungen, die ein Mitarbeiter jemals
ausführte, schriftlich zu fixieren. Was wir bei den heutigen Polizei-,
Verfassungsschutz- und Untersuchungsorganen ständig mit einiger Verwunderung
erleben, dass bei der Aufklärung von Straftaten noch während der Untersuchung
Unterlagen verschwunden sind oder Vorkommnisse nach der Tat nicht ordentlich
dokumentiert und Spuren nicht gesichert wurden, war bei uns im Prinzip nicht
möglich. Die Aktenordung gestattete es auch nicht,
nachträglich durch Unbefugte etwas zu entnehmen, ohne dass dafür eine
stichhaltige Begründung gegeben wurde. Nach Abschluss von Operativen Vorgängen
wurde alles archiviert. Das betraf auch Dinge, wo bei der Bearbeitung von
Sachverhalten oder Personen ein vorher angenommener Verdacht oder ein Bezug zur
Sache sich nicht bestätigten. Und wie groß der ursprüngliche Kreis zu
erfassender Personen sein konnte, ergibt sich unter anderem aus der eben
beschriebenen gegnerischen Methode, umfangreiche Rückverbindungen von
weggegangenen Leuten für ihre hinterhältigen Zwecke zu nutzen.
Das
ignoriert man heutzutage bewusst und bezeichnet das gesamte Archivmaterial als
Opferakten und wer will, der kann sich ohne Probleme, wenn sein Name in
irgendeinem Papier dieser Art auftaucht, als »Stasiopfer« ausgeben und er kann
auch behaupten, in seine »Stasiakte« eingesehen zu haben bzw. eine zu haben.
Man suggeriert damit eigentlich entgegen der Wahrheit, dass über jeden Bürger
der DDR eine solche existiere. Die Fragestellung lautet nicht: Hast du geprüft,
ob über dich eine Akte vorhanden ist? Sie lautet dagegen generell: Hast du in
deine Akte Einsicht genommen? Das ist doch wohl ein wesentlicher Unterschied.
Es wird also grundsätzlich vorausgesetzt, dass jeder eine Akte hat.
Für
mich begann eine neue Etappe. Ein Fernstudium an der Juristischen Hochschule
wurde vorgeschlagen. Mir fehlte aber die so genannte Hochschulreife. Als ich im
Jahre 1938 eingeschult wurde, war eigentlich für Leute meiner sozialen Herkunft
die achtjährige Volksschule das Normale. Da hatte ich schon Glück, dass man
mich nach der vierten Klasse in die neu gegründete Mittelschule schickte, die
ich mit Abschluss der zehnten Klasse, also mit der »Mittleren Reife«, wie das
damals hieß, im Jahre 1948 beendete. Nach einer Berufsausbildung und dem Beginn
einer Tätigkeit als Lehrlingsausbilder wurde ich 1952 Mitarbeiter des MfS und
hatte in dieser Zeit, außer der Teilnahme am Einführungslehrgang in Eberswalde,
keine weitere theoretische Ausbildung erhalten. Um das nachzuholen war ein Einjahreslehrgang an der Potsdamer Bezirksparteischule der
SED in Kleinmachnow als Voraussetzung für das danach geplante Fernstudium
vorgesehen. Meine »Amerikanische Zeit« war damit vorüber, was natürlich nicht
bedeutete, dass ich künftig mit diesen Diensten nichts mehr zu tun hatte, aber
es waren dann nicht nur ausschließlich sie.
Wir
haben jetzt, als ich diese Zeilen niederschreibe, den Januar 2014. Und gerade
in diesen Tagen richtet sich das öffentliche Interesse wieder konzentriert auf
die Aktivitäten von US-Geheimdiensten im Zusammenhang mit der so genannten
NSA-Ausspähaffäre, wie sie bezeichnet wird. Die USA hören millionenfach
Telefongespräche in aller Welt ab und machen dabei auch nicht Halt vor der
Intimsphäre ihrer engsten Freunde. Auch unsere Kanzlerin gehört zu den Opfern.
Mein Erstaunen darüber hält sich in Grenzen. Aus eigener Erfahrung weiß ich,
diese Methode ist nicht unbedingt neu. Die Amis haben schon immer, besonders
aktiv nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, alles ausgekundschaftet, was ihnen
über den Weg kam. Nur früher waren die Möglichkeiten nicht so weitgehend, wie
heute. Und dieses Ausspionieren geschah und geschieht bei Freund wie bei Feind.
Ihr öffentlich erklärter Anspruch, die Welt zu beherrschen, macht das ganz
einfach erforderlich. Wobei: Die Formulierung »Weltbeherrschen« benutzen sie
nicht. Sie sagen, aus Gründen der Moral und der Menschenrechte fühlen sie sich
als stärkstes und demokratischstes Land der Welt verpflichtet, dass allen
Menschen auf Erden Frieden und Demokratie gebracht werden. Wie das im Detail
aussieht, habe ich ja hier beschrieben. Und die Beispiele dafür in der großen
Politik erleben wir täglich.
In
meinen letzten »amerikanischen Tagen« hatte ich noch einen nicht
abgeschlossenen Operativ-Vorgang über einen Agenten des US-Geheimdienstes Office of
Strategic Service (OSS) in den Händen. Der Beweis für diese Verbindung war
erbracht. Was er aber genau tat, war noch unklar. Es war bei uns üblich, vor
einer Festnahme ausreichende Beweise zu dokumentieren, um nicht auf die Aussagen
in der Vernehmung angewiesen zu sein. Aus seinem ganzen Verhalten und seinem
Umfeld konnten keinerlei Anhaltspunkte für konkrete Handlungen gefunden werden.
Irgendwie kam ich in der weiteren Bearbeitung nicht voran. Seine persönlichen
Beziehungen mussten erkundet werden. Dafür eignete sich eine Telefonkontrolle.
Weil wir eben keine »flächendeckende Überwachung« dieser Art in der DDR hatten,
musste die begründet und genehmigt werden. Eine solche Maßnahme war zeitlich
begrenzt. Der Antragsteller musste seine Fragen an die dafür zuständige
Diensteinheit geben und die versuchten sie durch Auswertung der abgehörten
Gespräche zu beantworten. Der Auftraggeber erhielt also nicht die komplett
anfallenden Texte.
Auch
das alles brachte mich nicht voran. Ohne Kenntnis der operativen Details des
Vorganges konnte der mit der Auswertung beauftragte Mitarbeiter nicht das
herausfinden, was mich interessierte. Es handelte sich um einen
Geschäfts-Telefonanschluss, der fleißig in Betrieb war. In Ausnahmefällen war
es möglich, die Gesprächsaufzeichnungen im Original zu erhalten, um sie selbst
auswerten zu können. Diese Zustimmung wurde mir gewährt. Nach einem längeren
Zeitraum und der Einordnung der angefallenen Personen in bestimmte Kategorien
war ich dann in der Lage, zu unterscheiden, wer gehört zur Familie, wer ist
Kunde im Geschäft und für welchen Kontakte gibt es keine normale Erklärung. Auf
diese konnte dann die Bearbeitung konzentrieren werden. Dabei wurde ich fündig.
Kurz gesagt, unser Mann fungierte als Kurier für zwei honorige US-Agenten,
deren Wirkungsbereich in die Außenwirtschaftsbeziehungen der DDR gehörte. Beide
waren eingebunden in den Bau des Assuanstaudammprojektes
in Ägypten und die dazugehörigen Elektrifizierungsmaßnahmen in diesem Land. Das
Material ging deswegen zur Weiterbearbeitung an die dafür zuständige
Diensteinheit.
Dazu
eine Bemerkung zu den uns immer wieder vorgehaltenen ȟblen Methoden bei der
Überwachung von Telefonen«. Erst kürzlich gab es in meiner Lokalpresse eine
Artikelserie zu diesem Thema. »Die Stasi hat selbst Kinder bespitzelt!«, wurde da empört ausgerufen und auch mit Faksimiles aus
Akten der betreffenden Behörde unterlegt. So etwas wirkt natürlich auf die
Menschen. Selbst aus uns wohl gesonnenen Kreisen wurde mir gesagt: Das hättet
ihr nicht tun dürfen! Dazu kann man ganz einfach fragen, wie will die
eingesetzte Technik unterscheiden, wenn man in so einer Anlage drin hängt, wer
da den Hörer am betreffenden Telefonanschluss abhebt? Eine Dienstanweisung zu
dieser Thematik bei uns besagte, dass bei diesen Maßnahmen gewonnene
Informationen, die mit der Sache nichts zu tun hatten und unbeteiligte Personen
betrafen, aus den Unterlagen zu entfernen oder gar nicht aufzunehmen sind. Nun
kann es trotzdem aus irgendwelchen Gründen einmal passiert sein, dass ein
Mitarbeiter das nicht getan hat. Das spielt aber bei diesen Stasijägern keine
Rolle. Wenn es um die Diskriminierung des MfS geht, sind alle Mittel recht. Ich
betone noch einmal: Eine flächendeckende Telefonüberwachung in der DDR gab es
nicht. Sie war immer zweckbezogen. Außerdem, das ist noch wichtig zu betonen,
als Beweismittel vor Gericht waren die so gewonnenen Informationen nicht
zugelassen.
Die
gegenwärtigen Meldungen in der Presse über Minderjährige als Angehörige der
Bundeswehr, über die es in der Öffentlichkeit kaum Aufregung gibt, erinnern
mich an eine weitere Attacke gegen uns. Selbst Kinder hätten wir für
Spitzeldienste missbraucht. Aus eigenem Erleben will ich ein Beispiel zu diesem
Problem benennen. Die Dienststelle Cptn. Walter beschäftigte
einen Fotolaboranten, der einen minderjährigen Bruder in der DDR hatte.
Siebzehn Jahre war der alt. Wir wussten, die Amerikaner überlegten, wie sie
diesen jungen Mann allmählich an sich ziehen und nach dem Abitur auf einen für
sie nützlichen Entwicklungsweg lenken können. Dass sein Bruder dem Geheimdienst
angehörte war dem Jungen hier nicht bekannt. Vor uns stand die Frage: Lassen
wir die Geschichte laufen und warten ab, bis der Agent der Amis ist und greifen
dann zu oder verhindern wir rechtzeitig, dass er diesen für ihn
verhängnisvollen Weg geht? Auch die Überlegung spielte dabei natürlich eine
Rolle, ob man später die gegebene Situation für das Eindringen in das
gegnerische Unternehmen nutzen kann.
Also
haben wir trotz Minderjährigkeit zu ihm unter einer Legende einen Kontakt
hergestellt. Er hatte eine schon erwachsene Freundin, mit der es aus anderen
Gründen an ihrer Arbeitsstelle durch unseren dort zuständigen Mitarbeiter eine
operative Beziehung gab. Die Dame schien für das Vorhaben geeignet und war auch
aus eigenem Interesse bereit, mit uns gemeinsam zu verhindern, dass ihr
Liebhaber ins Unglück stürzte. Es lief recht gut an und wäre auch erfolgreich
vorangegangen, wenn nicht durch unsere Maßnahmen der CIC-Dienststelle Cptn. Walter der Garaus gemacht worden wäre. Das Problem
klärte sich damit von selbst.
Dafür,
wie die andere Seite mit diesem Problem umging, habe ich ein Beispiel aus der
eigenen Arbeit. Ich wurde in das der MfS-Zentrale nahe liegende Polizeirevier
gerufen. Dorthin hatte ein Streifenpolizist einen vierzehnjährigen Jungen aus
Westberlin gebracht, der beim eifrigen Fotografieren von Autokennzeichen auf
unseren Parkplätzen erwischt worden war. Seine Erklärung war, sein Hobby sei
es, bestimmte Gebäudetypen zu fotografieren und unser Häuserkomplex, von dem er
angeblich nicht wusste, wozu er diente, sei eben ein solches Objekt. Nun kann
man mit einer Person in diesem Alter nicht viel anfangen. Nach Feststellung der
Personalien habe ich ihn laufen gelassen, mit der Bemerkung, er könne am
nächsten Tag wiederkommen und seinen Kamera abholen. Es interessierte
natürlich, was da geknipst worden war. Grundsätzlich wurden diese Geräte erst
in der Dunkelkammer geöffnet, weil es schon vorgekommen war, dass durch
besondere Manipulationen die Filme beim normalen Öffnen der Kamera belichtet
und damit für die Auswertung unbrauchbar wurden.
Der
Film war fast voll und enthielt Aufnahmen von MfS-Dienststellen aus Pankow,
Prenzlauer Berg, Weißensee und Lichtenberg mit allem möglichen Drumherum. Das war
natürlich ein Grund, um sich mal anzusehen, woher dieses Kind kam. Sein Vater
war ein Westberliner Polizist, der mit den Amerikanern verbunden war. Weitere
Erklärungen erübrigen sich hier. Der Fotoapparat wurde nicht wieder abgeholt.
Der gesamte Vorfall wurde natürlich schriftlich fixiert und auch archiviert.
Wenn nun heute jemand in irgendeiner Akte im Archiv diese Blätter findet, hat
er einen Beweis dafür, dass die »Stasi selbst Kinder verfolgt hat«.
Meine
Ausführungen zu dieser ganzen Problematik habe ich mit der Teilnahme an einem
Prozess vor dem Obersten Gericht der DDR im Jahre 1957 begonnen. Die
Verhandlungen erfolgten öffentlich und es gab danach eine ausführliche
Berichterstattung in den Medien. Unsere Bevölkerung konnte sich in dieser Zeit
ausführlich über die Tätigkeit und die Ergebnisse der Arbeit des MfS ein Bild
machen. Auch die Mittel und Methoden die andere Seite gegen uns blieben nicht
geheim. Das förderte natürlich auch die Bereitschaft unter den Menschen, die
Sicherheitsorgane bei ihrer Arbeit zu unterstützen und war wesentlich mit
Voraussetzung für die erreichten Erfolge.
Die
Grundaufgabenstellung des MfS war von Anfang an, den im Untergrund gegen uns
arbeitenden Feind zu bekämpfen und was nicht unbedeutend war, auch die reale
politische- und Sicherheitslage im Lande einzuschätzen, um begünstigende
Bedingungen für gegnerisches Wirken zu erkennen und an die Führung im Staate zu
signalisieren. Bei der Erfüllung dieser zweiten Aufgabe stießen wir jedoch in
zunehmendem Maße auf Probleme. Die Auswertung abgeschlossener Operativer
Vorgänge und von Strafverfahren machte auch Mängel und Probleme in den
verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen im Lande sichtbar, die günstige
Bedingungen für gegnerisches Wirken boten. Diese Feststellungen waren aber in
zunehmendem Maße bei der SED- und Staatsobrigkeit unerwünscht. Der Traum vom
glatten erfolgreichen Aufstieg hatte sich da schon frühzeitig so in den Köpfen
festgesetzt, dass der Sinn für Realitäten immer mehr verloren ging und wir mit
unseren öffentlich gemachten Arbeitsergebnissen immer mehr als lästiger
Störfaktor angesehen wurden. So kam es, dass unsere bis dahin recht intensive
und erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zunehmend eingeschränkt wurde.
Besonders
tragisch entwickelte sich das, nachdem Erich Honecker in die oberste Position
im Staate aufgestiegen war. Die nur noch auf Erfolgsmeldungen reduzierte
Parteipropaganda ließ es nicht mehr zu, Probleme zu benennen. Über die
reichlichen Aktivitäten der Sicherheitsorgane konnten sich die Menschen fast
ausschließlich nur noch über die Westmedien informieren. Und wie die unsere
Abwehrarbeit verunglimpften, muss ich hier wohl nicht näher beschreiben. Die
Leute bekamen ja mit, wenn das MfS irgendwo eingegriffen hatte. Es entstanden
Fragen und keiner beantwortete sie. Honecker hatte verfügt, dass alle
Veröffentlichungen über seinen Tisch zu gehen haben. Die meisten blieben auf
seinem Tisch hängen und die, die dann doch weiter liefen, sagten nichts über
den wahren Sachverhalt aus. Jeder, der damals Zeitung gelesen hat, kann sich
noch an solche Meldungen erinnern, die sich ständig wiederholten und sinngemäß
lauteten: Durch die Sicherheitsorgane der DDR wurde der Bürger der BRD xxxxxxxx wegen staatsfeindlicher Agententätigkeit
festgenommen. Das zur Tat benutzte Kraftfahrzeug wurde eingezogen.«
Mit
solchen banalen Presse-Meldungen war aber der vorhandene Informationsbedarf bei
den Bürgern der DDR nicht zu decken. Dass in den meisten Fällen zusammen mit
diesen Bürgern der BRD auch ihre DDR-Agenturen festgesetzt wurden, kam in
dieser Berichterstattung nicht mehr vor. Auch der Charakter der begangenen
Straftaten spielte dabei keine Rolle. Es waren in der Praxis die Kuriere und
Instrukteure aus dem Westen, die zusammen mit ihren DDR-Agenturen erwischt
wurden. Auch eine öffentliche Auswertung von Strafprozessen dieser Art wurde im
Prinzip eingestellt.
Nach
der Schließung der Staatsgrenzen im August 1961
änderten sich die Methoden der geheimdienstlichen Angriffe gegen die DDR
grundlegend. Sie nahmen an Intensität zu und kamen nicht mehr so frontal und
direkt wie bis dahin üblich. Die Geheimdienste und andere gegen uns wirkende
Organisationen kamen jetzt auf anderen Wegen, die auch von uns neues taktisches
Vorgehen erforderten. Diese Kategorie von Spionen, von denen bis jetzt die Rede
war, bekamen ihre Instruktionen von ihren Auftraggebern jetzt über Funk und
waren alle an den so genannten Rundspruchdienst angeschlossen. Ihre
Informationen in den Westen liefen fast ausschließlich auf dem Postwege an
Deckadressen in der BRD. Dafür waren sie mit entsprechenden
Geheimschriftmitteln ausgerüstet. Doch das ist ein anderes Thema, auf das hier
erst einmal nicht weiter eingegangen werden soll.
Neben
dieser militärischen Linie mit ihren Vorbereitungen auf bewaffnete Auseinandersetzungen
verstärkten sich Angriffe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Gegner
kamen nicht mehr unter ihrem wahren Namen. Sie tarnten sich mit denen von
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Organisationen und entwickelten
Kontakte in ebensolche Bereiche in der DDR. Für ihre Partner hier war es oft
nicht einfach zu erkennen, mit wem sie sich da eingelassen hatten.
Das
gleiche galt für unsere Abwehrarbeit. Es hätte einer wesentlichen
Qualifizierung und Verbesserung der politischen Arbeit der dafür zuständigen
Kräfte in unserer Gesellschaft bedurft, um die neuen Feindmethoden sichtbar zu
machen, um Freund und Feind besser unterscheiden zu können. Dazu waren aber
diejenigen, die den Führungsanspruch in unserem Lande für sich erhoben, immer weniger
imstande. Das MfS mit seiner realen Lageeinschätzung wurde zum Störfaktor und
am Ende wurde es von diesen Leuten weggeworfen wie ein schmutziger Putzlappen,
den man nicht mehr brauchte.
Für
unsere Gegner war es nicht besonders schwer, das Märchen von »Kraken Stasi«,
der mit angeblich 91.000 primitiven Schnüfflern und 100.000 und so und so viel
schäbigen Spitzeln das Volk der DDR im Griff hatte, zu verbreiten. Soweit mir
bekannt ist, lag der operative Mitarbeiterbestand des MfS, also derjenige, der
Personen bearbeitet, kontrolliert und was weiß ich noch hatte, bei ungefähr
12.800.
Mit
diesen Notizen habe ich versucht sichtbar zu machen, wie der Tagesablauf eines
solchen »primitiven Schnüfflers« ausgesehen hat. Geschichten dieser Art sind
tausendfach in den nun in besonderer Verwaltung befindlichen BStU-Archiven abgelegt. Offenbar ist man wegen der Menge
der dort lagernden Akten noch nicht bis dahin vorgedrungen. In den Medien, die
ohne Pause über irgendeine Story aus diesen Bereichen berichten, habe ich noch
nichts gefunden.
Wie der Schutz
und die Sicherheit der DDR
zu meinem
Beruf wurden
Von
Johannes Schindler
Jahrgang
1935; Diplomjurist; MfS/AfNS 1953-1990; Oberst a. D.;
zuletzt Abteilungsleiter in der
SED-Kreisleitung
im MfS Berlin
Beeinflusst
hat meine Entscheidung damals, vor 60 Jahren, Fakten, Familie, Freunde und auch
Feinde. Es begann 1952 mit der Entscheidung der politischen und staatlichen
Führung in der DDR, in Abstimmung mit der Sowjetunion, in Reaktion auf die
Remilitarisierung in der BRD und Westeuropas an der Systemgrenze und zum
Schutze der DDR und ihrer Bürger kasernierte Einheiten der Deutschen
Volkspolizei zu schaffen. Dieses sicherheitspolitische Vorhaben hielt ich für
notwendig und richtig. Gründe gab es mit Blick auf die inneren Bedingungen nach
dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und seiner Folgen, aber besonders auch mit
Blick auf die äußeren, westwärts ablaufenden Entwicklungen genug.
Zwei
Vorgänge sollten mich dabei nachhaltig beeinflussen (und ich war nicht der
Einzige, dem es so ging). Da war die fortgesetzte Zerstörung Helgolands durch
die Royal Air Force, die die Nordseeinsel als Bombenabwurfplatz nutzte. Dagegen
formierte sich Widerstand, FDJler besetzten die Insel. Sie kamen ins Gefängnis
– und erhielten für ihren mutigen Einsatz in den 90er Jahren das
Bundesverdienstkreuz. Bundesweit regte sich Protest gegen die beginnende
Remilitarisierung. Eine »Jugendkarawane gegen Wiederaufrüstung und
Generalvertrag« zog trotz Verbot durchs Land. Am 11. Mai 1952 ging in Essen die
Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Dabei wurden der FDJler Philipp
Müller tödlich getroffen, der Sozialdemokrat Bernhard Schwarze und der
Gewerkschaftler Albert Bretthauer schwer verletzt. Es gab viele Festnahmen, elf
Personen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Landgericht Dortmund stufte
die Schüsse als Notwehr ein.
Hinzu
kam, dass in allen Bereichen des westdeutschen Staates die alten Nazis wieder
auftauchten. Nach einer kurzen Phase der Entnazifizierung in den Westzonen
tauchten sie wieder auf und machten im antikommunistischen Geiste weiter, wo
sie 1945 zwangsweise hatten aufhören müssen: Politiker, Juristen, Militärs,
Geheimdienstler, Journalisten, Pädagogen – und schrien nach Revanche und der
»Befreiung« der Ostzone, womit die DDR gemeint war.
Die
wehrte sich. Ich wehrte mich. Ich trat der KVP bei.
Nach
der dreijährigen Berufsausbildung zum Elektromaschinenbauer im VEB Elbtalwerk
Heidenau wollte ich ursprünglich eine Ingenieurschule besuchen. Als die FDJ auf
dem IV. Parlament in Leipzig die Patenschaft über die KVP übernahm und
Freiwillige suchte, änderte ich meine Pläne. Im März 1952 stellte man mich von
der Berufsausbildung frei, um im Auftrag der FDJ-Kreisleitung Pirna bei der
Werbung für den Dienst in der KVP mitzuwirken. Mir war klar, wenn ich diesen
Auftrag erfüllen wollte, musste ich jedoch selbst zum Dienst in den bewaffneten
Organen bereit sein. Die Freunde in der Kreisleitung setzten das als
selbstverständlich voraus. So gab ich die Verpflichtung ab, mit Erreichen des 18.
Lebensjahres den Dienst in der KVP anzutreten. In jedem Werbungsgespräch wurde
nach meiner eigenen Entscheidung gefragt. Ich konnte eine ehrliche Antwort
geben.
Der
sofortige Dienst in der KVP stand aber noch nicht auf der Tagesordnung. Dafür
war ich mit 16 Jahren noch zu jung. So kehrte ich nach Beendigung des Einsatzes
in der FDJ-Kreisleitung in meinen Betrieb zurück, schloss die Ausbildung ab und
arbeitete in der FDJ-Organisation als Sekretär für Organisation. Aufgaben zum
Schutz der DDR beschäftigten mich weiter, so beim Aufbau der Gesellschaft für
Sport und Technik und bei der Gewinnung Freiwilliger für den damalig
ausgerufenen »Dienst für Deutschland«. (Zur Erfüllung der von der Sowjetunion
an die DDR gerichteten Forderung, unverzüglich eigene militärische Verbände und
Einrichtungen zu schaffen, folgte der Entscheidung zum Aufbau der »
Kasernierten Volkspolizei« am 24. Juli 1952 der Beschluss des Ministerrates der
DDR zur Bildung der Organisation »Dienst für Deutschland« (DD). Er unterstand
dem Ministerium des Inneren der DDR, geleitet von der Hauptverwaltung DD.
Am
26. Juli 1952 entschied der Zentralrat der FDJ, die Entwicklung dieser
halbmilitärischen Organisation durch die Gewinnung Freiwilliger zu
unterstützen. Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter zwischen 17 bis 21
Jahren sollten für sechs Monate zum freiwilligen »Dienst für Deutschland«
gewonnen werden.
Die
kaserniert untergebrachten, nach militärischen Prinzipien aufgebaut und
geführten Trupps waren für Bau- und Erdarbeiten zur Errichtung militärischer
Objekte und Anlagen, im Einzelfall auch vordringlicher Objekte der
Volkswirtschaft vorgesehen. Verbunden war damit eine militärische
Grundausbildung für die Männer und eine Sanitätsausbildung der Frauen. Zu den
Zielen gehörte auch die Vorbereitung und Gewinnung für einen Dienst in den
Einheiten der Kasernierten Volkspolizei. Die Besoldung betrug pro Tag 1,00 Mark
der DDR.
Die
Grundkonzeption sah eine Gesamtstärke von 100.000 pro Durchgang vor. Mit den
erbrachten Arbeitsleistungen sollte sich der Dienst, einschließlich der
Gehälter des Führungspersonals, selbst finanzieren. Die ersten Trupps nahmen
ihren Dienst am 1. August 1952, vorwiegend bei der Realisierung militärischer
Vorhaben im nördlichen Teil der DDR, vereinzelt auch beim Aufbau der Eisen- und
Stahlwerke auf. Desaströse Probleme in finanziellen, organisatorischen und
disziplinarischen Belangen führten im November 1952 zur Auflösung der
Mädchentrupps und im März 1953 des ganzen Vorhabens.
Im
April 1953, als der Zeitpunkt für die Realisierung meiner KVP-Verpflichtung
absehbar war, wurde ich überraschend zur Bezirksverwaltung Dresden des MfS
bestellt.
Aus
eigenen Erlebnissen war mir bekannt, dass unter uns Menschen lebten, die mit
der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR nicht einverstanden waren, die
das nicht nur in Worten zum Ausdruck brachten, sondern mit strafbaren
Handlungen Schäden verursachten und Unruhe stiften wollten. Dafür drei
Beispiele. In den ersten Jahren nach Gründung der DDR wurden in meiner
sächsischen Heimat, besonders in der kalten Jahreszeit wiederholt die
Fensterscheiben der im Berufsverkehr nach Dresden zur Verfügung stehenden Züge
zerstört. Unter diesen Umständen eine etwa 90-minütige Fahrt bis zum Zielort
war keinesfalls gut für die Stimmung unter den Berufstätigen.
In
einem Volkseigenen Gut, für das die FDJ-Organisation unseres Betriebes die
Patenschaft hatte, war durch Brandstiftung ein Teil des eingelagerten
Erntegutes vernichtet worden. Wir konnten nur noch bei Aufräumarbeiten helfen.
Für die Versorgung der Bevölkerung blieb der Schaden. Eines Nachts brannte in
unmittelbarer Nähe meines Elternhauses eine als Notunterkunft für Umsiedler
eingerichtete Baracke völlig nieder. In der Brandnacht verlies der Täter mit
seiner Familie die DDR in Richtung Westberlin. War die Tat eine Vorleistung, um
als politischer Flüchtling anerkannt zu werden? Mit den geschilderten Vorgängen
war ich persönlich direkt konfrontiert. Trotzdem – von der Existenz des MfS,
seinen Aufgaben und seinem Wirken bei der Aufklärung derartiger Vorkommnisse,
hatte ich noch immer kaum Vorstellungen.
Bei
meiner Einbestellung zur Dienststelle des MfS in Dresden wurde mir unter Bezug
auf meine vorliegende Verpflichtung zum Dienst in der KVP der Vorschlag
unterbreitet, meinen Beitrag zur Sicherung der DDR und ihrer Bürger als
Mitarbeiter des MfS zu leisten.
Nach
einem ausführlichen Gespräch erfolgte die schriftliche Verpflichtung. Im
Gedächtnis geblieben sind mir besonders sinngemäß die Sätze: Ich werde so lange
wie notwendig, an jeder Stelle, jeden Auftrag im Interesse der Arbeiterklasse
und aller Werktätigen, zum Schutz und der Sicherheit der DDR leisten. Mich
mögen bei Verletzung meiner Pflichten die Verachtung des Volkes und die
härteste Strafe treffen. Mit diesem Versprechen verließ ich als Angehöriger des
MfS, mit dem Dienstgrad Soldat, die Bezirksverwaltung.
Mein
erster Auftrag lautete: Besuch des einjährigen Grundlehrganges an der Schule
des MfS in Eiche bei Potsdam. Ende Mai 1953 begann der Lehrgang. Für uns Kursanten
galt nun das in einer Kaserne übliche militärische Reglement, verbunden mit
Lektionen, Selbststudium und Seminaren. Auch die Bewachung des Objektes gehörte
dazu, einschließlich der Nebenwirkungen, die sich z. B. in starkem
Schlafbedürfnis während der Lektionen und beim Selbststudium bemerkbar machten.
Wir waren noch dabei, uns einzuleben und als Kollektiv zu entwickeln, als am
17. Juni der übliche Tagesbetrieb mit einem über den Kasernenfunk gegebenen
Befehl unterbrochen wurde. Er lautete in etwa: Unterricht sofort beenden; in so
und so viel Minuten antreten; Bekleidung: Uniform, Schirmmütze, Koppel, hohe
Schuhe! Im üblichen Dienstbetrieb galt ansonsten die Anzugsordnung Käppi,
Uniformjacke ohne Koppel, nebst Uniformhose stets saubere Halbschuhe. Zum
befohlenen Zeitpunkt angetreten, wurde uns kurz mitgeteilt, dass wir in
Brandenburg eingesetzt werden, weil es dort Vorkommnisse gegeben habe.
Genaueres wurde nicht gesagt. Und von den aktuellen Ereignissen in Berlin
hatten wir zu diesem Zeitpunkt erstrecht keine Kenntnis.
In
Brandenburg/Havel, in der Steinstraße angekommen, wurden wir in Kenntnis
gesetzt, dass feindliche Kräfte das Gerichtsgebäude und Gefängnis angegriffen,
Mitarbeiter des Gerichtes und der Staatsanwaltschaft misshandelt und mit dem
Tode bedroht, Kräfte der Volkspolizei und der Kasernierten Volkspolizei
entwaffnet hatten. Wir erhielten den Auftrag, die Steinstraße von dort
befindlichen Personen zu räumen und das Gebäude zu sichern. Wir, der 5. Zug
unter Führung des Klassenlehrers, einem Oberleutnant und damit gleichzeitig
militärischen Vorgesetzten, bildeten eine über beide Bürgersteige und die
Straße reichende Kette und setzten uns in mäßigem Tempo in Bewegung. Wir
Kursanten waren unbewaffnet, nur unser besagter Oberleutnant trug eine Pistole
– umgeschnallt und unterladen. Die sich vor uns befindlichen Menschen wichen
ohne Zögern und ohne Widerstand zu leisten zurück, entfernten sich schließlich
friedfertig aus der Steinstraße in verschiedene Richtungen. Die Bedrohung des
Objektes war ohne jeden neuen Zwischenfall beendet.
Aber
was war vor unserem Eintreffen geschehen, welches waren
die Hintergründe für unseren Einsatz? Aufschlussreich ist dazu ein im
vergangenem Jahr, anlässlich des 60. Jahrestages der Ereignisse um den 17. Juni
1953 von der Bundeszentrale für Politische Bildung unter dem »Projekt 17. Juni
1953«, im Internet veröffentlichter Bericht eines damaligen Rädelsführers der
Vorkommnisse in der Stadt Brandenburg. Man beachte den auffällig militärischen
Stil seines Berichtes unter der Kennung »(SPD-PV Ostbüro)
Quelle 3-622/5«.
Daraus
einige Auszüge.
»Quelle
beteiligte sich an Demonstrationen rege, entwaffnete bei der SED-Kreisleitung
die dort postierten 8 bis 9 Vopos. Einer von ihnen wurde in die Havel geworfen.
Quelle sonderte sich mit etwa 20 Mann ab, worunter drei Mann mit 08-Pistolen
bewaffnet waren. […] Sie zogen zum Amtsgericht Steinstraße, wo sich bereits
eine größere Menschenmenge angesammelt hatte. Die Scheiben des Amtsgerichtes
wurden zerschlagen, worauf der Menge drei Vopos mit gezogener Pistole entgegentraten.
Hier eröffnete die Vopo aus den Wachstuben das Feuer. Es waren allerdings nur
Warnschüsse. Nachdem sie die Vopos abgedrängt hatten, brachen sie in das
Amtsgerichtsgebäude ein. […] Nachdem von der VP scharf geschossen wurde,
revanchierte sich Quelle mit zwei Schüssen gegen die Stellung der Vopo. Dadurch
gelang der Einbruch in das Gefängnis. […] Quelle forderte nun Freigabe der
politischen Gefangenen. Im gleichen Moment erschien der Richter des
Polizeigefängnisses und erbot sich zur Verhandlung und erklärte sich zur
Freigabe der Gefangenen bereit. […] Der Staatsanwalt wurde mit Handschellen
gefesselt zum Gefangenenwagen geführt, wurde daraufhin blutig geschlagen und in
das Gefängnis zurückgeführt, wo er bald darauf mit einem Pkw an die Havel
gefahren wurde. Hier warf man ihn von der Lukenberger
Brücke in den Fluss.«
Zum
Einsatz der Kursanten des MfS vermerkte »Quelle«: »Weitere Verstärkung durch
KVP (mit roten Schulterstücken) und einem K-Zeichen wurde mit Omnibussen
herangebracht. Es befanden sich darunter Offiziere und Mannschaften, jedoch
unbewaffnet, erst hier wurden sie teilweise bewaffnet. Sie versahen daraufhin
den Streifendienst nach 19.00 Uhr bis 6.00 Uhr früh.«
Diese
Aussage entspricht nicht den Tatsachen. Unsere Ausrüstung beim Einsatz am 17.
Juni war einzig und allein unsere politische Haltung, verbunden mit einer
Portion Courage und der Gewissheit, sich auf den Nebenmann verlassen zu können.
Die meisten von uns waren bis wenige Monate davor selbst noch Arbeiter in der
Produktion, waren Kinder aus Arbeiterfamilien, hatten keine Berührungsängste
vor den Angesammelten, wohl aber das Gespür, dass entschlossen und besonnen
gehandelt werden musste.
Die
Streifen zur Kontrolle und Durchsetzung der Ausgangssperre in der Nacht vom 17.
zum 18. Juni erfolgten mit Lkw und ohne Waffen, in der folgenden Nacht per
Fahrrad, bewaffnet mit Karabiner K 98, aber ohne Munition. Am 19. Juni
erhielten die Streifen je fünf Patronen, die nicht in die Waffe eingeführt
werden durften, sondern in einer Tasche der Uniform zu tragen waren. Auf diese
Details verweise ich angesichts solcher Behauptungen von der »blutigen
Niederschlagung des Volks- und Arbeiteraufstandes.« Im
Gegenteil – Blutvergießen sollte verhindert werden. Es galt der Grundsatz,
gegen protestierende Werktätige wird keine Waffe angewendet.
Angesichts
der seit dieser Zeit in der BRD und Westberlins, und nunmehr im »vereinten«
Deutschland jährlich vollzogenen offiziellen Rituale zum 17. Juni, ist der für
den damaligen SPD-Parteivorstand und das Ostbüro der
SPD gefertigte Bericht noch heute in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Leute
vom Schlage der sich dem Ostbüro der SPD verpflichtet
fühlenden »Quelle 3-622/5« beteiligten sich rege an Demonstrationen – was immer
das bedeuten soll – und begingen am 17. Juni 1953 in der DDR schwerste
Straftaten, die in jedem Staat, auch der BRD, verfolgt und mit hohen Strafen
geahndet wurden und werden.
Weil
derartige Handlungen aber in und gegen die DDR geschahen, ist der Täter nach
dem Denkschema der Bundeszentrale für politische Bildung offenkundig ein
erwähnenswerter Held und Freiheitskämpfer.
Im
Juni 1954 endete für uns 400 Kursanten die Ausbildung an der Schule des MfS in
Potsdam-Eiche mit Prüfungen und Beförderungen, mit Gesprächen über den
künftigen Einsatz. Als nunmehriger Feldwebel wurde ich zur Hauptabteilung V des
MfS (später Hauptabteilung XX) versetzt. Gerade 19 Jahre alt geworden, ohne
praktische Kenntnisse in der politisch-operativen Arbeit, also als echter
Neuling, trat ich mit großem Respekt vor dem, was nunmehr auf mich zukommen
sollte, meinen Dienst als Sachbearbeiter in der Hauptabteilung V an. Und mit
mir noch weitere Kursanten des Lehrganges.
In
der HA V fanden zu jener Zeit einige Veränderungen in Bezug auf die zu
sichernden Bereiche und Objekte statt, verbunden mit wachsenden Ansprüchen an
die neu gebildete Abteilung 7, in der ich nun tätig wurde. Sicher war ich als
absoluter Neuling nicht die Kaderzuführung, die meine Vorgesetzten brauchten
und gewünscht haben. Doch keiner lies mich das spüren. Im Gegenteil, mein
damaliger Abteilungsleiter, ein von den Faschisten verfolgter Genosse, war in
den dienstlichen Belangen ein konsequenter, aber auch einfühlsamer
Vorgesetzter. Er gab mir auch in persönlichen Belangen in geradezu väterlicher
Art und Weise manchen Rat und Hinweis.
Nach
kurzer Zeit wurde mir die Objektsicherung für die DEFA-Kopierwerke in
Berlin-Köpenick und Berlin-Johannisthal sowie des
Progress-Filmverleih übertragen. Eigentlich Werke bzw. Einrichtungen, für die
normalerweise die territorialen Dienststellen zuständig waren. In dieser Zeit
hatten die stationären Kinos und die Landfilmspielbetriebe die Aufgabe, die
Bevölkerung der DDR mit Filmen kulturell zu betreuen und politisch aktuell zu
informieren. Das bedeutete, die DDR-Bürger wöchentlich mit der »Wochenschau«
und anderen Dokumentarfilmen zu aktuellen Themen sowie mit Spielfilmen zu
versorgen. Eine Aufgabe, die von den Beschäftigten in den Kopierwerken und im
Filmvertrieb logistisch einiges abverlangte, allen voran aber zuverlässige
Arbeit.
Kurz
nach Übertragung der Objektsicherung wurde ich mit folgendem Sachverhalt
konfrontiert. Ein Mitarbeiter aus der für die Produktion der Kopien der
»DEFA-Wochenschauen« zuständigen Abteilung des Kopierwerkes Köpenick hatte
sich Rat suchend beim Kaderchef des Betriebes gemeldet. Er war in der Wohnung
von einem ihm unbekannten Mann mit Wohnsitz in Westberlin besucht worden.
Dieser gab an, ein Verwandter des Besuchten zu sein. Die Schilderungen zur
Verwandtschaft waren für den Besuchten jedoch undurchsichtig und nicht
nachvollziehbar. Auffällig war das Interesse des Westberliners für die
Tätigkeit des Besuchten in seinem Betrieb, die Arbeitsabläufe in der Abteilung
und die angekündigte Absicht, den Kontakt durch weitere Besuche fortzusetzen zu
wollen. Das bewog den Beschäftigten im Kopierwerk, diese Angelegenheit dem
Kaderleiter mitzuteilen.
Mit
dem DEFA-Kopier-Beschäftigten, Mitglied der Gewerkschaft aber sonst politisch
nicht organisiert, wurde Verbindung aufgenommen. Die mit ihm geführten Gespräche,
die zu seiner Person und Familie eingeholten Erkundigungen ergaben, dass es
sich bei ihm um einen loyalen Bürger der DDR handelt, der mit seiner Frau und
vier Kindern in geordneten und harmonischen familiären Verhältnissen lebt, dass
er sich mit seinem Betrieb verbunden fühlt und seine Aufgaben zuverlässig
erfüllt. Ausgehend von diesen Feststellungen und seiner in den Gesprächen
gezeigten Aufgeschlossenheit, wurde mit ihm vereinbart, bis zur Klärung der
Sache, zusammenzuarbeiten.
Das
Resultat der operativen Bearbeitung des Sachverhaltes und dank auch seiner
aktiven Mitarbeit: Der Westberliner Bürger war im Zweiten Weltkrieg Heckschütze
in einem Flugzeug der faschistischen Luftwaffe. Bei einem Beschuss der Maschine
wurde er an beiden Beinen schwer verwundet und blieb in der Folge schwer
behindert. Selbst mit Gehhilfen konnte er sich nur mühsam fortbewegen. Ein
hilfloser und bemitleidenswerter Mensch. Für tatsächliche verwandtschaftliche
Beziehungen zum DEFA-Mitarbeiter und dessen Frau gab es keinerlei
Anhaltspunkte. Diese Geschichte bildete ganz offensichtlich nur den Vorwand zur
Kontaktaufnahme. Der angebliche Verwandte handelte im Auftrage der in
Westberlin ansässigen Organisation Untersuchungsausschuss
freiheitlicher Juristen (UfJ).
Diese
Organisation war dafür bekannt, dass sie DDR-Bürger zur Spionage auf
politischem, ökonomischem und militärischem Gebiet anwarb und gezielt
einsetzte. Im Auftrage des US-amerikanischen Geheimdienstes befasste sie sich
auch mit der Bildung paramilitärischer Gruppen in der DDR. Diese sollten im
Falle eines Krieges im Hinterland unserer Republik wirksam werden. Auch die
Herstellung und die Verbreitung von Druckerzeugnissen, mit denen unter der
DDR-Bevölkerung ideologische Zersetzung betrieben werden sollte, gehörten zum
Repertoire des UfJ. Deshalb offenkundig auch das
besondere Interesse für die Herstellung der DEFA-Wochenschauen und anderer
Filmerzeugnisse. Der vorgebliche Verwandte organisierte schließlich einen
Besuch im Sitz des UfJ. In unserem Sprachgebrauch
hieß das: »Er führte den DEFA-Mitarbeiter dem UfJ zu.«
Der
das Gespräch führende Mitarbeiter des UfJ
interessierte sich für die technische Ausrüstung, für Arbeitsabläufe,
verwendete Substanzen und neuralgische Stellen im Produktionsprozess. Erkennbar
war bei ihm auch, herauszufinden, welche Möglichkeiten zur Herbeiführung von
Störungen existieren.
Mit
der Zuführung und dem Gespräch war geklärt, in wessen Interesse die
schleierhafte Kontaktaufnahme erfolgte. Die Überlegung unsererseits, mit Hilfe
des DEFA-Mitarbeiters den Kontakt zum UfJ weiter
aufrechtzuerhalten, wurde verworfen. War doch davon auszugehen, dass der Agent
bei weiteren Treffen konkrete Angaben zu den angeführten Details aus dem
Produktionsablauf oder zu Personen, die für den UfJ
von Interesse sein könnten, abverlangt hätte. Auch mit Aufträgen zur Störung
war zu rechnen. Gegen den vorgeblichen Westberliner Verwandten wurde ein
strafprozessuales Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bei einem weiteren
Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR wurde er in Untersuchungshaft genommen. Es
ist sehr bezeichnend: Dieser wegen seiner schweren Behinderung eigentlich
bedauernswerte Mensch, sein Mitleid erregender Zustand, wurde seitens des UfJ, der von DDR-Gerichten als Agentenorganisation
entlarvten DDR-feindlichen Zentrale bewusst zu Handlungen gegen die DDR
missbraucht, ohne jede Rücksicht auf die Folgen. Auch das Schicksal des von ihm
Kontaktierten, dessen Frau und deren vier Kinder, spielten offenkundig keine
Rolle. Nur angenommen, er hätte sich auf die Absichten des UfJ
eingelassen, damit strafbar gemacht und er wäre nach seiner Enttarnung bestraft
worden.
Im
gleichen Zeitraum hatte unsere, für die Sicherung des Rundfunks der DDR
zuständige Abteilung, die Ursachen für einen Brand aufzuklären. Am Vorabend der
Einweihung des Großen Sendesaals, waren an diesem mit großem Aufwand
errichteten, modern ausgestatten Bau, durch Brandstiftung schwere Schäden in
Höhe von ca. 2 Millionen Mark entstanden. Nach kurzer Zeit konnte der
Brandstifter ermittelt werden. Durch meine direkte Konfrontation mit Menschen,
die aus feindlicher Gesinnung (wie am Beispiel »Quelle« um den 17. Juni 1953 in
Brandenburg an der Havel ersichtlich), von antikommunistischem Hass getriebene
Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Einrichtungen verübten, meine in dieser
Zeit ersten Schritte erfolgreicher Abwehrarbeit in den Reihen des MfS,
bestärkten mich in meiner Haltung. Die Entscheidung für den Dienst im
Ministerium für Staatssicherheit war richtig und notwendig.
Daran
hat sich über meine 37 Dienstjahre hinweg, in denen ich mit sehr verschiedenen
Aufgaben betraut war, nie etwas geändert. Für meine Motivation sorgten die
Geheimdienste und andere staatliche Organe sowie verschiedene Einrichtungen und
Organisationen, die vom Boden der BRD aus operierenden Feinde der DDR. So ein Spion,
der im Fernmeldeamt der Regierung der DDR Gespräche von bedeutsamen Anschlüssen
aufzeichnete und die Bänder an einen westlichen Geheimdienst lieferte.
Mein
Arbeitselan für das Wohl der DDR und ihrer Bürger wurde herausgefordert, um der
vom Westen betriebenen massenhaften Abwerbung von Ärzten und medizinischen
Personal aus der DDR, wodurch die medizinische Versorgung der Bevölkerung in
unserem Lande ernsthaft gefährdet wurde, einen Riegel vorzuschieben. Und mich
motivierten auch die vielfältigen gegnerischen Aktivitäten, Menschen, die mit
Entwicklungen in der DDR unzufrieden waren, so zu beeinflussen und zu
manipulieren, dass sie in Zusammenarbeit mit ausländischen Einrichtungen dazu
übergingen, Gleichgesinnte in ihren Einfluss- und Wirkungsbereichen zu sammeln
und möglichst zu DDR-feindlichen Handlungen zu inspirieren. In der
umfangreichen Literatur, einer inzwischen umfangreichen Bibliothek von seriösen
Sach- und Erinnerungsbüchern zur Wahrheit über die Tätigkeit des MfS und seiner
Angehörigen wie auch der inoffiziellen Mitarbeiter, ist das von mir in meinen
persönlichen Erinnerungen hier nur episodenhaft Beschriebene erhellend und
vertiefend nachzulesen – inzwischen auch aus dem Internet abrufbar, authentisch
und wahrhaftig wider dem antikommunistischen Zeitgeist. Waren meine
ursprünglichen Motive für den Dienst im Ministerium für Staatssicherheit noch
stark von Gefühlen und jugendlichen Drang bestimmt, kamen mit dem Älterwerden,
dem zunehmenden Wissen um die Friedenskraft einer erfolgreichen gesellschaftlichen
Alternative zur Herrschaft des Kapitals, um den Fortschrittswert des Schutzes
der sozialistischen Entwicklung in der DDR, einschließlich ihrer
internationalen Beziehungen, weitere fundamentale Motive hinzu. Mein Dienst im
MfS war für mich nicht nur Klassenauftrag zur Sicherung einer neuen, der
sozialistischen Gesellschaft, es war zudem Friedensdienst im wahrsten Sinne des
Wortes. Die unheilvolle, neue Weltkriegsgefahren hervorbringende imperiale
Politik der vermeintlichen Sieger der Geschichte legt heute davon bitteres
Zeugnis ab.
Erfolge
und Fortschritte in der DDR haben mich motiviert, Probleme und deren Zunahme
haben mich bewegt, aber mir nie den Optimismus genommen, dass es Lösungen geben
wird. Da verwischten sich sicher Grenzen vom Idealismus zur Illusion. Für mich
bleibt die Feststellung, ich habe mit meinem Tun und Lassen dazu beigetragen,
dass sich die DDR so entwickelte, wie sie war, mit ihren guten, Alternativen
für die Zukunft zeigenden Seiten und ihren Schwächen, die mit zu ihrem Ende führten.
Dieser Verantwortung muss ich mich stellen und nicht nur bei anderen Menschen
oder Umständen, nach Gründen suchen. Für mich bleibt die Genugtuung in einer
Bewegung mitgewirkt zu haben, die noch nicht weiter geführt werden konnte, aber
einst weitergeführt wird.
Während
meiner beruflichen Tätigkeit ab 1990, die täglich mit Kontakten zu vielen
Menschen verbunden war, in meinem gesellschaftlichen Wirken und auch in ganz
persönlichen Dingen, bin ich oft nach meiner beruflichen Entwicklung gefragt
worden. Im Sinne meiner vorstehend geschilderten Positionen, habe ich mich
stets zu meinem Dienst im MfS und zu meinem politischen Wirken bekannt. Von
wenigen Fällen abgesehen, wie notorischen Antikommunisten, gab es sachliche
Reaktionen. Auch von Menschen, von denen ich es nicht erwartet hatte. In der
beruflichen Zusammenarbeit, im gesellschaftlichen Wirken, auch bei der
Erledigung persönlicher Dinge, war nach solch offenen Gesprächen vieles
einfacher. Es gab auch Möglichkeiten entspannt auf Fragen und Vorbehalte zu
antworten. In manchen Fällen war es der Anfang eines von gegenseitiger Achtung
getragenen Kontaktes. Für mich ein Beleg dafür, die Verteufelung des MfS und
seiner Mitarbeiter verläuft nicht allein und schon gar nicht ganz nach den
Willen ihrer Urheber und meist gut honorierten Vollstrecker. Wir haben
mitzureden und müssen es tun.
Episoden aus
meinem Leben und meiner Tätigkeit
Von
Reiner Neubert
Jahrgang
1948; Fachschuljurist; MfS/AfNS 1968-1990;
Oberstleutnant a. D; zuletzt Stellvertreter des Leiters der Kreisdienststelle
Berlin-Treptow des MfS
Ich
wurde 1968 in das MfS eingestellt. Dieser Weg war mir weder aufoktroyiert noch
befohlen worden. Meine Entscheidung entsprach meiner Erziehung nicht nur im
Elternhaus. Nicht nur meine Eltern, auch die Brüder meines Vaters, waren im
antifaschistischen Widerstandskampf tätig. Einige von ihnen bezahlten das mit
dem Leben bzw. mit Zuchthaus. Das prägte meine Haltung seit meiner Kindheit.
Ich wurde nie zum Schwarzweiß-Sehen erzogen. Dadurch erkannte ich mit zunehmendem
Alter auch Schwachstellen in der DDR-Gesellschaft, ohne das Ziel, die
Errichtung des Sozialismus, einer besseren Gesellschaft, in Frage zu stellen.
In
den Nachkriegsjahren erlebte ich eine unbeschwerte Kindheit. Trotz des – nach
dem mörderischen Krieg – mehr als bescheidenen Wohlstandes, kannten wir keine
krankmachenden Existenzängste, keine Bildungsnot und keine beruflichen
Entwicklungssorgen, wie heute üblich. Meine Eltern waren beruflich, wie auch
gesellschaftlich stark in Anspruch genommen. Wir lebten einfach und waren mit
uns zufrieden. Was kann eigentlich in einer Menschengemeinschaft soziale
Sicherheit ersetzen? Der Neid, die Gier, das Ausbeuten anderer, der Gewinn auf
Kosten der Gemeinschaft? Diese momentan herrschende Gesellschaft wird niemals
in der Lage sein, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse aller zu
entwickeln. Und »Alle«, das sind Milliarden Menschen und nicht einige
Milliardäre und zigtausend Millionäre, die übrigens keine Gesellschaft braucht
und auch nicht nötig hat. Aber darüber will ich mich hier nicht weiter
auslassen – die einleitenden Gedanken sollen aber deutlich machen, welche
Weltanschauung mein Denken und Handeln prägte und noch immer bestimmt, auch in
Bezug auf meine Tätigkeit im MfS. Zu einigen Erinnerungen aus meinem Dienst,
auch Merkwürdigkeiten, will ich im Folgenden berichten.
Im
Zusammenhang mit der Ausreise von DDR-Bürgern bekam ich eine Information zu
einem geplanten ungesetzlichen Verlassen auf den Tisch. Das Schreiben kam von
der Kriminalpolizei. Darin wurde einem Handwerker die Absicht nachgesagt, das
Land verlassen zu wollen.
Erste
Überprüfungen ergaben nichts Nachteiliges. Besagter Handwerker war verheiratet,
besaß eine Reparaturwerkstatt, ein Haus, einen ansprechenden Pkw, einen
Wohnwagen und eine Segeljacht. Warum sollte also so einer wegwollen? Er hatte
doch alles, was man zum Leben brauchte. Was tun? Wir luden ihn kurzerhand zu
einer Volkspolizei-Inspektion vor und machten ihn mit dem Inhalt der
Information vertraut. Geheimniskrämerei war hier nicht angesagt. Er lachte und
meinte sofort, dass das von seiner Schwägerin käme. Er sprach über sich, über
seine Lage und lud uns nach Hause ein, um uns von der Haltlosigkeit der
Information zu überzeugen. Seine Schwiegermutter lebe im Bayerischen Wald, läge
im Krankenhaus, und es sei eine Erbschaft zu erwarten. Seine Schwägerin glaube,
dass sie um ihren Anteil betrogen werde. Ich war vorerst zufrieden mit der
Erklärung und wir verabschiedeten uns. Er vergaß aber dabei nicht zu fragen, ob
er zu uns kommen könne, wenn er mal ein Problem habe. Ich sagte zu und übergab
ihm eine interne Telefonnummer der Volkspolizei, die aber in unserer
Dienststelle aufgeschaltet war. Für uns war damit vorerst das Problem geklärt.
Nach
mehreren Wochen meldete sich der »Handwerker« mit einem »Problem«. Seine
Ehefrau wolle zur ihrer Mutter fahren, die im Krankenhaus läge. Eine Reise zum
80. Geburtstag sei bereits abgelehnt worden. Ich sagte ihm eine Prüfung zu.
Diese ergab, die Ablehnung erfolgte durch die Volkspolizei. Durch Ermittlungen
des Abschnittsbevollmächtigten war bekannt geworden, dass im Hause des
Handwerkers auffällige Personen- und Materialbewegungen, meist in den
Abendstunden zu beobachten waren. Ohne Konkretes zu wissen, wurde aus diesen
Gründen die Reise abgelehnt. Letztlich war die Reisestelle im Polizeipräsidium
Berlin für die Genehmigung oder Ablehnung zuständig. Einfluss nahmen wir als
MfS nur, wenn wir selbst konkrete und schwerwiegende Ablehnungsgründe hatten.
Die gab es in diesem Falle aber nicht. Druck auf die VP in dieser Beziehung
auszuüben, weil wir über andere Informationen verfügten, verbot sich von selbst
und wurde auch nicht geduldet. Unter den gegebenen Umständen war für uns klar,
dass die Reise hätte genehmigt werden müssen, aber eine neue Beantragung würde
erfahrungsgemäß wieder zu einer Ablehnung führen.
Nachdem
ich mich als Mitarbeiter des MfS zu erkennen gegeben hatten, erklärte ich ihm
unsere Bereitschaft zu helfen. Nach einigen Tagen übergab ich ihm einen
konspirativ beschafften Reisepass mit gültigem Visum für seine Frau. Er lud
mich sofort nach Hause ein, damit seine Frau sich bedanken könne. Sie war das
mitarbeitende Familienmitglied in seiner Firma. In der Freizeit betätigte sie
sich in der Kirche. Sie trat ihre Reise an, kam zurück, und ihr Mann meldete
bei uns »Vollzug«, obwohl dazu nicht beauftragt.
Es
vergingen Monate. Eines Tage saß der »Handwerker« erneut in unserer
Dienststelle im Besucherzimmer und trug sein Problem vor. Er habe einen
80-jährigen Onkel in Westberlin, den er gerne noch einmal besuchen möchte und
ob wir ihm behilflich sein könnten. Nun wollte ich bei ihm nicht anders
entscheiden als bei seiner Frau und besorgte ihm einen Reisepass mit Visum für
Westberlin. Ich gestattete ihm, was eigentlich unüblich war, sogar die Reise mit
Fahrzeug. Nach einigen Tagen kam er zurück, meldete sich unaufgefordert und bat
um einen Termin. Er erzählte mir eine eigenartige Geschichte.
Sein
Onkel wohne in Dahlem. Als er nach einem Besuch wieder in seine Unterkunft bei
einem ehemaligen Schulfreund wollte, fuhr er in der Clay-Allee hinter einem
größeren Fahrzeug her. Dieses bog rechts ab und er in Gedankenlosigkeit
hinterher. Plötzlich sei er von amerikanischer Militärpolizei angehalten worden
und eindringlich befragt worden. Das Ganze habe sich am nächsten Tag
wiederholt. Man hätte ihn in seiner Unterkunft aufgesucht, diesmal Herren in
Zivil. Es wären die üblichen Fragen gestellt worden: wer, woher, wohin, warum
und weswegen? Ich nahm seine Schilderungen regungslos zur Kenntnis, machte
keine Aufzeichnungen, stellte keine Fragen und schrieb aber anschließend einen
Gedächtnisbericht. Bei der Niederschrift kamen mir Zweifel hinsichtlich der
Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen. Er hatte es im Gespräch vermieden,
Konkretes zu benennen. Weder wo und bei wem er übernachtete, noch Details aus
der »Befragung«.
Hier
kam mir eine seiner Äußerungen am Anfang unseres Kontaktes in den Sinn, in dem
er seine Bereitschaft zu einer Unterstützung des MfS bekundete. Dazu hatte ich
ihn weder gebeten noch aufgefordert. Er kam dann noch mit zwei weiteren Bitten:
Reisen zu seinen Schulkameraden nach Baden-Württemberg und nach Hamburg. Zuerst
wollte er nach Süden. Gleiches Spiel wie vorher. Nach der Rückkehr meldete er
sich unaufgefordert und erstattete Bericht. Er sei mit seinem Pkw über Herleshausen in Richtung Stuttgart, aber Landstraße
gefahren. Irgendwo habe er einen Flugplatz gesehen. Weil ihn das Geschehen
interessierte, habe er einen Halt eingelegt und sei mit einem Piloten ins
Gespräch gekommen. Dieser habe ihn zu einem Rundflug eingeladen, den er
bereitwillig angenommen habe. Der Flug sei über die Rhön gegangen, während der
Pilot ihn auf die Raketenstellungen der US-Armee aufmerksam gemacht habe. Für
die Rückreise habe er sich wieder mit dem Piloten vereinbart.
Auf
dem weiteren Weg nach Stuttgart habe er Manövergebiet der Amerikaner
durchquert, sei angehalten und befragt worden. Man hätte bereits über ihn
Bescheid gewusst. In Stuttgart bei seinem Schulfreund angekommen, habe es
dieser mit der Angst zu tun bekommen, weil er mit seinem Pkw mit
DDR-Kennzeichen vorgefahren sei. Besagter Schulfreund wäre in der militärischen
Produktion in einer höheren Position tätig. Mehr als Bestätigung dafür äußerte
er, dass das Haus seines Schulfreundes mit einem Atombunker ausgestattet sei.
Auf der Rückreise habe er wieder an dem Flugplatz gehalten und sich mit dem
Piloten getroffen, der ihn zu einem Flug nach London mitgenommen hätte. Ich
nahm wie gewohnt alles zur Kenntnis und fertigte anschließend ein
Gedächtnisprotokoll.
Sein
Schulfreund in Hamburg war für die BV Rostock als Ornithologe erfasst. Zwar
hatte ich das bisher von ihm Gesagte mit Skepsis aufgenommen, aber nun
leuchtete die Signallampe bei mir. Förster und Ornithologen waren bei
westlichen Geheimdiensten gefragte Zielobjekte, weil sie für ihr Herumstrolchen
an militärischen Objekten in den Wäldern stets eine glaubhafte Begründung
hatten. Ich sah mir das Material noch einmal durch und wurde in meinen Gedanken
bestätigt, dass man uns hier beschäftigen bzw. zu einer Anwerbung animieren
wollte. Alle Informationen von ihm waren nebulös, schemenhaft und ließen
erkennen, dass er seine gelieferten Darstellungen nicht erlebt hatte. Er wollte
sich lediglich interessant machen. Irgendwelche Dienste standen offensichtlich
hinter ihm.
Nach
seiner angeblichen Rückkehr aus Hamburg gab es dann auch nur noch ein oder zwei
Telefonate. Weitere Reaktionen kamen von ihm nicht, wahrscheinlich deswegen,
weil er von uns nicht angeworben wurde, so dass auch die westlichen Dienste
offenkundig kein Interesse mehr hatten. Um mich weiter mit ihm zu
beschäftigten, fehlten auch auf meiner Dienststelle die Möglichkeiten. Man
hätte aufwendige Maßnahmen zu seiner Person einleiten müssen. Aber ohne
konkrete Begründung, nur auf vage Hinweise hin, hätte das niemand genehmigt.
Ich packte das gesamte Material zusammen und übergab es einer Fachabteilung.
Im
Mai 1985 oder 1986 rief mich nach Dienstschluss der Diensthabende zu Hause an
und informierte mich über einen auf den ersten Blick belanglosen Sachverhalt.
Zwei Volkspolizisten hatten während ihres Streifenganges beobachtet, wie aus
einem Fenster die weiter weg liegende Staatsgrenze fotografiert worden sei.
Dieses Haus befand sich nicht im Grenzgebiet. Um aber auf der sicheren Seite zu
sein, teilte ich dem Offizier vom Dienst mit, er möge die Personalien
feststellen lassen. Das wurde als Auftrag umgehend an die Polizei
weitergegeben. Am nächsten Tag fuhr ich zum VP-Revier und sprach mit beiden
Streifenpolizisten. Sie hatten einen Mann in einem Fenster beobachtet, der an
einer Filmkamera mit zwei übereinander liegenden Objektiven hantiert hatte.
Ich
ließ die Polizisten eine Skizze fertigen, aber konnte damit nicht sehr viel
anfangen. Ich beendete das Gespräch und fuhr die betreffende Straße mehr aus
Neugier lang. Beim Vorbeifahren sah ich auf dem Balkon der betreffenden Wohnung
an der Wand einen rot angestrichenen Ausguss angebracht, der zur Pflanzschale
für Blumen umfunktioniert worden war. Er war mir schon früher als Blickfang
aufgefallen. So weit so gut. An mehr hatte ich dabei nicht gedacht.
Einige
Tage später war ich zur Beratung im Operativ Technischer
Sektor (OTS) des MfS in Hohenschönhausen. Ich legte den Mitarbeitern den
Sachverhalt dar und die Skizzen vor. Die Antwort kam wie aus der Pistole
geschossen: Infrarotdatenübermittlungstechnik, schwer zu orten, relativ sicher.
Was steht gegenüber?, war die nächste Frage. Häuser
mit freier Sicht gen Osten. Wie kann auf unserer Seite die Wohnung angepeilt
werden? Gibt es etwas Besonderes? Ja, sagte ich, einen rot gestrichenen Ausguss
an der westwärts gelegenen Balkonwand. Alles klar. Nun hatte ich in vielen
Dingen Entscheidungsfreiheit, aber solch eine Sache musste schon mit dem
Abteilungsleiter abgesprochen werden. Wir einigten uns auf einige erste
Maßnahmen zur Person. Es handelte sich um einen Handwerker in einer Firma.
Diese galt als seriös und zuverlässig und wurde wohl deswegen auch in
Regierungsobjekten und selbst in Objekten des MfS eingesetzt. Der Besagte war
Jahre vorher mit Wohnwagen und seiner Frau in Ungarn am Plattensee im Urlaub
gewesen und ein Jahr später allein. Keine Kontakte nach Westberlin oder in die
BRD. Also was sollte so einer so Wichtiges wissen oder haben, was andere
interessieren könnte. Andererseits machte seine Tätigkeit in den genannten Objekten
stutzig.
Sein
Vater wohnte im Süden der DDR. Ich erhielt den Auftrag, dorthin zu fahren und
mit dem Vater zu sprechen. Mein direkter Vorgesetzter hatte bereits mit dem
dortigen Dienststellenleiter gesprochen und erfahren, dass der Vater Kontakt
zum MfS hatte und zuverlässig sei. Ich solle also versuchen, über den Vater an
den Wohnungsschlüssel seines Sohnes heranzukommen. Das schien mir wenig bis gar
nicht plausibel, aber ausreden ließ sich das mein Vorgesetzter nicht. Dabei
hätten wir viel bessere, dafür aber aufwendigere Möglichkeiten gehabt. Er
wollte das Problem so schnell wie möglich geklärt haben. Das jedoch erfolgte
auch schneller als wir vermuteten. Nachdem ich mit dem Vater gesprochen und ihn
unter legendenhaftem Gerede das eigentliche Anliegen nahe gebracht hatte,
erklärte er sich dazu bereit, auch zum Stillschweigen.
Die
Information, dass wir den Wohnungsschlüssel brauchten, war schneller als ich in
Berlin. In fieberhafter Eile wechselte unser »Spion« die Haus- und
Wohnungstürschlösser, womit für uns eindeutig war, mit wem wir es zu tun
hatten. Aber er war auch durch unsere Stümperei gewarnt. Jedenfalls musste ich
mit der Akte einige Zeit später zu einem General. Er sah hinein, blätterte ein
wenig und meinte, das wäre ein hundertprozentiger Spion, der 14 Tage allein in
Ungarn gewesen und dort offensichtlich vom BND geschult worden sei. Mir
gegenüber verhielt sich der General sachlich und ruhig, obwohl er für
Zornesausbrüche bekannt war.
Ich
glaube aber, dass sich dafür mein Vorgesetzter später eine Strafpredigt anhören
musste. Was aus der Geschichte wurde, weiß ich nicht. Das war nun Sache der
zuständigen Spezialisten.
Das
waren Sachverhalte, die zum eigentlichen Gegenstand unserer Arbeit gehörten.
Statt aber mit Akribie solchen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen,
beschäftigten wir uns aber immer häufiger mit Dingen, die andere hätten
erledigen können und auch müssen. Das MfS war Feuerwehr in vielen Situationen –
ohne das zu wollen.
In
den 80er Jahren nahmen die Ersuchen zur ständigen Ausreise aus der DDR
sprunghaft zu. Staatliche Organe und vor allem die politischen Führungsebenen
der SED und anderer gesellschaftlicher Organisationen wurden dieser Entwicklung
nicht mehr Herr und so nahm die Praxis zu: Wenn es etwas politisch Heikles zu
lösen gab, wurde immer stärker das MfS herangezogen. So rief mein Vorgesetzter
zu unserem Erstaunen eine Initiative ins Leben, wonach jeder Mitarbeiter
mindestens zehn sogenannte Antragsteller auf Ausreise zu bearbeiten hatte.
Selbst hatte ich keine auf meinem Tisch, jedoch alle mir unterstellten
Mitarbeiter. Es waren so an die 80 Fälle. Diese Aktion führte zu völlig
verkehrten Verantwortlichkeiten. Wir stellten uns die Frage, was eigentlich das
MfS in dieser Breite mit diesem Problem zu tun haben sollte. Wir waren ein gut
organisierter Geheimdienst, lösten aber Aufgaben der Kommunen, der
Gewerkschaft, anderer gesellschaftlicher Organisationen und vor allem der SED-
und Staatsführung auf den unterschiedlichsten Ebenen. Unsere Aufgabe wäre es
gewesen zu klären, ob von diesen Personen strafrechtlich relevante Handlungen
begangen wurden, die in unsere Verantwortung fielen, diese dann vorbeugend zu
verhindern oder deren strafrechtliche Ahndung zu untersuchen. So aber führten
wir mit den »Delinquenten« Gespräche, versuchten sie von ihren Vorhaben
abzubringen und lösten ihre Probleme, in dem wir Wohnungen oder Arbeitsstellen
beschafften. Wir sorgten auch dafür, dass ihnen kurzfristig und unkompliziert
die Ausreise gestattet wurde, wenn sich keine andere Möglichkeiten anboten.
Andererseits lernten wir dabei auch die Sorgen und Nöte dieser Menschen kennen,
die oftmals glaubten, auch aufgrund von Hartherzigkeit, keine andere
Möglichkeit zu haben, als eine Übersiedlung in die BRD anzustreben. Das waren
nicht alles überzeugte Gegner des Sozialismus. Es waren viele darunter, die für
die eigene Entwicklung keine Chancen mehr sahen. Das nahmen wir wohl sehr
bewusst war.
Ich
erinnere mich an eine Frau, die demonstrativ und recht aggressiv ihre Ausreise
verfolgte. Der vorgegebene Grund war Familienzusammenführung, obwohl ihre
Verwandtschaft 1. Grades in der DDR wohnte. In einem Gespräch mit ihrem
geschiedenen Ehemann stießen wird darauf, dass die in Westberlin wohnende Tante
(oder eine Großmutter) mit Sicherheit nicht der Grund ihrer
Ausreisebestrebungen sein konnten. Einige Recherchen erbrachten dann auch den
Hinweis auf eine Liebesbeziehung zu einem Herrn, der in der Stadt X wohnte.
Alle Einflussnahme unsererseits und auch anderer Organe, wie der Rat des
Stadtbezirks, Abteilung Inneres, hatten ohnehin nicht gefruchtet. Wir schätzten
ein, dass weitere Bemühungen, sie zum Verbleiben in der DDR zu bewegen,
unfruchtbar bleiben würden. Folglich verfuhren wir nun wie folgt: Nachdem wir
alle Formalitäten vorher geklärt hatten, luden wir sie zur Abteilung Inneres im
Rat des Stadtbezirkes vor und offenbarten ihr die Genehmigung zur sofortigen
Ausreise. Nicht in den nächsten Tagen, sondern in den nächsten Stunden. Sie war
sprachlos und völlig verwirrt. Sie fragte nach dem Warum und Wieso so schnell.
Was
ihr gesagt wurde, verwirrte sie noch mehr. Sie könne sofort im Interesse des
MfS ausreisen, alles Weitere werde sie anschließend erfahren. Ein Verwandter
würde den Kontakt zur ihr aufrechterhalten. Sollte sie wider Erwarten Probleme
haben, möge sie sich in der besagten westdeutschen Stadt in der Straße Y bei
einem Herrn Z melden, der ihr helfen und in weitere Details einweihen würde.
Hintergrund war, dass ich einige Jahre vorher eine Schleusung bearbeitet hatte,
in der Herr Z. als Schleuser gehandelt hatte.
Sie
verließ Hals über Kopf die Abteilung Inneres, muss wohl ihre sieben Sachen
zusammengesucht haben und verschwand aus der DDR. Nach Wochen kam eine Anfrage
des Generals. Es hätte eine nicht einzuordnende Information von einem
westlichen Geheimdienst gegeben, nach der eine DDR-Bürgerin kurz vor der
Ausreise angeworben und an eine Verbindung in X verwiesen worden wäre. Ich
beschrieb den genauen Sachverhalt und der General hatte ein Schmunzeln dafür
übrig. Sie hatte uns belogen und wir hatten einfach gekontert. Mit
anzunehmender Sicherheit wurde anschließend auch Herr Z. einer tiefgehenden
Überprüfung unterzogen. Beschäftigungstherapie für die andere Seite. Auch ein
Teil der damaligen Auseinandersetzungen an der unsichtbaren Front.
Es
kam der 13. Dezember 1989, ein Montag. Wir hatten über das Wochenende unsere
Dienststelle bis auf das Inventar leer geräumt. Nicht ein Blättchen Papier lag
unkontrolliert herum. Dafür hatte ich Tage vorher alle Zimmer mit allem
Inventar peinlichst genau kontrolliert. Die Waffen waren vormittags durch die
VP unter Aufsicht eines Militärstaatsanwaltes und des
Stadtbezirksstaatsanwaltes abgeholt worden. Ich unterschrieb ein Protokoll und
alle Waffen, ungefähr 75 Kalaschnikow, ebenso viele Pistolen Marke »Makarow«, diverse Munition, zwei Scharfschützengewehre aus
der Suhler Produktion, Handgranaten, Tränengas, Panzerbüchsen RPG, Ferngläser,
Nachtsichtgeräte und anderes Gerät wurden aufgeladen und abtransportiert.
Gegen
18 Uhr des gleichen Tages erschien an unserem Objekt eine »Abordnung« von zehn
bis zwölf Personen, die sich als Bürgerrechtler bezeichneten und Einlass
forderten. Unter ihnen als Wortführerin auch eine Frau B. mit ihrem Ehemann.
Zur »Abordnung« gehörten auch Personen, die nicht die DDR abschaffen, aber die
Gesellschaft verändern wollten. Die Mittel, dies zu erreichen, waren jedoch
völlig ungeeignet. Sie waren in Politik und Wirtschaft unerfahren und hatten
nur blasse Vorstellungen von der Verwirklichung ihrer Ideen in der Praxis. Sie
handelten eigentlich wie Gorbatschow, Kritik üben, ohne Konzeptionen für die
Lösung der Probleme zu haben. Ihre Vorstellungen und Motive zur Schaffung einer
besseren DDR verkehrten sich unter den Bedingungen 1989 sofort ins Gegenteil.
Sie wurden von unseren Gegnern jenseits der Elbe, die sich überrascht gaben,
weidlich ausgenutzt. Hinzu kam das Wirken der Leute, die als Bürgerrechtler
auftraten, in Wirklichkeit andere Ziele verfolgten.
Ich
erklärte der Wortführerin, Frau B., dass sie unter sich ausmachen müssten, wer
in das Objekt gehe, auf alle Fälle nicht mehr als vier Personen. Ich ließ sie
stehen und knallte die schwere Eisentür zu. Nach einigen Minuten hatten sie
sich geeinigt, und ich gestattete vier Personen Einlass. Das Ehepaar B. teilte
sich. Herr B. betrat mit drei weiteren Personen unser Objekt, während Frau B.
mit der restlichen Meute in andere Objekte stürmte.
Die
Objekte, die man aufsuchte, entnahmen diese Leute einer Aufstellung, die
offiziell den Staatsanwälten, den Räten der Stadtbezirke und den Dienststellen
der Volkspolizei zur Verfügung gestellt worden waren. Sie wurden am »Runden
Tisch« verbreitet und dann gestreut. Schon allein diese Tatsache erzeugte bei
uns absolutes Unverständnis, weil auf dieser Liste auch konspirative Objekte
vermerkt waren. Ich fragte sie nach ihren Absichten und Wünschen. Sie wollte
sich das Objekt ansehen und mit uns Gespräche führen.
Gut,
sagte ich, und führte sie zuerst dorthin, wohin sie unbedingt wollten, in den
Keller. Als erstes rannten sie in die Waffenkammer und waren schockiert, einen
leeren Raum vorzufinden. Ich wies sie daraufhin, dass wir auf den Abtransport
der Waffen keinen Einfluss hatten. Sie hätten sich in dieser Sache an die
zuständigen Stellen wenden müssen, damit der Abtransport durch die VP verzögert
wird. Sie durchstöberten das gesamte Objekt, den Bunker, die Kellerräume,
suchten nach Waffen, nach möglichen Anzapfstellen der Telefonleitungen und
sonstigen vermuteten Geheimnissen. Im Kellerraum, in dem die Telefonkabel der
Post ankamen und auf Verteiler aufgelötet waren, stellte man mir aggressiv die
Frage, warum nur zwei der vorhandenen fünf Verteilersäulen in Betrieb wären und
man die anderen abgelötet hätte.
Es
war nichts abgelötet, es wurden schlicht und einfach nur zwei Verteilersäulen
benötigt. Die restlichen Verteilersäulen waren so, wie sie der ausstattenden
DDR-Betrieb, der VEB Funk und Fernmeldeanlagenbau Berlin, produziert hatte. Der
Betrieb kannte die spätere Verwendung nicht. An meinen Reaktionen merkten sie
wohl eine sinnlose Frage gestellt zu haben. Mit besonderer Vehemenz
durchstöberten sie den Papierkeller des Hausmeisters. Dort standen Regale, in
denen leere Aktenordner gestapelt waren. Sie sollten irgendwann einer anderen
Verwendung zugeführt werden. Die Mitarbeiter, die diese Ordner dem Hausmeister
überantwortet hatten, vergaßen hier und da die Beschriftung der Aktenrücken
unkenntlich zu machen. Deshalb standen manchmal noch operative Bezeichnungen
darauf.
Auf
die stürzte sich die »Delegation« mit Besessenheit. Sie rissen die Ordner
heraus und stellten zu ihrem Entsetzen fest, dass sie leer waren und
schlussfolgerten, dass wir alles, was sie eigentlich suchten, vernichtet
hätten. Dabei waren die Aktenbestände längst »in Sicherheit« gebracht worden.
Sie können heute von Kundigen und Unkundigen eingesehen werden. Ich hatte
lediglich ein Schmunzeln übrig, für das ich tiefste Verachtung erntete. Sie
waren hasserfüllt und fühlten sich bereits an der Macht. Andererseits war an
ihrem Auftreten eine unverkennbare innerliche Spannung, Angst und Ungewissheit
bezüglich unseres Handels zu erkennen. Dabei waren wir kooperations- und
auskunftsbereiter, als diese Leute es vermuteten.
Im
Referat Auswertung, in der noch Papiersäcke mit zerrissenen Unterlagen
herumstanden, stürzten sie sich sofort auf diese. Erst als der mit anwesende Staatsanwalt energisch dazwischen ging, ließen sie
davon ab. Mir wurde aggressiv die Frage gestellt, warum diese Unterlagen
zerrissen seien. Ich antwortete, dass dies das erste wäre, was ein Mitarbeiter
beim MfS beigebracht bekäme, nämlich Papier zerreißen. In der 3. Etage stürmten
sie in das Chefzimmer und bemächtigten sich sofort der Telefonanlage, um zu
prüfen, wen und was man damit alles abhören konnte. Es handelte sich dabei um
eine ganz normale, handelsübliche Sekretariatsanlage. Ein normales Wort war mit
diesen Leuten nicht zu wechseln. Wir handelten entsprechend der Anweisung,
solchen »Bürgerrechtsdelegationen« den Zutritt nicht zu verweigern. Es waren
vom Jagdfieber beseelte und verführte Menschen, die glaubten, in unseren
Kellern Gefangene und Gefolterte in Ketten finden zu können. So auch ihre
Kommentare.
Besonders
erinnere ich mich an einen 22-jährigen Jüngling mit Schnürstiefel, Rucksack und
Mittelscheitel, der auffällig aggressiv auftrat. Er gab vor, Chemiestudent an
der Humboldt Universität zu sein, und maßte sich an,
die Entaktivierungseinrichtung im Bunker beurteilen
zu können. Man stellte mir provokatorisch die Frage, wieso im Bunker alle Wände
neu getüncht seien und spielte damit darauf an, dass wir schnell noch die
Blutspuren der Folterungen von Inhaftierten hätten beseitigen wollen.
Unter
den »Bürgerrechtlern« befand sich aber auch einer, der wusste, wovon er redete.
Er hatte, wie er mir selbst berichtete, vor Jahren wegen § 213 StGB
(ungesetzliches Verlassen der DDR) eingesessen. Er verhielt sich deswegen auch
zurückhaltend und objektiv, weil er offensichtlich nicht an all die
verbreiteten Lügen unsere Arbeit betreffend glaubte.
Nach
dieser »Objektbegehung« fand im Besucherzimmer der Dienststelle noch ein
»Gespräch« mit unseren »Besuchern« statt. Für sie war nur interessant, ob wir
verfassungs- und gesetzeskonform handeln würden. Dass dies so war, konnten sie
sich einfach nicht vorstellen und es wurde auch nicht geglaubt.
Angesichts
der gegenwärtigen Entwicklung hinsichtlich des Vorgehens von NSA und CIA frage
ich mich, wo denn all die »Bürgerrechtler« von 1989 geblieben sind und gegen
die Ausspähung in ungeahntem Ausmaß, bei der man schwerlich von demokratischer
Legimitation sprechen kann, protestieren. Fehlanzeige. Entweder gut versorgt
und ruhig gestellt oder völlig ahnungslos. Dazu passt die etwas dümmliche
Aussage des Bundespräsidenten, dass die NSA keine Akten anlegen würde wie das
die »Stasi« getan hätte.
Operativer
Mitarbeiter in der Hauptstadt der DDR
Von
Kurt Zeiseweis
Jahrgang
1937; Diplomkriminalist; MfS/AfNS 1955-1990; Oberst
a. D.; zuletzt Stellvertretender Leiter der Zentralen Arbeitsgruppe
Geheimnisschutz
Offizielle
Kontakte
Ich
war in den Jahren 1959 bis etwa 1965 der für die Sicherung der Charitè Berlin (Klinischer Bereich der Medizinischen
Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin) verantwortlicher Mitarbeiter der
damaligen Abteilung V der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin.
In
dieser Eigenschaft knüpfte ich nach und nach offizielle Kontakte zu den
Direktoren der vierzehn Kliniken und einiger weniger Institute der Charité an,
stellte mich als der zuständige Abwehroffizier des MfS mit meinem Klarnamen vor
und hinterließ meine Telefonnummer der Dienststelle. Zum Ärztlichen Direktor,
zu den Leitern der Kaderabteilung und der Allgemeinen Verwaltung und
gelegentlich zum Dekan der Fakultät bestanden ohnehin laufende offizielle
Arbeitsbeziehungen, in der Hauptsache um meinen eigenen Informationsbedarf zu
decken und um Nachfragen anderer Diensteinheiten des Ministeriums oder von
Bezirksverwaltungen zu bedienen.
Gemäß
unserer inneren Ordnung hatte kein anderer MfS-Angehöriger innerhalb meines
Verantwortungsbereichs dienstliche Handlungen vorzunehmen. In einigen wenigen
Fällen erfuhren diese Kontakte eine über das übliche Maß herausragende
Intensität. Im Sommer des Jahres 1960 teilte mir eine Diensteinheit des
Ministeriums mit, dass zu einem Oberarzt der Chirurgischen Klinik der Charitè ein Hinweis vorliege, wonach er die demnächst
anstehende Teilnahme an einem Kongress der zu dieser Zeit noch
(Gesamt-)Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in München nutzen wolle, um nicht
in die DDR zurückzukehren. Zu diesem Oberarzt lagen meines Wissens keine
Hinweise vor; er war in der Registratur des MfS (Abteilung XII) nicht erfasst.
Da
ich für die Sicherung der Charitè zuständig war,
wurde das jetzt zu meinem Problem. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich
vertrauensvoll an den Direktor der Klinik, Prof. Felix, der zu dieser Zeit
Präsident der Deutschen Chirurgischen Gesellschaft war, zu wenden und ihn auf
einen diesbezüglichen Verdacht unsererseits hinzuweisen, denn wenn überhaupt,
hätte nur er diesem Oberarzt ggf. eine Teilnahme versagen können. Prof. Felix
verbürgte sich mir gegenüber bezüglich dieses Arztes, mehr konnte ich nicht
erreichen.
Wenige
Tage nach Rückkehr der DDR-Teilnehmer aus München erhielt ich auf dem Dienstweg
einen per Post an das »Ministerium für Staatssicherheit Berlin-Lichtenberg z.
Hd. Herrn Zeiseweis« gerichteten Brief mit der
Einladung von Prof. Felix, bei ihm vorstellig zu werden, »weil er mir über den
Kongress in München berichten« wolle. Ich spürte keinen Triumph mir gegenüber,
als er betonte, dass unsere Bedenken völlig zu Unrecht bestanden, der Mann ist
in die DDR zurückgekehrt.
Mich
selbst hatte die schriftliche Form der Mitteilung
überrascht und noch mehr die Redewendung, dass ein Ordinarius dem 23-jährigen
Abwehroffizier »berichten« wollte. Mir war jedoch ab und zu aufgefallen, dass
die ältere Generation an Wissenschaftlern vor der staatlichen Autorität, die
unsereins ja auch verkörperte, einen gewissen Respekt zeigte, unabhängig davon,
ob man der Tätigkeit des MfS wohlwollend, akzeptierend oder gar ablehnend
begegnet war.
Ob
und was sich klinikintern damals ereignet hatte, war mir nicht zur Kenntnis
gelangt. Ich hätte es nicht für ausgeschlossen gehalten, wenn Professor Felix
ggf. deutlich gemacht hätte, jemanden, der sein persönliches Vertrauen
missbraucht, ein späteres Fortkommen in der BRD erschweren zu können.
Wenige
Tage vor dem 13. August 1961 erhielt ich vom Direktor der Hautklinik der Charitè, Prof. Linser, einen
erzürnten und übermäßig laut vorgetragenen Anruf, den ich beinahe als
persönliche Beschimpfung aufgenommen hatte, indem er mir mitteilte, dass er
bald eine weitere Station wegen des illegalen Weggehens von Ärzten schließen
müsse, wenn sich nicht kurzfristig etwas Entscheidendes ändere. Nun, Prof. Linser hatte meines Wissens nachrichtendienstliche
Erfahrungen bereits während des Ersten Weltkrieges bei Ludendorff gesammelt,
insofern wusste ich seine Botschaft einzuordnen. Sie galt offenbar weniger mir
persönlich, er vermutete nicht zu Unrecht in diesem Fall in mir einen
Botschafter nach oben.
Mir
gegenüber wurde er nun laut – ein Ausnahmefall in meinen Kontakten zu den Ordinarien.
Er verbat sich sehr energisch, dass ein enger Mitarbeiter von ihm als Quelle
verpflichtet werden wollte. Ein mit uns befreundeter ausländischer Dienst hatte
offensichtlich einen Werbungsversuch unternommen. Es war nicht üblich, dass ich
ein derartiges Vorhaben erfuhr, aber ich durfte anschließend die Kastanien aus
dem Feuer holen.
Als
nachrichtendienstlich erfahrener Mann war sich Prof. Linser
bewusst, von mir nichts weiter zu erfahren, aber das Signal des Misslingens war
mitgeteilt, und damit war die Sache für uns beide und die anderen mir
persönlich unbekannten Beteiligten erledigt.
Einen
aus dem sonstigen Rahmen fallenden offiziellen Kontakt hatte ich 1960 zu einem
Klinikdirektor aufgebaut, weil ich mit einem belastenden Hinweis auf ihn durch
die Hauptabteilung II (Spionageabwehr) konfrontiert worden war. Eine Quelle
(IM) hatte von einem Geheimdienst den Auftrag erhalten, diesem Klinikdirektor
einen Brief zuzustellen.
Ein
Öffnen des Briefes verbot sich, weil ein Überprüfen des IM durch den gegnerischen
Dienst nicht ausgeschlossen werden konnte. Besonders Erfolg versprechend sah
das Ganze nicht aus, sonst hätte die HA II den Hinweis nicht abgegeben. Ich
stand vor der für mich verheißungsvollen Aufgabe (heute gebraucht man den
Begriff »Herausforderung«), etwas in Angriff zu nehmen, worin ich keinerlei
Erfahrung hatte.
Das
Abklären der Lebensumstände dieses Menschen ergab neben seinem
wissenschaftlichen Profil als parteiloser Hochschullehrer und Kliniker ein
herausragendes gesellschaftliches Engagement für die DDR. Zugänge zu
Staatsgeheimnissen waren wahrscheinlich, wenn überhaupt, nur minimal gegeben
und mir zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst. Um von ihm einen näheren
Eindruck zu gewinnen, holte ich mir vom Vorgesetzten die Genehmigung ein, mich
gesundheitlich zu einem tatsächlichen Problem meinerseits von ihm ggf.
behandeln zu lassen. Durch mehrere persönliche Kontakte gelang es mir, ein
bestimmtes Maß an Vertrauen zu erringen, aber mehr war es nicht. Er hat mir
nicht gesagt, dass er Spion ist, und ich habe natürlich auch nicht gefragt.
Nach
dem Schließen der DDR-Staatsgrenze nach Westberlin am 13. August 1961 blieben
ein Klinik- und ein Institutsdirektor der Charitè,
die sich in den Semesterferien in der Bundesrepublik aufgehalten hatten, dort
und kehrten nicht mehr zurück. Da einer der beiden Weggebliebenen auch
Konsiliarius für das Behandeln von Mitgliedern der Regierung war, hatte ich den
Gedanken, mich der Hilfe des spionageverdächtigen Klinikdirektors zu bedienen,
um den anderen Klinikdirektor, den ich auch persönlich kannte, zur Rückkehr zu
bewegen. Zu diesem Zweck sollte er mit einem von mir erwirkten Dokument die
DDR-Staatsgrenze nach dem 13. August 1961 nach Westberlin passieren können und
von dort telefonisch zur Zielperson Kontakt aufnehmen. Das dazu bereitgestellte
Dokument war auf vier Wochen befristet und gestattete die Fahrt mit seinem Pkw.
Er war breit, diesen Versuch zu unternehmen. Mein Kalkül bestand darin
anzunehmen, dass der im Verdacht stehende Klinikdirektor, gleich ob mit oder ohne
Erfolg, zurückkehren würde. Sollte er tatsächlich im gegnerischen Dienst
stehen, würden ihn seine Auftraggeber sicherlich lieber weiterhin in der DDR
wissen. Sollte der Spionagekontakt nicht bestehen, hätte ich seinen von ihm mir
gegenüber in mehreren Gesprächen geäußerten Positionen zum DDR-Staat vertraut
und auch eine Rückkehr erwartet. Aber Irren ist
menschlich. Einen Tag vor Ablauf der Frist des Dokuments rief mich seine
Sekretärin an und teilte mir mit, dass ein Brief von ihrem Chef an mich vorliege.
Er enthielt das Grenzübertrittsdokument mit dem
handschriftlichen Vermerk »Danke«. Seine Familie war mit ihm ausgereist.
Nun
waren aus zwei weggebliebenen Klinikdirektoren mit meiner Hilfe ungewollt drei
geworden. Meine Vorgesetzten nahmen es zur Kenntnis. Lediglich ein in das
Vorgehen eingeweihter Mitarbeiter im Ministerium erwähnte mir im Nachhinein
einmal, dass so etwas ja schief gehen müsste.
Inoffizieller
Kontakt
Mit
der Übernahme der Verantwortung für die Sicherung der Charité war 1959
gleichfalls das Übernehmen dort vorhandener Inoffizieller Mitarbeiter von
meinem Vorgänger verbunden. Unter ihnen befand sich ein erfahrener Oberarzt
alter Prägung, vom Lebensalter her hätte er mein Vater sei können – ein Schmiss
kündete von früherer Zugehörigkeit zu einer Burschenschaft. Die inoffizielle
Zusammenarbeit mit ihm konzentrierte sich auf ein aus dem sonst Üblichen
herausragendes Problem: Für seine wissenschaftliche und klinische Arbeit war es
erforderlich, ein bestimmtes Produkt einzusetzen, das bisher aus der BRD für
Devisen importiert werden musste, weil es in der DDR und in den anderen
sozialistischen Ländern ein solches Produkt nicht gab.
Durch
persönliches Engagement in einem DDR-Betrieb war es ihm gelungen, ein zumindest
gleichwertiges Produkt dort entwickeln zu lassen. Ein solches Anliegen
entsprach dem dringenden wirtschaftspolitischen Anliegen der DDR, sich
gegenüber Westimporten unabhängig (störfrei) zu
machen. Das Produzieren desselben scheiterte jedoch an der wegen seiner
Spezifikation zu geringen Nachfrage, so dass die Abhängigkeit von Westimporten
nicht abgewendet werden konnte. Auch der Versuch meinerseits, über den
Dienstweg zu prüfen, ob es subjektive Befindlichkeiten im Betrieb gegen ein
solches Vorhaben geben könnte, führte zu keinem Ergebnis.
Schließlich
musste der IM erkennen, dass auch sein
vertrauensvoller Kontakt zum MfS in diesem Fall kein Vorankommen im Sinne des
Herbeiführens eines volkswirtschaftlichen Nutzens erbracht hatte. Er beendet
deshalb die Zusammenarbeit mit mir mit der Feststellung, wenn sogar das MfS
nicht bewerkstelligen könne, was weder Ministerium für Gesundheitswesen noch
Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen (beide Institutionen waren
arbeitsteilig fachspezifisch zuständig für die Charitè)
erreichen konnten, dann erübrige sich für ihn jeder weitere Kontakt mit mir.
Mir blieb nichts weiter übrig, als den IM-Vorgang mit einigem Bedauern zu
archivieren.
Das
gab’s auch!
Ein
Beispiel aus meinem Erleben außerhalb des unmittelbaren Arbeitsbereichs:
Es
war noch vor dem 13. August 1961, ich hatte Nachtdienst als Gehilfe des
Offiziers vom Dienst (OvD) in der Berliner Verwaltung
für Staatssicherheit. In der Volkspolizei-Inspektion Berlin-Prenzlauer Berg war
ein Westberliner Mann im Gewahrsam, weil er bei der routinemäßigen Kontrolle
während seiner Rückreise vom Besuch seiner Schwester in Berlin-Pankow eine mir
nicht mehr in Erinnerung gebliebene Auffälligkeit gezeigt hatte, der dann seine
Zuführung (vorläufige Festnahme) folgte. Es war zu dieser Zeit Usus, dass wir
als BVfS (damals wohl noch Verwaltung für
Staatssicherheit Groß-Berlin) prüften, ob der Sachverhalt eine Relevanz zu
unseren Aufgaben hatte (Spionage, IM-Eignung o. ä.). Der mir nicht mehr in
Erinnerung gebliebene Sachverhalt gab nichts her, ich wollte aber auch ein
erfolgreicher Mitarbeiter sein und fuhr den Mann deshalb mit groben Worten an,
er solle doch endlich gestehen, etwas Unrechtsmäßiges gemacht zu haben.
Für
mich völlig überraschend, riss der Mann plötzlich sein Hemd auf und rief, ich
solle ihn doch gleich erschießen, die Nazis hatten ihn früher schon
schikaniert, und hier ergehe es ihm augenscheinlich auch nicht besser. Ich war
furchtbar entsetzt über diesen unerwarteten Ausbruch des Mannes. Schlagartig
war der Mann für mich gefühlsmäßig als Gegner der Nazis ein Verbündeter. Ich
weiß nicht, ob ich mich bei ihm entschuldigt hatte, aber zumindest beendete ich
die Befragung abrupt, führte die Entscheidung zu seiner sofortigen Entlassung
herbei (der OvD musste das absegnen) und erreichte
bei dem Betreffenden zumindest Akzeptanz für seine Entlassung.
Die
Sache hatte aber ein Nachspiel für mich: Zurückgekehrt zur Dienststelle,
fertigte ich einen kurzen schriftlichen Bericht und wollte den Ausgangsbericht,
das volkspolizeiliche Dokument über die Zuführung, zurückgeben. Aber wo war
dieser Bericht? Er war weg! Einzige Erklärung, denn auf der VPI war er auch
nicht: ich hatte ihn möglicherweise versehentlich und in meiner Aufgeregtheit
(auch ich war ein Mensch und konnte mitunter Nerven verlieren) dem Zugeführten
mit dessen Papieren mitgegeben. Dem OvD schlug ich
vor, mich darum zu kümmern, dass das Dokument wieder herankommt.
Der
Verlust eines solchen Dokuments galt als schwerer Verstoß gegen die
revolutionäre Wachsamkeit und hätte mit Sicherheit eine Bestrafung ausgelöst.
Das ganze hatte sich während der Nachtstunden abgespielt. Ich erinnerte mich,
dass der Mann vom Besuch seiner Schwester in Berlin-Pankow zur Rückreise
gekommen war, und ich fuhr deshalb umgehend zu ihr hin, um sie nach kurzem
Erklären des Geschehenen zu bitten, ihren Bruder aufzusuchen und zu fragen, ob
er das gesuchte Dokument hat und ob ich es zurückerhalten könnte. Es verbot
sich für mich natürlich zwingend, selbst nach Westberlin zu fahren und ihn
aufzusuchen oder ihn anzurufen. Das hätte mir niemand gestattet, und heimlich
habe und hätte ich meinen Staat nie hintergangen. Die Schwester hatte ich aus
dem Bett geklingelt, ihr vom nächtlichen Aufenthalt ihres Bruders erzählt und
sie um Hilfe gebeten. Sie willigte ohne Zögern und weitergehende Fragen ein, am
Tage zu ihrem Bruder zu fahren und mir nachmittags Auskunft zu geben. Der Tag
war unendlich lang – wird es klappen?
Nachmittags
Klingeln an der Wohnungstür der Schwester – und es öffnet der mir vom Vortag
bekannte Bruder. Ganz freudig teilt er mir mit, dass er das gesuchte Dokument
bei seinen Unterlagen gefunden hatte, aber er wusste nicht, wie er es mir
zukommen lassen könne, denn ich würde bestimmt Ärger bekommen, und den wollte
er mir ersparen. Er hatte die Überlegung, es von DDR-Seite per Post an das MfS
zu senden, das wäre dann ein Volltreffer für mich geworden. Wir gingen trotz
des Geschehens (oder wegen?) wie Freunde auseinander, ohne jemals wieder etwas
voneinander gehört zu haben. Auf der Dienststelle gab es keinen Ärger und keine
Bestrafung, denn das Papier war wieder da, und öffentliches Aufsehen war auch
nicht abzusehen.
Ein
etwas ungewöhnliches Vorgehen
Ich
erinnere mich an ein etwas außergewöhnliches Gespräch im Frühsommer 1986, weil
es nicht üblich war, derart vorzugehen, wie ich es schildere. Aber ich hielt es
für opportun, es trotzdem so zu vollziehen.
Der
Leiter des Referats »Auswertung und Information« meiner Kreisdienststelle in
Berlin-Treptow trug mir einen Sachverhalt zur Entscheidung vor: Ein Bürger aus Johannisthal, einem Ortsteil von Berlin-Treptow, hatte bei
der Volkspolizei den Antrag gestellt, eine Reise in dringenden
Familienangelegenheiten in die Bundesrepublik Deutschland genehmigt zu
bekommen. Er war selbständiger Gewerbetreibender und seit Jahren ortsansässig.
Die
im MfS gültige Ordnung besagte, dass ich dem Anliegen des Bürgers im Prinzip
zuzustimmen hätte, sofern keine zwingenden Gründe dem entgegenstünden. Und das
war das Problem: Laut Verdichtungs-, Such- und Hinweiskartei (VSH) der KD gab
es zwei Notierungen über ihn: Nicht-Wähler in betreffenden Jahr (solches
festzustellen und zu notieren, entsprach seinerzeit unserer Auffassung vom
Wahlgeheimnis; nicht ahnend, dass dieser Kreis von Personen in meiner neuen
«Zwangsheimat« einmal die stärkste Fraktion stellen könnte). Und es lag eine
Notiz vor, dass folgender, sinngemäß zitierter Nachruf in der Berliner Zeitung gestanden habe und aus
seinem Betrieb stammte: »Kurz vor Erreichen seines ersehnten Zieles verstarb
unser Kollege …«. Dieser verstorbene Kollege hatte einen Antrag auf eine Reise
oder Übersiedlung in die BRD gestellt und war kurz vor der genehmigten Ausreise
verstorben. Nun waren sowohl die fehlende Teilnahme an den Wahlen in der DDR im
Jahre 1986 als auch dieser Nachruf kein Hinweis auf eine Gefährdungslage für
die DDR, aber Fragen zur Loyalität des Mannes warfen sich mir schon auf. Diesen
etwas vom Üblichen abweichenden Nachruf in der Zeitung hatte ich Wochen zuvor
auch wahrgenommen, mir aber keinen Kopf weiter gemacht und schon gar nicht geahnt,
dass er mich einmal beschäftigen könnte. Also entschied ich mich, mit dem
Manne, über dessen Begehr ich nun mit zu entscheiden hatte (im Übrigen trafen
das Rathaus und die Volkspolizei jeweils eigene Entscheidungen), persönlich zu
sprechen, und ich suchte ihn an einem sonnigen Sonnabend-Vormittag in seinem
Haus, etwa zwanzig Gehminuten von meiner Dienststelle entfernt, auf.
Ein
Einfamilienhaus mit Garten (von mir umgehend als Bindungsfaktor an die DDR
interpretiert, den man nicht ohne Weiteres durch Wegbleiben aufgibt) und ein
Hinweisschild auf die Bewachung durch einen (sicherlich sehr bissigen) Hund
ließen mich am Gartentor nach dem Klingeln warten, bis der Hausherr mich nach
nochmaligem Hinweis auf mein etwaiges Risiko einer Begegnung mit seinem Hund in
das Haus hinein gebeten hatte. Dem ging voraus, dass ich mich als Mitarbeiter
der BV Berlin namentlich, eventuell auch als Leiter der KD vorgestellt hatte.
Beide Eheleute waren gerade mit dem Frühstücken fertig und bereit, mein
Anliegen anzuhören.
Sinngemäß
erklärte ich, in den staatlichen Entscheidungsprozess bezüglich seines
Westreiseersuchens mit eingebunden zu sein, und ich wollte mir vor dieser
Entscheidung ein Bild von ihm selbst machen. Mit dieser Einleitung fand ich
Anklang und Gehör. Die Ehefrau warf dann noch die Bemerkung ins Gespräch,
wonach seine Nichtteilnahme an den Wahlen ihm wohl im konkreten Fall nicht sehr
nützlich wäre – nach der Devise: »Ich hab’s dir doch gleich gesagt …« Ich hätte
von meinem vorherigen Wissen dazu natürlich auf keinen Fall Gebrauch machen
können, aber die Gesprächsbasis war für mich schlagartig ein klein wenig
übersichtlicher. Es war ein für mich (und sicherlich auch für ihn) sehr
interessantes Gespräch, indem er mir seinen beruflichen Werdegang bis zur
Selbständigkeit als Kleinunternehmer mit einem wissenschaftlich-technisch sehr
anspruchsvollen Profil erklärte und gleichzeitig auch darlegte, worin seine
Vorbehalte gegen Elemente der Wirtschaftspolitik der DDR bestanden. Er
schilderte sein früheres Engagement in der FDJ und seine zunehmenden Zweifel an
der Richtigkeit unserer Wirtschaftspolitik. Darum schied er vor Jahren aus der
Akademie der Wissenschaften aus, machte sich selbständig und arbeitete für
seinen vormaligen Arbeitsbereich weiter.
Im
Gespräch gewann ich die Sicherheit, dem Reisebegehren aus Sicht der
Verantwortung der Kreisdienststelle zustimmen zu können. Ihn selbst ließ ich
lediglich wissen, dass auch Volkspolizei und Rat des Stadtbezirks zu
entscheiden hätten, und er deshalb von mir keine definitive Entscheidung
erwarten könnte. Diese Auskunft entsprach auch den tatsächlichen Gegebenheiten,
denn sowohl Volkspolizei als auch Rathaus hätten eventuell mit Bedenken
aufwarten können.
Da
mein diesbezügliches Vorgehen etwas ungewöhnlich war, informierte ich im
Nachhinein den Leiter unserer Bezirksverwaltung, der mich in meiner
Entscheidung – nicht abzulehnen – bestärkt hatte. Für mich geriet das Weitere
aus dem Blickfeld. Falls er gereist war, gehe ich davon aus, dass er auch
zurückgekehrt war (das war oftmals unser Problem), denn sonst hätte ich mit
Bestimmtheit eine diesbezügliche Information meiner Mitarbeiter bekommen.
Vor
Monaten sah ich in der betreffenden Straße und im Telefonbuch nach, aber
offensichtlich wohnt der Bürger nicht mehr dort. Selbst deutschlandweit fand
ich den Namen und Vornamen nicht. Schade, aus politischen Gründen hätte ich
gerne mit ihm noch einmal gesprochen. Die beiden damals in dieses Problem
einbezogen gewesenen Referatsleiter konnten sich nach mehr als fünfundzwanzig
Jahren nicht mehr erinnern. Ich erwähne diese eigentlich relativ belanglose
Begebenheit, weil sie sicherlich das heutzutage vorherrschende Bild von unserer
Allmacht, Rigorosität und Willkür etwas korrigieren könnte.
Warum
wurde ich Mitarbeiter des Staatssekretariats für Staatssicherheit (SfS)? Wie kam man dazu, Angehöriger dieser Einrichtung zu
werden?
Ich
war siebzehn Jahre alt und in der Abiturvorbereitung, als im Frühjahr 1955 ein
Kaderermittler der Verwaltung Groß-Berlin des damaligen Staatssekretariats für
Staatssicherheit (SfS) in meiner Schule vorstellig
wurde und Hinweise auf Abiturienten erbat, die evtl. geeignet wären (politisch
positive Grundhaltung zum DDR-Staat vorausgesetzt), Mitarbeiter dort zu werden.
Mein Berufswunsch war zu dieser Zeit noch wenig ausgeprägt, ich war
unentschlossen, eine ingenieurtechnische (Physik- oder Ingenieur-Studium?) oder
gesellschaftswissenschaftliche (Jura?) Ausbildung zu beginnen. Zur Auswahl
stand ich bereits zwei Jahre zuvor für ein Auslandsstudium nach Besuch der
Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) in Halle. Aus gesundheitlichen Gründen kam
ich jedoch zu dieser Zeit nicht in Betracht. Meine schulischen Leistungen waren
gut, ich habe gerne gelernt und auch vieles von dem, was vermittelt wurde,
begriffen, mir aber leider nicht alles gemerkt – Letzteres verbunden mit der
saloppen Erklärung, man sei ja schließlich nicht nachtragend.
Nach
erfolgten Überprüfungen und Bürgschaften durch zwei Mitglieder der SED erfolgte
im August 1955 meine Einstellung in die damalige Verwaltung für Staatssicherheit
Groß-Berlin in der Prenzlauer Allee 63. In diesem Zusammenhang sei erwähnt,
dass man sich prinzipiell beim MfS nicht selbst beworben hat, man wurde
geworben; die Initiative zum Erkennen von Kaderkandidaten ging stets vom
»Arbeitgeber« nie vom »Arbeitnehmer« aus, wie man heutzutage sagen würde. Der
Grund dafür bestand darin, dass sich das MfS davor schützen wollte, durch die
Selbstbewerbung eines Kandidaten, ggf. eine gegnerische Agentur untergeschoben
zu bekommen.
Dass
die Auswahl ausgerechnet auf mich verfiel, war
dem Umstand geschuldet, dass es eine prinzipielle Orientierung gab, den
Anteil qualifizierungsfähiger Mitarbeiter zu erhöhen, weil die bisherige
Praxis, auf bewährte Alt-Funktionäre von SED und FDJ zurückzugreifen, Grenzen
erreicht hatte und weil sich abzuzeichnen begann, dass das Einstellen von
bewährten Arbeitern nicht ausreichte, die zukünftigen Aufgaben bewältigen zu
können. Dadurch kam es in der zweiten Hälfte der 50er Jahre zu einer
erheblichen Dichte des Einstellens von »Pennälern«.
Dass
das Einstellen sehr junger Menschen natürlich auch einige Probleme brachte, ist
selbstverständlich. Mit meinen 18 Jahren und fehlender Berufserfahrung und
überhaupt fehlendem Beruf war ich nicht nur selbst sehr unsicher bei meinen
ersten Schritten. Wenn ich bei meinen ersten Ermittlungen an eine Wohnungstür
kam, um eine Auskunft über eine Zielperson einzuholen, hoffte ich stets, es sei
keiner da, weil ich Angst hatte, meine Aufgabe nicht richtig zu erfüllen. Nicht
selten drückten die befragten Personen ihre Verwunderung aus, dass so ein
»Milchbart« vor ihnen erscheine. Als ich in diesem ersten Jahr in der Abteilung
VIII der VfS Groß-Berlin als Ermittler einmal auf
einem Volkspolizei-Revier in Berlin-Weißensee beim Revierleiter vorsprach, um mir
die Genehmigung zur Einsichtnahme in die Einwohner-Meldekartei zu holen, saßen
dort mehrere Angehörige der VP zur Beratung zusammen, und der Leiter genehmigte
mir die Einsichtnahme. Im Hinausgehen hörte ich Getuschel hinter mir und die
dann deutlich vorgetragene Bitte, noch einmal zurückzukommen und meinen
Dienstausweis zu zeigen. Nach einem Blick in meinen Dienstausweis sagte der
Revierleiter laut und deutlich: »18 Jahre alt ist der!«
– und ich konnte bei Wahrnehmung des spöttischen Gemurmels im Hintergrund den
Raum verlassen. Zu dieser Zeit waren aus dem Klappausweis Name, Vorname und
Geburtsdatum des Inhabers zu ersehen, später ging die Identität des Inhabers
nur aus der normalerweise zugeklappten Innenseite des Ausweises hervor.
In
einem Fall monierte noch reichlich drei Jahre später eine mir vom Vorgänger
übergebene Inoffizielle Mitarbeiterin, die wenigstens fünfzehn Jahre vor mir
geboren war, sinngemäß: »Das MfS schickt wohl jetzt schon Kinder ins Rennen?«
Ich war zu dieser Zeit, als ich die Verantwortung zur Sicherung der Charitè übernommen hatte, zwar erst 22 Jahre alt, hatte mir
aber inzwischen auf eine diesbezügliche Empfehlung meines Dienstvorgesetzten
das Selbstbewusstsein vermittelt, auf meinem spezifischen Gebiet dem jeweiligen
Kontaktpartner – sei es ein IM oder ein Klinikdirektor – überlegen zu sein.
Bis
zu jenem Zeitpunkt im Frühjahr des Jahres 1955, da ich von einem Genossen, der
altersmäßig mein Vater gewesen sein könnte und dessen Thüringer Dialekt mir
sofort Vertrauen vermittelte, hatte ich die Staatssicherheit noch nicht bewusst
wahrgenommen. Ich war weder mit irgendwelchen Vorbehalten behaftet, noch hatte
ich besondere Gründe zu besonderer Sympathie. Bis dahin kannte ich keinen
Mitarbeiter persönlich. Und da ich als Kandidat der SED, der ich inzwischen
seit einem Jahr angehörte, ohnehin mich dem Schutz der jungen DDR verpflichtet
fühlte, war meine Entscheidung für eine solche Tätigkeit, von deren Inhalt ich
überhaupt keine Vorstellung hatte, kein Problem.
Meine
Dienstbezeichnung war »Anwärter«, da ich nach wenigen Wochen zur
Offiziersschule gehen sollte. Aus gesundheitlichen Gründen wurde die
Delegierung jedoch um ein Jahr verschoben, so dass ich von 1956 bis 1958 die
dortige Schulbank drückte. Nach einem Jahr als Ermittler in der Abteilung VIII
und zwei Jahren Besuch der Schule des MfS in Potsdam-Eiche und anschließender
Ernennung zum ersten Offiziersdienstgrad Unterleutnant währte dann meine
25-jährige Tätigkeit in der Abteilung V bzw. später XX der Bezirksverwaltung
für Staatssicherheit Berlin.
Was
waren die Aufgaben dieser Abteilung, die hinlänglich als diejenige gilt, die
für Repressionen schlechthin in der DDR steht? Im Unterschied zu anderen auf
bestimmte abgegrenzte Aufgabenbereiche fixierte Diensteinheiten (Spionageabwehr
in den Diensteinheiten der Linie II, Sicherung der Volkswirtschaft in der Linie
XVIII bzw. Transport- und Nachrichtenwesen in der Linie XIX) war die vormalige
Abteilung V, die später als Abteilung XX fortexistierte, sowohl mit dem Sichern
von Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im Staatsapparat und in den
Parteien (außer SED), gesellschaftlichen Einrichtungen und Organisationen
befasst als auch mit speziellen feindlichen Angriffen z. B. durch den
Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen oder die Kampfgruppe gegen
Unmenschlichkeit. Im Staatsapparat oblag der Linie XX die Verantwortung für die
Sicherung aller Bereiche, ausgenommen die Bereiche Wirtschaft, Finanzen,
Verkehr/Nachrichten und Inneres, für deren Sicherung der Abteilungen XVIII, XIX
bzw. VII verantwortlich waren. Justiz und Staatsanwaltschaft waren gleichfalls
in unsere Abwehrarbeit eingebunden, ebenso Einrichtungen des kulturellen Lebens
wie Theater und Verlage.
Darüber
hinaus galt die Zuständigkeit für Parteien und Massenorganisationen, Sicherung
des Sports und der Leistungssportzentren, Abwehrarbeit in Kirchen und
Religionsgemeinschaften, Schutz der Jugend und Bearbeiten (Erkennen und
Identifizieren von Tätern) zu Straftaten der staatsfeindlichen Hetze und
Erscheinung der MfS-intern definierten Politisch-Ideologischen Diversion (PID)
und später der als solche bezeichneten Politischen Untergrundtätigkeit (PUT).
Meiner
eigenen Verantwortung oblagen in der Abteilung V bzw. XX die Bereiche des
Berliner Hochschulwesens (Humboldt-Universität; Hochschule für Ökonomie;
Deutsche Hochschule für Musik), Bezirksorganisationen des DDR-Jugendverbandes
Freie Deutsche Jugend und Gesellschaft für Sport und Technik, der Berliner
Sport mit seinen drei zivilen Sportklubs (TSC, Erster FC Union und Sportclub
Berlin Grünau-Wasserfahrsport), die Sicherung der Jugend, eingeschlossen unsere
langjährigen und nicht unbedingt immer erfolgreichen Versuche zum
Disziplinieren des rowdyhaften Anhangs der beiden Berliner Fußballklubs BFC
Dynamo und Union durch Werben und Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern unter
diesen Jugendlichen und Jungerwachsenen.
Und
ich trug jahrelang Verantwortung für das Erkennen und Aufklären von Delikten
der Staatsfeindlichen Hetze, insbesondere nachdem ich mir durch das Studium der
Kriminalistik an der gleichnamigen Sektion der Humboldt-Universität 1966 die
Qualifikation eines Diplom-Kriminalisten nach vierjährigem Fernstudium erworben
hatte. Ich hatte mit Leidenschaft den Wissenserwerb betrieben und später das
Wissen mit gleicher Vehemenz angewandt.
Das
führte dazu, dass ich mich zu den wenigen operativen Mitarbeitern zählen kann,
die ohne große Bedenken Operative Vorgänge gegen »unbekannt« angelegt und
geführt haben, um am Schluss einen Täter zu erkennen und per Beweis zu
überführen, oder eben auch nicht.
Das
betraf in meiner weiteren Tätigkeit nicht nur Delikte der Staatsfeindlichen
Hetze, sondern auch andere Delikte, für deren Aufklärung ich Verantwortung trug
oder übernahm z. B. bei Erpressungsversuchen, Brandlegungen, Störungen in
Betrieben u. ä. mit erkennbaren oder zu vermutenden staatsfeindlichen
Hintergrund. Vier solcher Vorgänge sind kurz genannt in meinem Beitrag »Welche
Grundlage hat die Einteilung der Personendossiers des MfS in Täter- und
Opferakten?«, veröffentlicht im »ZwieGespräch«
Nr. 20.
In
der Abteilung V bzw. XX war ich 25 Jahre, ich kam als lediger Bursche hin und
verließ die Abteilung im Jahre 1983, als unser erster Enkel geboren war. Diese
Zeit war ein wesentlicher und prägender Teil meines Lebens. Trotz meiner und
unserer Niederlage möchte ich diese Zeit nicht missen. Sicherlich wäre mein
Leben erheblich anders verlaufen, wenn meine Mutter 1951 nicht aus Westberlin
in den Osten übersiedelt und ich nicht ab 1949 im Internat der Schulfarm Scharfenberg (Ost) aufgewachsen wäre. Ich sehe auch kein
Problem darin, über mein Leben, meine dreieinhalb Jahrzehnte im MfS zu sprechen
oder zu schreiben. Manchmal wird von Gesprächspartnern erstaunt festgestellt,
»dass Sie das so sagen?«, wenn ich ohne äußeren Zwang
über meine Zugehörigkeit zum MfS spreche.
Nun
ist es zweifellos ein Unterschied, ob ein Eisenbahner über sein Berufsleben
spricht oder jemand, dessen Tätigkeit mit sehr viel Geheimhaltung »gewürzt« war
und dem lt. offizieller bundesdeutscher Diktion ausschließlich Verachtung
entgegenzubringen ist. Aber ehrlich gesagt, es müsste mir auch sehr peinlich
sein, wenn mich das offizielle Deutschland loben würde, diese Schmach hätte ich
nun wirklich nicht verdient. Das Publizieren zum MfS und seiner Tätigkeit
sollte nicht nur einer angeblich zuständigen Behörde und solchen Journalisten,
deren Wahrheitsdrang ausschließlich von Vermarktungsambitionen bestimmt wird,
überlassen werden.
Vom
Sinn meiner Gespräche
mit
ehemals operativ bearbeiteten Personen
Vor
mehr als zwei Jahrzehnten begann ich Gespräche mit einigen Personen, die von
Mitarbeitern meines früheren Verantwortungsbereichs im MfS in operativen
Arbeitsprozessen »operativ bearbeitet« – so unser damaliger Sprachgebrauch –
wurden. Derartige Gespräche erfolgten zum Teil regelmäßig im monatlichen
Rhythmus, sowohl zu zweit oder im Kreis weniger Personen, als auch in einem
öffentlichen Diskussionskreis mit etwa 30 Beteiligten. Diese Gespräche kamen
sowohl auf meine Initiative, als auch auf Wunsch einiger Gesprächspartner
zustande.
Warum
wollte ich solche Begegnungen?
Angesichts
des den Medien zu entnehmenden und zum großen Teil von ihnen initiierten
Stimmungsbildes zum MfS, seinen Praktiken, den Handlungen und Motiven seiner
Mitarbeiter, wollte ich mich selbst als einer der damals Agierenden äußern, und
zwar äußern denjenigen gegenüber, die nach meiner Auffassung einen maßgeblichen
Anteil am von den Medien beherrschten Stimmungsbild uns gegenüber hatten bzw.
haben.
Zum
anderen ging es mir darum, mich denjenigen anfassbar
(angreifbar war ich ohnehin) zu machen, ihnen einen persönlichen Eindruck von
mir zu vermitteln und gleiches auch von ihnen zu erlangen. Besonders letzteres
erschien mir für mich bedeutsam, da meine früheren Informationen zu diesen
Personen fast nur aus Widerspiegelungen, in den seltensten Fällen aus
persönlich gewonnenen Eindrücken, stammten.
Für
mich war es jetzt besonders bedeutsam zu erfahren, ob die ehemals angenommenen,
zum Teil unterstellten, aber auch zum anderen Teil zu recht vermuteten
DDR-feindlichen Motive tatsächlich gegeben bzw. aus heutiger Sicht noch
wahrzunehmen waren. Und schließlich ging es mir auch darum, etwaige Vorwürfe
gegen ehemals mir unterstellt gewesene Mitarbeiter abzufangen und es nicht
ihnen alleine zu überlassen, sich ggf. rechtfertigen zu müssen für Entscheidungen,
die eher ich zu verantworten hatte. Ich bemühte mich zu lernen, den anderen zu
verstehen, mir seine Gedanken- und Gefühlswelt zu erschließen.
Worin
sehe ich nun ein Ergebnis dieser Gespräche? Ich bin mir sicher, anfassbar bin ich für die meisten meiner Gesprächspartner
geworden. Bezüglich des früheren »was, wie und warum?«
gab es sehr angeregte Dispute, im Regelfall unerbittliche Vorwürfe und zumeist
Verständnislosigkeit für mein bzw. unser Herangehen an unsere Versuche zum
Lösen gesellschaftlicher Probleme mit den »spezifischen Mitteln des MfS«. Es
blieben zumeist sehr verschiedene Bewertungen bestimmter gesellschaftlicher
Vorgänge und Erscheinungen trotz gelegentlicher (oder exakter: seltener)
Übereinstimmungen.
Prinzipielle
Unterschiede gab es stets beim Bewerten der DDR als sozialistischer Staat.
Diese für mich entscheidende Grundposition durchdrang alle Gespräche mit jenen
Partnern, die einen verbesserten oder »richtigen« Sozialismus wollten. Mitunter
hatte ich den Eindruck, dass der eine oder andere sogar geneigt war, mir zu
glauben, dass ich – und damit auch viele andere Mitarbeiter – einen besseren
Sozialismus wollten.
In
öffentlichen Gesprächen hatte ich jedoch stets den Eindruck, dass mir bezüglich
meiner Motive vorrangig Eigennutz unterstellt wurde. Für bemerkenswert halte
ich, dass fast alle Gesprächspartner erklärten, eine bessere DDR und in keinem
Fall etwa deren Beseitigung gewollt zu haben. Während mir das in einigen Fällen
aus heutiger Sicht glaubhaft erscheint, bin ich mir in anderen Fällen sicher,
dass diese Aussage nur eine Schutzbehauptung ist. Wer heute in der
Regierungspartei ist und staatliche Verantwortung der BRD wahrnimmt, kann es
wohl mit DDR-Verbesserung nicht so ehrlich gemeint haben.
In
jenen Fällen, da die Gespräche nicht im öffentlichen Rahmen, sondern im kleinen
Kreis stattfanden, empfand ich sie trotz manch harter Konfrontation und oft
unüberbrückbarer Gegensätze als sachlich. Ich hatte auch den Eindruck, dass man
von mir erwartete, prinzipiell zu dem zu stehen, was ich gemacht habe. Ein
Versuch des Anbiederns oder »Verbrüderns« wäre unglaubhaft und hätte jede
Aufrichtigkeit in Frage gestellt.
Für
wenig dienlich im Sinne eines gegenseitigen Verständlichmachens
von Positionen halte ich öffentliche Podien, zumal wechselnde Teilnehmer von
Veranstaltung zu Veranstaltung permanent Wiederholungen bringen, letztlich
dreht man sich im Kreise.
Solche
vom Frühjahr 1992 bis Januar 1993 in einem Fall unter meiner Teilnahme
praktiziert, führten u. a. einen ehemals in einem Operativen Vorgang erfasst
gewesenen Pfarrer, einen ehemaligen Stadtbezirksbürgermeister (beide als
Initiatoren der Gespräche), einen Teil der Gemeindemitglieder, ferner ehemalige
Übersiedlungsersuchende und zeitweilig drei MfS-Angehörige in einem Gesprächskreis
zusammen. Während es mit dem Pfarrer, einem Teil der Gemeindemitglieder und
einigen ehemals Übersiedlungsersuchenden Gespräche gab, die nach meinem
Empfinden von der Bereitschaft zeugten, einander zuzuhören und sich zumindest
ansatzweise verstehen zu wollen, vermisste ich eine solche Bereitschaft bei
anderen Beteiligten. Mit ihnen gab es nur Übereinstimmung dahingehend, nicht
überein zu stimmen. Ich glaube, manch einer hatte direkt Furcht davor, von mir
womöglich Zustimmung zu einer Position zu erhalten oder mit mir einer Meinung
sein zu können. Bei einigen dieser Teilnehmer erhärtete sich meine frühere
Position, diesen Menschen wenig Achtung entgegenbringen zu können: sie waren in
der DDR mit Problemen ihrer Arbeit, des gesellschaftlichen Umfeldes und oft
auch der Familie nicht zurechtgekommen, suchten die Schuld dafür ausschließlich
bei dritten und wählten dann die Flucht in »eine andere Welt«, in den anderen
deutschen Staat als Ausweg. Meine diesbezügliche Wertung dazu wurde
verständlicherweise mit Empörung aufgenommen.
Ich
äußerte mich trotz absehbarer Wirkung derart unverblümt, weil ich meine
Denkweise und damit Motive meines damaligen Handelns deutlich machen wollte.
Die Aufforderung an mich und die anderen beiden Mitarbeiter, uns doch »endlich
zu den an ihnen begangenen Verbrechen zu bekennen«, deutet auf die
Schwierigkeiten des Umgangs miteinander.
Diese
Gesprächsrunde fand ein abruptes Ende. Nicht allein dieses Ende bestätigte
meine Auffassung, wonach derartige öffentliche Dispute zwischen Beteiligten
beiderseits der damaligen Barrikaden (ich wehre mich gegen die gängige
Täter-Opfer-Relation) wenig ergiebig sind. Sie haben etwas von
Stierkampfmentalität an sich. Alle Beteiligten sind einer Rolle verpflichtet,
die das Klärende höchstens als sekundäres Element enthält. Man muss eben
gewinnen.
Am
ehesten lassen sich Positionen in Begegnungen zu zweit bzw. im kleineren Kreis,
wo jeder auch zu Wort kommen kann, erklären. Man kann versuchen, tiefer in
Probleme einzudringen und ggf. thematisch und mit Ausdauer miteinander
debattieren. In einer solchen Atmosphäre können auch Dinge offenbart werden,
die unter anderen Bedingungen ungefragt und damit auch unbeantwortet blieben.
Diese individuelle Atmosphäre ist u. a. eine wesentliche Bedingung dafür, dass
es in der nachrichtendienstlichen Arbeit gelingen kann, solche Personen auf
einen Nenner zu bringen, die dem äußerlichen Eindruck nach keinerlei
Gemeinsames haben können. Aus dieser öffnenden Wirkung eines »Zwiegesprächs«
vermag man – so man will – auch erklären, warum dieser oder jener früher mit
Angehörigen des MfS gesprochen, ggf. Jahrzehnte zusammengearbeitet hat, obwohl
die Umwelt von einem derartigen Kontakt nichts geahnt und mit hoher
Wahrscheinlichkeit diesbezügliche Vermutungen in Abrede gestellt hätte.
Zu
dem Gesprächskreis 1992 bis 1993 in der Bekenntniskirche in Berlin-Treptow gab
es einen Dokumentarfilm »Fremd im eigenen Land« durch den niederländischen
Filmemacher Rob Hof, der in der betreffenden Gemeinde eine sehr zwiespältige
Reaktion ausgelöst hatte.
Warum
habe ich mich bis jetzt nur bei einem der Gesprächspartner entschuldigt für
das, was ich gemacht habe? Als erstes gehe ich davon aus, gegenüber keinem der
Gesprächspartner Maßnahmen verantworten zu müssen, die nach DDR-Recht
gesetzeswidrig waren. Ich will nicht behaupten, dass alles moralisch zu
rechtfertigen war, was ich gemacht habe. Mit moralisch meine ich die Moral, die
wir selbst verbal gefordert hatten. Nicht nur ich rechtfertigte mich wiederholt
mir selbst gegenüber oder versuchte Skrupel bei Mitarbeitern zu zerstreuen mit
dem Hinweis, »es sei schließlich für eine gute Sache«. Aber ich eben auch!
Zweitens
kann ich mein damaliges Handeln nicht losgelöst von der gesellschaftlichen
Situation bewerten – das gleiche betrifft auch den jeweiligen Widerpart. Ich
weiß auch heute nicht, was ich hätte wesentlich anders machen können bzw. müssen. Damit meine ich: welches evtl. andere Handeln von
mir hätte etwas bewirken können? Anders handeln zu wollen, hätte auch des
Wissens bzw. der Einsicht bedurft, in richtiger Weise handeln zu können. Ich
bin mir bewusst, mit dieser Position nicht verstanden zu werden. In dieser
Frage gibt es die entscheidenden Differenzen mit fast allen Gesprächspartnern.
Dazu
zwei Aspekte: Dem heutzutage nicht nur einmal vernommenen Ratschlag bezüglich
meiner damaligen Position, einfach nicht mehr mitzumachen, kann und will ich
nicht folgen. Nicht nur meine eigene Person, sondern mein gesamtes
gesellschaftliches Umfeld war ausschließlich der DDR behaftet, obwohl es
gleichwohl genügend kritische Distanz zu Elementen unserer Politik gegeben hat.
Ein etwaiges »Überlaufen zur Opposition« war für mich zu keiner Zeit auch nur
angedacht worden und ist selbst aus heutiger Sicht für mich nicht denkbar. Die
Differenzen waren und sind zu stark. Entweder wir hätten vielleicht gemeinsam
etwas ausgerichtet; gemeinsam heißt die SED und die sich als linksorientiert
verstehenden damaligen »Oppositionellen« oder es gewinnt der Dritte: in diesem
Fall die westdeutsche Konkurrenz. So war’s ja schließlich.
Zum
anderen war ich mir oftmals des Defizits unserer Gesellschaft an Demokratie, an
Mitbestimmung des Einzelnen, ja sogar an Mitsprache der unteren Gliederungen
der Partei – es wurde leider allzu oft über die Köpfe der Beteiligten hinweg
entschieden – bewusst. Aber ich befürchtete bei einem Mehr an Mitsprache der
Bürger, dass es zu einem Abwählen der DDR-Gesellschaft kommen könnte. Und bei
allem Respekt vor den ehrlichen Wünschen verantwortungsbewusster Bürger hatte
ich stets das »Mitmischen der Gegenseite« vor Augen, wozu es in unserer Arbeit
genügend Erkenntnisse gegeben hat.
Wer
heute noch meint, die Bürgerbewegung und die Ereignisse des Herbstes 1989
alleine hätten die eingetretenen Veränderungen bewirkt, der verkennt u. a.,
dass es eine derartige Wirksamkeit der meisten »Bürgerbewegten« nur geben
konnte, weil es (bei Akzeptanz vieler Eigeninitiativen aus dem eigenen Lande)
umfangreiche ideelle, logistische, zum Teil materielle Unterstützung von der
Westseite und entsprechende Medienbegleitung gegeben hatte. Es war tatsächlich
die Ausnahme, wenn es nicht so war.
Heutzutage
sind viele der von ihnen eingebrachten Demokratie-Ansätze dieser Zeit nicht
mehr gefragt, weder ein Runder Tisch noch Verfassungsdiskussionen und schon gar
nicht etwa das Abschaffen geheimdienstlicher Aktivitäten und womöglich Auflösen
diesbezüglicher Dienste und ähnliches.
Trotz
bereits länger andauernder Gespräche fehlt mir das Akzeptieren der
fortlaufenden Aktivitäten jener, von denen ich den Eindruck habe, ihre
zweifellos antikapitalistische Grundposition reduziert sich auf eine kritische
Distanz zur DDR und insbesondere zum MfS.
Ich
glaube, bei aller Berechtigung von Kritik an unserem Anteil am Niedergang der
DDR kann es nicht das alleine sein, was manche derartige Auseinandersetzung
ausmacht.
Dabei
berührt mich stets aufs Neue das öffentliche Bezeichnen von ehemaligen
Inoffiziellen Mitarbeitern. Ich verstehe das Interesse derer, die einst von uns
operativ kontrolliert worden waren, am Erkennen jener Personen in ihrem Umfeld,
die in unserem Auftrag ihnen gegenüber aktiv geworden waren. Es stellen sich
die Fragen, was hast Du gemacht und warum hast Du so gehandelt? Die Antworten
des IM sind nicht leicht.
Unsere
Position als ehemalige Führungsoffiziere ist in dieser Hinsicht entschieden
leichter, denn wir standen nicht in der Vertrauensbeziehung zur ehemals
kontrollierten Person. In einem Fall erlebte ich unmittelbar die
Gesprächskonstellation zwischen diesen drei Beteiligten: damaliger
Tatverdächtiger, IM und Führungsoffizier. Es kostet Überwindung; es werden
Denkweisen und damit Motive des Handelns sichtbar, die ich früher nur zum Teil
geahnt hatte. Es ist schwer, ein abschließendes Urteil zu fällen, aber so viel
sei gesagt: es ging erst einmal. Im Prinzip ist Charakter bei allen Beteiligten
gefragt, d. h. prinzipiell zu dem zu stehen, was man gemacht hat, sonst wird es
mit Sicherheit der Versuch des »Schlachtens«. Man wird kaum »mogeln« können,
das Wissen über den jeweils anderen ist zu umfangreich.
In
keinem Fall war jemand bereit, meine Position zu teilen, einen ehemaligen IM am
ehesten daran zu messen, ob er uns die Wahrheit gesagt hatte und nicht daran,
wem diese Wahrheit mitgeteilt worden war. Am Wahrheitsgehalt gemessen, käme das
Prinzip der IM-Arbeit entschieden besser weg als am »Spitzel«. Aber die
Wahrheit ist offensichtlich auch in dieser Beziehung am wenigsten gefragt, der
politische Zweck zählt weitaus mehr.
Mit
Bedauern habe ich wiederholt zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich
hauptamtliche und Inoffizielle Mitarbeiter in Auseinandersetzungen zu defensiv
verhalten. Das Wissen um das Handeln von Menschen, die vor 1989 in unserem
Blickfeld standen, ist oftmals erheblich breiter als manch eine heutige
»Opfergeschichte«. Ich habe es deshalb abgelehnt, nur auf der Grundlage ausgewählter
Papiere zu debattieren; der gesamte Operative Vorgang und unser gesamtes
Wissen müssten in eine solche Diskussion einfließen. Gründe meiner
Entscheidungen und Motive meines Handelns konnten nur unter solchen Bedingungen
benannt werden, aber das war nicht in jedem Fall dem dienlich, der sich ausschließlich als Opfer
oder Held darstellen und anklagen wollte.
Ein
Entschuldigen setzt nach meiner Meinung ein Unrechtsbewusstsein voraus. Die
Erkenntnis, durch meine die DDR sichernde und schützende Tätigkeit zugleich
auch deren schwerwiegende Mängel und Gebrechen konserviert zu haben, beinhaltet
sicherlich einen bedeutenden Ansatz für ein Schuldgefühl oder ein
Unrechtsbewusstsein, aber es ist es noch nicht. Ich will es mir auch nicht
leichter machen und einfach »Asche aufs Haupt streuen«, um Ruhe zu haben. Um
das Erfordernis, zu einer Lösung zu kommen, weiß ich.
Ich
habe durch meinen Anteil am »Niederhalten der Opposition« genügend Anlass,
eigene Schuld zu suchen. Da ich zugleich betonen muss, sehr vieles gegen das
tatsächliche Schädigen und Schwächen der DDR geleistet zu haben – es gab mehr
in meinem Leben, als nur Oppositionelle zu bearbeiten – halte ich die häufige
Feststellung meiner Gesprächspartner, die Hauptschuld am Versagen der
DDR-Gesellschaft trügen solche Leute wie ich, nicht für ganz erschöpfend. Ich
kann diesen Vorwurf nur partiell akzeptieren.
Schließlich
möchte ich darauf verweisen, dass die permanenten Behauptungen zum
»Unrechtsregime DDR« und zur verwerflichen oder gar verbrecherischen Rolle des
MfS eine Bereitschaft zum offenbarenden Herangehen durch ehemalige
MfS-Angehörige nicht nur schlechthin erschwert, sondern blockiert. Und winkt
dann noch der Staatsanwalt mit einem Ermittlungsverfahren, in dem unser
früheres Handeln an ausländischem Recht gemessen wird, muss jeder ein Esel
sein, der sich ans Messer liefert.
Eine
letzte Feststellung zu mir selbst:
Geboren
1937 in Berlin, Eltern Arbeiter, Vater 1944 vermisst in Lettland, 1945 bis
1955 Schulbesuch, Abitur, Einstellung ins Staatssekretariat für
Staatssicherheit im August 1955, ein Jahr Ermittler in der Abteilung VIII, zwei
Jahre Besuch der Schule in Potsdam-Eiche, 25 Jahre in der Abteilung V – später
XX – der BV Berlin, drei Jahre Leiter der KD Berlin-Treptow, zweieinhalb Jahre
einer der Stellvertreter des Leiters der BV, das letzte Jahr Stellvertreter des
Leiters der Zentralen Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG) im Ministerium. Mit
dem letzten Tag der Existenz des MfS/AfNS am 31. März
1990 endete mein erstes Arbeitsverhältnis in der DDR.
Danach
war ich weiterhin mit der Auflösung der Bezirksverwaltungen/Bezirksämter des
MfS/AfNS im dazu von der Regierung Modrow
installierten Komitee unter Einbeziehen der damals agierenden
Kräftegruppierungen: Vertreter des Noch-Staates DDR, selbsternannte »Bürgerkomitees«
und Evangelische Kirche der DDR befasst. Am 31. August 1990 endete dieses, mein
zweites Arbeitsverhältnis in der DDR, auf ausdrücklichen Wunsch von
»Bürgervertretern«, die mich in die bald darauf abzuschaffende Produktion
schicken wollten.
Danach
der Kampf um das soziale Überleben durch ein Jahr Umschulung zum
Personalreferenten, zwei Jahre Tätigkeit in einem Baubetrieb, anschließend neun
Monate als wenig erfolgreicher Verkäufer in einem Autohaus und schließlich in
mehreren Einrichtungen des Fahrradeinzelhandels, fast immer unterbrochen durch
mehrwöchige Arbeitslosigkeit. Mit 63 Jahren Rentner aus der
»Langzeitarbeitslosigkeit«. Meine Frau und ich sind seit 1959 verheiratet,
meine Frau war Lehrerin, wir haben vier Kinder und unterhalten achtungsvolle
familiäre Beziehungen zueinander. Meine Familie hat meine Tätigkeit zu
DDR-Zeiten akzeptiert und sie kommt auch mit meinem öffentlichen Engagement
nach 1990 zurecht, auch wenn es manchmal für Kinder und Schwiegerkinder nicht
einfach war.
Von
1962 bis 1966 habe ich an der Humboldt-Universität Kriminalistik studiert und
mit einem Diplom abgeschlossen. Das Studium und die Praxis des Verfolgens von
vermuteten oder begangenen Straftaten hatten mir zu zahlreichen Arbeitserfolgen
verholfen, wenn auch manche zu ahndende Straftat unaufgeklärt blieb. Ich
erwähne diese Seite meiner Tätigkeit deshalb, weil es für operative Mitarbeiter
eher die Ausnahme war, begangene Straftaten aufzuklären, also von einem
Sachverhalt her zu einem zunächst unbekannten Täter zu gelangen, wie es
kriminalpolizeiliche Praxis ist. Üblicherweise wurde in den operativen
Diensteinheiten von Verdachtshinweisen zu einer Person auf ein mögliches Delikt
geschlossen, um darauf aufbauend eine notwendige Beweisführung zu erarbeiten.
Als
Fallschirmspringer (67 Sprünge), Militärkraftfahrer über 25 Jahre und sportlich
aktiver Mensch habe ich mir meine Gesundheit bis heute im Wesentlichen
erhalten. Ich laufe gern und ausdauernd und fahre mit dem Fahrrad, jeweils etwa
fünftausend Kilometer pro Jahr.
Vom Soldaten
zum Oberstleutnant. Eine Frau im MfS
Von
Helga Plache
Jahrgang
1936; Fachschuljurist; MfS/AfNS 1954-1990 ;
Oberstleutnant a. D.; zuletzt Offizier für Anleitung und Kontrolle in der HA
Untersuchung des MfS Berlin
Wohl
in jedem menschlichen Leben gibt es prägende Ereignisse, auch in meinem. Bei
dem frühesten, an das ich mich erinnere, war ich gerade einmal sechs Jahre alt.
Es war im Februar 1943. Meine Mutter ging mit mir zum Bahnhof in meinem
damaligen Heimatort Bad Dürrenberg, um meinem Vater
noch einmal zuzuwinken, der in einem Wehrmachtszug auf dem Weg zur Front den
Ort passieren sollte. Weshalb musste er weg von uns? Für mich war es nicht zu
begreifen. Wieso sollte ich nun auf Papa verzichten? Wer sollte mir die Welt,
die Tiere und Pflanzen erklären, was er wie kein anderer bisher mit viel
Geduld getan hatte. Die Erwachsenen begründeten dieses Dilemma für mich mit dem
Krieg und das lehrte mich, den Krieg zu hassen. Und dieser Hass wurde durch
weitere Erlebnisse gefestigt. Zum Beispiel durch die immer intensiver werdenden
Bombenangriffe, von denen unser Gebiet durch die dort befindlichen Chemieriesen
Leuna und Buna besonders betroffen war. Fast täglich,
meist abends und nachts, Fliegeralarm. Mitten im Schlaf: raus aus dem Bett und
in den Bunker gehastet. Dann jedes Mal die bange Frage: Finden wir unser Heim
danach unversehrt?
Ein
weiteres Erlebnis mit traumatischen Folgen: Wir schreiben das Jahr 1944. Ich
war inzwischen acht Jahre alt. Ein schöner Frühlingstag erwartete uns. Bereits
am frühen Morgen wehte ein leichter Hauch den Duft der Wiese am kleinen Park
auf die Straße, die zu unserer Schule führte. Ich ging meinen Schulweg meistens
mit drei gleichaltrigen Nachbarskindern. Nach dem Unterricht warteten wir
aufeinander, um wieder gemeinsam nach Hause zu gehen. An diesem Tage wurde der
Schulunterricht durch »Voralarm«, dem Sirenensignal, mit dem die Bevölkerung
aufmerksam gemacht wurde, dass sich ein feindlicher Flugzeugverband dem
Territorium näherte, abrupt beendet. Auf unserem Weg nach Hause kam dann
»Vollalarm«, jenes Sirenensignal, das bedeutete: Alle haben die Schutzräume
aufzusuchen! Wir rannten los, um schnell zu Hause Schutz zu finden. Zu spät! In
Höhe der kleinen Parkanlage, etwa in der Mitte des Weges von der Schule nach
Hause, kam uns ein amerikanischer Tiefflieger entgegen. Er flog so tief, dass
wir sogar den Kopf des Piloten in der Kanzel erkennen konnten. Plötzlich schoss
er mit seiner Bordwaffe auf uns, obwohl er an unserer Größe und der Tatsache,
dass wir alle Schultaschen auf dem Rücken trugen, erkennen konnte, dass wir
Kinder waren. Vom Straßenpflaster spritzten Splitter ab. Zu unserem Glück traf
er uns nicht, denn wir rannten instinktiv auseinander. Wir flüchteten unter die
Büsche am Wegesrand und hofften, dass er nicht wiederkäme. Aber noch zweimal
flog er nach einem großen Bogen in unsere Richtung und immer wieder schoss er
aus der Bordwaffe. Inzwischen waren wir für ihn nicht mehr zu sehen, denn wir
hatten in einem ausgebrannten Straßenbahnwagen Zuflucht gefunden.
Dieses
Erlebnis prägte sich mir stark ein und ich hatte noch Jahre danach diese Bilder
im Kopf. Was bewegt einen amerikanischen Soldaten auf Schulkinder zu schießen?
Hatte er zu Hause nicht vielleicht selbst Kinder? Nachdem die USA in Vietnam
Krieg führten und heute an vielen Stellen in der Welt wieder mit
fadenscheinigen oder erlogenen Begründungen Kriege vom Zaune brechen und
Menschen, darunter viele Kinder, ermordet werden, weiß ich, dass meine
Erlebnisse keine Ausnahme waren. Menschenverachtend ist die Politik der USA bis
heute geblieben. Sie dient ausschließlich der Erhaltung der Macht der Konzerne
und geht dabei sprichwörtlich »über Leichen«. Und die Bundesregierung macht
inzwischen fleißig mit.
Den
Krieg und seine Grausamkeiten mussten wir noch bis zu dessen Ende ertragen.
Nachdem
im April 1945 die Kampfhandlungen zu Ende waren, kamen zunächst US-Truppen in
unseren Ort. Amerikanische und britische Flieger hatten die grausamen
Bombardements auf deutsche Städte wie Hamburg, Lübeck, Berlin, Dresden, Leipzig
und viele andere durchgeführt. Hatten sie denn keine Zweifel? Merkten sie
nicht, dass sie fast ausschließlich die Bevölkerung trafen und mordeten? Mein
durch den geschilderten Tiefflieger-Beschuss hervorgerufenes Trauma fand neue
Nahrung. Die amerikanischen Besatzer durchsuchten den Hühnerstall unserer
Hausbesitzer, stahlen die Hühner und Eier, was mich als Kind sehr empörte. Sie
machten sich auch lustig über uns verängstigte Kinder. Ich habe ihr Gebaren
noch so in Erinnerung, als gehöre die Welt nur ihnen. Gelegentlich warfen sie
Schokolade oder Kaugummis auf die Straße, wenn wir vorbeigingen. Ich sah immer
diesen schießwütigen Piloten vor mir und habe von Amerikanern nie etwas
genommen.
Entsprechend
dem Potsdamer Abkommen zogen die Amerikaner schließlich ab und sowjetische
Truppen besetzten unsere Stadt. Manche Leute hatten Angst »vor den Russen«,
aber in meiner Familie gab es keine Vorbehalte. Mein Vater, seine Eltern und
Geschwister waren Kommunisten und fühlten sich deswegen der Sowjetunion
verbunden, was auch schon meine Haltung als Neunjährige bestimmte. So erwartete
ich mit anderen Kindern neugierig am Straßenrand die einrückenden Truppen. Die
Sowjetsoldaten sahen abgekämpft aus, hatten staubige Stiefel und einige legten
sich, nachdem sie ihre Panzer abgestellt hatten, noch im Vorgarten nieder und
schliefen ein, was uns irgendwie beeindruckte. Zeigte es doch, dass es sich
hier um kämpfende Truppen gehandelt hat; ganz im Gegensatz zu den »fröhlichen«
Amerikanern.
Am
28. August 1945 kam mein Vater nach Hause. Er war aus amerikanischer
Gefangenschaft in Hof geflohen, um zu meinem Geburtstag zu Hause zu sein.
Unsere Familie war froh, ihn wieder zu haben. Nachdem er sich bei der neuen
Stadtverwaltung angemeldet hatte, bat ihn der Bürgermeister, als Polizist zu
arbeiten. Er sagte zu, obwohl er gelernter Kürschner und danach als
Chemiearbeiter bei der IG Farben tätig war. Ich war stolz auf meinen Vater, der
jetzt mit ganzer Kraft an der Gestaltung und am Schutz einer Gesellschaft ohne
Krieg mitwirkte.
Im
Oktober 1949 erfuhren wir im Schulunterricht, dass die Deutsche Demokratische
Republik gegründet worden war. Sowohl in der Schule als auch zu Hause gab es
ausführliche Gespräche über die Veränderungen in unserer Gesellschaft, die auch
mir gefielen und für deren Verwirklichung ich mich im Rahmen meiner kindlichen
Möglichkeiten einsetzte.
In
den folgenden Jahren gab es eine Menge Ereignisse, über die zu berichten wäre,
so unter anderem die vielfältigen Projekte, die Mitglieder der Freien Deutschen
Jugend realisierten. Unter Teilnahme der Jungen Pioniere wurde ein umfassendes
Jugendleben aufgebaut, es entstanden in unserer FDJ-Gruppe ein Fotozirkel, eine
kleine Bibliothek und ein Musikraum mit Klavier.
In
unserem FDJ-Heim hatte nach Gründung auch die Ortsgruppe der Gesellschaft für
Sport und Technik ihr Domizil. Die Freunde der GST hatten mit Unterstützung
unserer FDJ-Gruppe einen an der Saale liegenden alten Kutter übernommen, einen
»Seesportzirkel« gegründet und einen ehemalige Matrosen als dessen Leiter gewonnen.
Unter seiner Ägide wurde der Kutter wieder flott gemacht und wir erhielten von
ihm eine Ausbildung in der Bedienung des Bootes, im Morsen und Signalwinken.
Sonntags brachten wir manchmal Ausflügler von dem einen Ufer der Saale zum
anderen. Alles machte uns höllischen Spaß und förderte ungemein das
Zusammengehörigkeitsgefühl.
In
unserer Freizeit, vor allem an den Wochenenden, organisierten wie in Abstimmung
mit der Stadtverwaltung Arbeitseinsätze. Vor allem pflegten wir die Grünanlagen
des Kurparks und auch jene Grünanlage, die uns während des Beschusses durch den
Tiefflieger Schutz geboten hatte.
Mir
wurde das Glück zuteil, am 1. und 2. Deutschlandtreffen und an den III.
Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin teilzunehmen. Es waren
überwältigende Erlebnisse, die meine Überzeugung festigte, den begonnenen Weg
des Aufbaus einer friedlichen DDR fortzusetzen. Unser Land bot uns vielfältige
Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung und zur sinnvollen
Freizeitgestaltung, was wir auch intensiv genutzt haben. Das Leben in der
Pionierorganisation und der Freien Deutschen Jugend prägte neben meinem
Elternhaus ganz stark meine Entwicklung. Bis zu meinem Weggang aus Bad-Dürrenberg im Jahre 1954 war ich FDJ-Sekretär unserer
Grundorganisation.
1950
konnte ich meinen damaligen Traumberuf – Verkäuferin – erlernen. Dank meiner
Anstrengungen und der allseitigen Unterstützung seitens der
Konsumgenossenschaft konnte ich die Lehre bereits nach zweiundzwanzig Monaten
beenden. Nach Lehrabschluss erhielt ich die Möglichkeit, die Landesschule der
Konsumgenossenschaft zu besuchen und mein theoretisches Wissen zu festigen und
zu erweitern.
Mit
großer Sorge verfolgten vor allem wir Jugendlichen, die den Krieg erleben
mussten, die Meldungen über die Remilitarisierung und die Verfolgung der
Kommunisten, Gewerkschafter und anderer fortschrittlicher Kräfte in der
Bundesrepublik Deutschland. Nicht nur ich befürchtete, dass Deutschland wieder
eine solche Entwicklung nehmen könnte, die schon einmal zu dem furchtbaren
Krieg geführt hatte. Ich war bereit, die Errungenschaften unserer jungen
Republik zu bewahren und an ihrer Weiterentwicklung aktiv teilzunehmen. So
bewarb ich mich bei der Deutschen Volkspolizei, bei der mein Vater noch immer
seinen Dienst tat. Von seiner Tätigkeit inspiriert, hatte ich die Absicht
Kriminalistin zu werden. Es sollte etwas anders kommen, denn im Juli 1954 wurde
ich eines Tages gebeten, zu einer Aussprache nach Halle »in den
Robert-Franz-Ring« zu fahren. Ich nahm an, dass es eine Dienststelle der Volkspolizei
sei.
Am
angegebenen Ort fand ich jedoch die BV des
Staatssekretariats für Staatssicherheit im Ministerium des Innern vor.
Nach einer eingehenden Aussprache fragte man mich, ob ich bereit sei, meinen
Dienst anstelle bei der Kriminalpolizei in diesem Staatssekretariat
aufzunehmen. Ich sagte zu und sollte bereits vier Tage später meinen Dienst
aufnehmen. Nun hatte ich als stellvertretende Verkaufsstellenleiterin der
Konsumgenossenschaft auch noch Verpflichtungen sowie eine 14-tägige
Kündigungsfrist einzuhalten. Mir wurde zugesichert, dass alles mit meiner
Kaderabteilung abgestimmt werde, was auch erfolgt ist.
Also
trat ich – blutjung und keine Ahnung von der Arbeit in einem Sicherheitsorgan –
meinen Dienst im Referat Nachrichten, konkret in der Fernschreibstelle an. Die
schon versierten Mitarbeiter halfen mir in jeder Beziehung, so dass ich bereits
nach sechs Tagen den Nachtdienst allein übernehmen durfte. Ich konnte zwar noch
nicht sehr schnell schreiben, aber es ging mit jedem Tag besser. Wenn ich kein
Fernschreiben abzusetzen hatte, übte ich fleißig. Die Arbeit machte mir Freude
und obwohl für mich ungewohnt, kam ich mit dem im Nachrichtenwesen üblichen
Schichtrhythmus, einschließlich der Wochenend- und Feiertagdienste gut zurecht.
Im
Frühjahr 1955 bekam ich das Angebot, in eine andere Diensteinheit zu wechseln.
Die Arbeit sei abwechslungsreicher als in der Fernschreibstelle, jedoch müsse
ich täglich mindestens 30 Seiten mit der Schreibmaschine tippen. Ich traute es
mir inzwischen zu und erklärte mein Interesse. An dem Tag, als ich meine neue
Dienststelle aufsuchen sollte, war ich zunächst etwas irritiert, denn es war
eine Haftanstalt. Man hatte mir vorher nicht konkret gesagt, in welche
Diensteinheit ich versetzt werde. Jedenfalls ging ich entschlossen durch das
Tor und befand mich auf dem Weg zu meiner neuen Wirkungsstätte.
Ich
betrat das Gebäude, in dem die Untersuchungsabteilung (Abteilung IX) der
Bezirksverwaltung Halle untergebracht war. Nach einer kurzen Einweisung nahm
ich meinen Arbeitsplatz im Schreibzimmer ein, den ich mit zwei weiteren
Mitarbeiterinnen teilte. Es waren nicht nur mindestens 30 Seiten zu tippen,
sondern es waren auch oft Überstunden zu leisten. Schließlich hing der
Arbeitsanfall oft von den erfolgten Festnahmen ab. Aber ich war angetreten,
mein Bestes für die Sicherheit unseres jungen Staates zu leisten, also musste
ich da durch. Ich habe an dieser Herangehensweise bezüglich meiner Arbeit immer
festgehalten und nur so konnte ich alle Möglichkeiten nutzen, die mir später
geboten wurden.
An
meiner neuen Arbeitsstelle holte mich in tragischer Weise die Vergangenheit
ein. Auf dem Fenstersims neben meinem Schreibtisch war – zwar übertüncht, aber
noch gut lesbar – in kyrillischen Buchstaben der Name MISCHA zu lesen. Mischa war offenkundig ein während
der Zeit des Faschismus hier einsitzender Sowjetbürger, denn der »Rote Ochse«
wurde schon damals als Haftanstalt betrieben. In der DDR gab es nach 1949 viel
Wichtigeres zu tun als neue Gefängnisse zu bauen, deshalb mussten die vorhandenen
genutzt werden. Ich stellte mir oft die Frage, wie es wohl diesem Mischa hier
ergangen sein mochte. Ich habe niemals eine Antwort darauf gefunden.
In
der Untersuchungsabteilung war ich dem Referat 1 zugeteilt, das vorwiegend
Ermittlungsverfahren wegen Spionage bearbeitete. Die Geheimdienste der USA,
Großbritanniens und Frankreichs sowie der zunächst unter dem Nazigeneral Gehlen
arbeitende westdeutsche Geheimdienst, aber auch die »Ostbüros«
westdeutscher Parteien, die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« und weitere
Organisationen unternahmen alles, um die Lage in der DDR zu destabilisieren.
Sie warben dazu unter Ausnutzung und Missbrauch der offenen Grenzen unzählige
Bürger der DDR an. Die geheimdienstlichen Aktivitäten betrafen die gesamte
Breite der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und gesellschaftlichen
Bereiche. Besonderer Schwerpunkt im Halleschen Raum war – meinen Erkenntnissen
zufolge – vor allem Spionage und Sabotage in den Chemiewerken des Bezirkes.
Meine
Aufgabe bestand darin, die handschriftlich gefertigten Vernehmungsprotokolle
abzuschreiben oder während einer Vernehmung das diktierte Protokoll in die
Maschine zu schreiben. Das war dann besonders effektiv, wenn der Beschuldigte
seine Antworten auf die gestellten Fragen selbst diktierte. Ich erinnere mich
aber auch eines ausgesprochenen Glücksfalles für mich. Ein Untersuchungsführer
hatte den rechten Arm gebrochen und konnte die folgenden Wochen nicht selbst
schreiben. Daher war ich in dieser Zeit fast ausschließlich für ihn tätig. Es gab
ja außer Vernehmungsprotokollen noch eine Menge anderer Schreibarbeiten, die
bei der Bearbeitung eines Ermittlungsverfahrens anfielen.
Auf
diese Weise habe ich unmittelbar die konkreten Umstände der Anwerbungen durch
westliche Geheimdienste, die Motivation der Beschuldigten und ihre gegen die
DDR gerichteten Taten kennen gelernt. Einige handelten aus blankem Hass gegen
alles Fortschrittliche, andere lockte das Geld, für das sie sich verkauften und
wiederum andere wurden durch die Geheimdienste so unter Druck gesetzt, dass sie
keinen anderen Ausweg sahen, als mitzumachen. Gleichzeitig lernte ich, wie man
Vernehmungen plant und durchführt und wie mit den vorhandenen Beweismitteln
gearbeitet wird. Außerdem erwarb ich erste Kenntnisse über das taktische Vorgehen
zur Erlangung wahrheitsgemäßer Aussagen.
Meine
diesbezüglichen Fragen – und ich hatte anfangs viele Fragen – wurden
ausnahmslos von allen Untersuchungsführern beantwortet. In Einzelfällen wurde
mit mir in Vorbereitung auf eine Vernehmung die taktische Vorgehensweise
besprochen. Hierbei entstand mein Wunsch, selbst einmal als Untersuchungsführer
zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war mir aber auch klar, dass ich noch auf der
untersten Stufe stand und viel Mühe, Fleiß und Wissen erforderlich ist, um dieses
Ziel zu erreichen. Wir hatten in Halle zur damaligen Zeit bereits eine Frau,
die als Untersuchungsführerin arbeitete; sie war von Anfang an mein Vorbild.
Und mir war klar, dass Frauen, um eine solche Entwicklung nehmen zu können,
auch im MfS wesentlich mehr leisten müssen als Männer. Das war eine zusätzliche
Motivation für mich.
Im
Frühjahr 1956 wurde ich wegen hohen Arbeitsanfalls in die Hauptabteilung
Untersuchung nach Berlin »abkommandiert« und im September 1956 versetzt. Ich
war weiterhin als Schreibkraft tätig; jetzt in einer Abteilung, die
Ermittlungsverfahren wegen Wirtschaftsspionage, Sabotage und andere Straftaten
gegen die Volkswirtschaft der DDR bearbeitete. Immer
öfter wurde ich damit betraut, direkt in der Vernehmung das diktierte Protokoll
maschinenschriftlich zu fertigen. Meine Arbeit war sehr interessant und
abwechslungsreich. Bei hohem Arbeitsanfall wurden wir Schreibkräfte auch
abteilungsübergreifend eingesetzt. In Verfahren wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit waren Zeugenprotokolle polnischer Bürger, die im
Konzentrationslager Auschwitz gequält worden waren, maschinenschriftlich zu
übertragen. Die erschütternden Aussagen waren emotional brisant und raubten mir
einige Nächte den Schlaf. Da erinnerte ich mich wieder: Während des Krieges
lebte in der uns benachbarten Wohnung eine Familie Beyer. Erich Beyer war bei
der SS in Auschwitz tätig. Er rühmte sich gegenüber den anderen Hausbewohnern
der im Lager begangenen Gräueltaten, vor allem an polnischen Bürgern. Ich
selbst sah während gemeinsamer Spielstunden mit seiner Tochter in deren
Wohnung, dass in einer Schublade Uhren, Schmuck und Goldzähne lagen. Nach 1945
hatte sich Beyer sofort in die Westzonen abgesetzt und sich so einer
Strafverfolgung entziehen können.
Manchmal
trägt das Leben skurrile Züge. Während meiner Tätigkeit als Schreibkraft in
Berlin kam ein Hilferuf aus Leipzig: hoher Arbeitsanfall, so dass die dortigen
Schreibkräfte die Arbeit nicht allein schafften. Klar, dass geholfen werden
musste. Ich wurde zur Unterstützung in die Abteilung IX der Bezirksverwaltung
Leipzig abkommandiert. Keine Ahnung, warum die Wahl auf mich fiel;
wahrscheinlich weil ich inzwischen recht flott schreiben konnte und in Leipzig
keine Unterkunft brauchte, denn meine Schwiegermutter lebte damals noch dort
und so konnte ich bei ihr übernachten.
Das
Schreibzimmer der Leipziger Untersuchungsabteilung befand sich aus
raumtechnischen Gründen im Zellenbau, was mich ein wenig konsternierte, denn
solche Bedingungen erschwerten die Arbeit zusätzlich. Das hatte mich ziemlich
beeindruckt, so dass ich am Abend meiner Schwiegermutter über diese Zustände
berichtete. Bei dieser Gelegenheit sagte sie mir, dass sie in eben diesem
Zellenbau 1933 als Kommunistin von den Faschisten inhaftiert worden war. Sie
beschrieb mir die Lage ihrer damaligen Zelle. Unser Erstaunen war groß, als wir
feststellten, dass ich genau in dem Raum, in dem sie 1933 eingesessen hatte,
jetzt Vernehmungsprotokolle abtippte. Nach etwa einem Monat kehrte ich nach
Berlin zurück.
In
den Ermittlungsverfahren, bei denen ich in meiner langjährigen Arbeit als
Schreibkraft eingesetzt war, erlebte ich die gesamte Breite der gegnerischen
Angriffe auf alle Bereiche der DDR.
Zum
Beispiel erinnere ich mich an ein Verfahren wegen Sabotage. Die DDR hatte den
Auftrag erhalten, in Ägypten Strom-Freileitungen zu bauen. Das passte der
westdeutschen Konkurrenz nicht. Der DDR-Bauleiter wurde angeworben und erhielt
den Auftrag, das Projekt zu sabotieren, um die DDR zu diskreditieren und den
lukrativen Auftrag selbst noch übernehmen zu können. Dank der guten Arbeit der
Abwehr flog die Sache auf und der Bauleiter wurde inhaftiert. Nach anfänglichem
Leugnen legte er infolge der vorliegenden erdrückenden Beweise schließlich die
Karten auf den Tisch.
In
einem weiteren Ermittlungsverfahren wegen Wirtschaftsspionage wurde ein
Unternehmer beschuldigt, der im Auftrage westlicher Dienste in die DDR
übergesiedelt war. Das Interessante dabei war, dass vor seiner Übersiedlung
gegen ihn in Westberlin ein Haftbefehl erwirkt und er zur Fahndung
ausgeschrieben worden war. Dennoch konnte er sich monatelang in der BRD und in
Westberlin frei bewegen, ohne Schaden zu nehmen. Hielten seine
geheimdienstlichen Auftraggeber die Hand über ihn?
Ein
anderes Ermittlungsverfahren lief gegen einen ehemaligen faschistischen
»Zwölfender« aus dem Mecklenburger Raum. (»Zwölfender« nannte man diejenigen
Angehörigen der faschistischen Armee, die sich für zwölf Jahre Dienst
verpflichtet hatten.) Er war Agent des amerikanischen Geheimdienstes, als so
genannter Ernstfallfunker ausgebildet und mit mordernster Funktechnik
ausgestattet worden. Er sollte während einer von seinen Auftraggebern erhofften
kriegerischen Auseinandersetzung zwischen West und Ost Informationen über die
militärische Lage und die Stimmung der Bevölkerung liefern. Was blieb ihm –
angesichts der bei der Hausdurchsuchung gefundenen Funktechnik – übrig, als
sich zu seiner Straftat zu bekennen. Er berichtete dann sehr ausführlich über
die Hintermänner und Einzelheiten seiner gegen die DDR gerichteten Tätigkeit.
Ich
erinnere mich aber auch an eine Inhaftierte mit Vornamen Annemarie. Bei ihrer
Anwerbung wurde ganz offensichtlich ihre einfache Denkweise ausgenutzt. Nachdem
ihr am Schluss der ersten Vernehmung das Protokoll zum Lesen und Unterschreiben
vorgelegt worden war, gab sie an, des Lesens und Schreibens unkundig zu sein.
Daraufhin wurde ihr – und das ist ausdrücklich vermerkt – das Protokoll
vorgelesen und sie signierte es mit einem selbst gewählten Signum. Sowohl der
Untersuchungsführer als auch ich bemühten uns, sie zunächst das Alphabet zu
lehren und sie in die Lage zu versetzen, ihren Namen zu schreiben. Sie bekam
Papier und Stift mit in den Verwahrraum, wo sie fleißig übte, so dass sie am
Ende ihrer Untersuchungshaft immerhin in der Lage war, ihren Namen zu
schreiben.
Diese
Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Vielleicht widmen sich die
jeweiligen Untersuchungsführer von damals dieser Aufgabe.
Im
September 1960 wurde ich Sekretärin in einer speziellen Abteilung. Deren
Aufgabe war die Untersuchungsarbeit der Abteilungen IX der Bezirksverwaltungen
anzuleiten und zu kontrollieren, damit in unserem Zuständigkeitsbereich das
sozialistische Recht einheitlich durchgesetzt wurde. Das lief so, dass jeweils
ein Mitarbeiter dieser Abteilung (Instrukteur) für zwei bis drei Abteilungen IX
der Bezirksverwaltungen zuständig war. Jeweils am Anfang der Woche fuhr er in
»seine« Abteilung, arbeitete dort und kehrte erst am Wochenende nach Berlin
zurück. Kein leichtes Leben, denn ausnahmslos alle hatten Familie. Ich
qualifizierte mich in dieser Zeit weiter, besuchte neben meiner Arbeit als
Sekretärin einen Lehrgang und legte in der Folge meine zweite
Facharbeiterprüfung – diesmal als Steno-Phonotypistin
– mit sehr gutem Ergebnis ab. Ich hatte viel, aber noch nicht mein eigentliches
Ziel erreicht.
Doch
wir arbeiteten nicht nur hart, sondern unternahmen auch in der Freizeit viel
gemeinsam. Das stärkte den Zusammenhalt und es entstanden Freundschaften für
ein Leben lang. Im Sommer halfen wir an unseren dienstfreien Wochenenden bei
der Einbringung der Ernte in unserer Paten-LPG oder wir leisteten
Arbeitseinsätze beim Aufbau des Tierparks Berlin-Friedrichsfelde. Die
vorhandenen kulturellen Angebote wie Oper, Theater, Konzerte, Kabarett usw.
haben wir in unser tägliches Leben einbezogen und auch auf diesen Gebieten
unseren Horizont erweitert. Da wir zunächst als Ledige keine familiären
Verpflichtungen hatten, waren unserer Freizeitgestaltung keinerlei Grenzen
gesetzt.
Im
Jahre 1959 heiratete ich. Zu den ersten Gratulanten gehörte Dora Hoffmann und
ihre Kinder. Dies bewegte uns sehr. Dora war die Ehefrau des von den Nazis
wegen seines Widerstandes gegen Krieg und Faschismus im Februar 1945
hingerichteten Artur Hoffmann. Mein Ehemann stammte aus einer Leipziger
kommunistischen Familie, die während der Nazizeit in der
Schumann-Engert-Kresse-Gruppe antifaschistischen Widerstand geleistet hatte.
Nach Kriegsende organisierte sein Vater als Sportdirektor der Stadt Leipzig den
Neuanfang auf dem Gebiete des Sports. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt
nach seinem viel zu frühen Tod das Probstheidaer
Stadion den Namen »Bruno-Plache«.
Mein
Ehemann arbeitete ebenfalls in der Hauptabteilung IX. Wir teilten uns sowohl
die Erziehung und Betreuung unserer Kinder als auch die Hausarbeit. Ohne ihn,
der in dieser Zeit sein juristisches Fernstudium absolvierte, und ohne das
volle Verständnis unserer Kinder hätte ich meine Ziele nicht erreichen können.
Ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Die Situation war manchmal besonders für die
Kinder schwierig, aber trotzdem oder gerade deshalb sind aus ihnen tüchtige
Menschen geworden. Das soziale Umfeld, wie Kinderkrippe, Kindergarten und
Schulbetreuung, kostenlos angebotene Arbeits- und Interessengemeinschaften
sowie Sport trugen zu einer allseitigen Persönlichkeitsentwicklung ebenso bei
wie ihre spätere Berufsausbildung und eine gesicherte Zukunft in der DDR.
Darüber hinaus haben wir die dienstfreien Wochenenden immer gemeinsam
verbracht. Jeder durfte abwechselnd vorschlagen, was unternommen wurde.
Im Sommer
wünschten sich die Kinder oft einen Badeausflug nach Joachimsthal
oder ausgedehnte Spaziergänge im Tierpark. Zu dieser Zeit kosteten Jahreskarten
für zwei Erwachsene und zwei Kinder insgesamt 21,00 Mark der DDR. In den
Wintermonaten standen oft Museen oder Theater- und Konzertbesuche auf dem Plan.
Während ihrer Schulferien nahmen unsere Kinder gern die Gelegenheit wahr, in
ein Ferienlager zu fahren. Unsere Urlaube verbrachten wir entweder in der DDR,
aber mangels Ferienplätzen auch oft in den sozialistischen Ländern. Von diesen
Auslandsaufenthalten schwärmen unsere Kinder noch heute. Jetzt, im Rentenalter,
frage ich mich oft, wie haben wir das alles gepackt, zumal unsere ältere
Tochter in Ermangelung eines Kinderkrippenplatzes in ihren ersten beiden Lebensjahren
bei meinen Eltern aufgewachsen ist und wir sie fast jedes Wochenende besucht
haben. Auch die Unterstützung durch meine Eltern und meine Schwiegermutter half
uns, unseren zusätzlichen Aufgaben, z. B. bei Sondereinsätzen über mehrere Tage
und bei der eigenen Weiterentwicklung, gerecht zu werden.
Von
1971 bis 1974 absolvierte ich an der Juristischen Fachschule Potsdam ein
Fernstudium und schloss dieses erfolgreich als Fachschuljuristin ab. Meine
Vorgesetzten unterstützten meinen Wunsch mich weiterzubilden und stimmten der
Teilnahme an verschiedenen Lehrgängen, wie z. B. Völkerrecht und Psychologie
zu. Davon ausgehend veränderte sich bald mein Tätigkeitsfeld.
Ich
wurde 1973 Sachbearbeiter und 1975 Hauptsachbearbeiter für die Anleitung und
Kontrolle der in den Bezirken bearbeiteten Ermittlungsverfahren gegen
Jugendliche. Ziel dieser Tätigkeit war, neben der einheitlichen Handhabung des
sozialistischen Rechts unter besonderer Berücksichtigung des
Entwicklungsstandes der straffällig gewordenen Jugendlichen, die umfassende
Aufklärung ihrer Motive sowie die Einbeziehung der Jugendhilfeorgane und der
Schule bzw. des Lehrbetriebes zu gewährleisten. Großer Wert wurde auf eine
vorrangige und rasche Bearbeitung der Ermittlungsverfahren gelegt.
Da
Verfahren gegen Jugendliche relativ selten waren und sich auch noch auf
sechzehn Abteilungen verteilten, gehörte es auch zu meinen Aufgaben, die in den
einzelnen Untersuchungsabteilungen gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen
zusammen zu tragen und zu analysieren sowie die Ergebnisse dieser Arbeit den
einzelnen Abteilungen zu vermitteln. Weiterhin führten wir zu den spezifischen
Problemen bei der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche im
Bereich Anleitung und Kontrolle regelmäßig Erfahrungsaustausche durch, um alle
Instrukteure in die Lage zu versetzen, in ihren Verantwortungsbereichen im
angestrebten Sinne weiterzuarbeiten. Außerdem nutzte ich die Gelegenheit bei
Qualifizierungslehrgängen für Untersuchungsführer entsprechende Vorlesungen zu
halten und in den Seminaren Fragen zu beantworten.
Mein
noch immer verfolgtes Ziel war, selbst als Untersuchungsführer zu arbeiten.
Diese Gelegenheit bot sich unverhofft im Frühsommer 1976. In der
Untersuchungsabteilung einer Bezirksverwaltung liefen in einer Strafsache
Ermittlungsverfahren gegen vier Beschuldigte. Die zwei Hauptbeschuldigten, die
in die Einzelheiten der Straftat eingeweiht waren, hatten in den bisherigen
Vernehmungen keine tatrelevanten Aussagen gemacht und dies, obwohl ein
erfahrener Untersuchungsführer das Verfahren bis dahin leitete. Nun sollte ich
ran. Ich hatte Bedenken, ob ich dieser Herausforderung gewachsen war. Aber ich
wollte ja diese Arbeit tun, also musste ich da durch. Ich befasste mich mit den
Ausgangsmaterialien, den vorhandenen Beweismitteln sowie den bisherigen
Aussagen der Mitbeschuldigten und bereitete mich auf »den Sprung ins kalte
Wasser« vor. Entweder schwimmen oder untergehen!
Bei
den Beschuldigten handelte es sich um zwei Frauen und einen Mann aus Westberlin
und eine DDR-Bürgerin, die nach Westberlin ausgeschleust werden sollte. Ich
begann mit der Vernehmung einer bereits teilgeständigen Beschuldigten, die den
geringsten Tatanteil zu verantworten hatte. Bereits am Nachmittag war das für
diesen Tag geplante Pensum abgearbeitet und entsprechende Aussagen erzielt, die
sich mit den vorhandenen Beweismitteln deckten. Der »schwierigste« Beschuldigte
war der Westberliner, der in alle Einzelheiten der geplanten Schleusung
eingeweiht war und im Auftrage eines bekannten Hintermannes handelte. Der
vorherige Untersuchungsführer schätzte ein, dass es sich bei diesem
Beschuldigten um einen besonders hartnäckig Schweigenden handele. Wie verblüfft
war ich, als ich ihm die erste Frage zum Sachverhalt stellte und er sofort und
umfassend auszusagen begann. Ich hatte den Vorteil, meine Vernehmungsprotokolle
sofort in die Maschine zu schreiben und konnte somit sehr schnell und
detailliert protokollieren. Bei besonders wichtigen Aussagen stenografierte ich
und übertrug sie anschließend in das Protokoll, wobei ich die wörtliche
Übernahme besonders erwähnte.
Nach
seiner Verurteilung und vor Verlegung in den Strafvollzug, habe ich ihn nach
seinen Gründen gefragt, weshalb er nach tagelangem Schweigen bei mir plötzlich
ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte. Mich interessierte tatsächlich,
wieso er bei einem sehr erfahrenen Untersuchungsführer geschwiegen und bei mir
»Neuling« sofort auf die Fragen geantwortet hatte. Er äußerte, dass er völlig
perplex gewesen sei, als ihm plötzlich eine Frau gegenüber saß und die
Vernehmung führte. Dabei habe er seine bis dahin befolgte Strategie völlig
vergessen.
Das
Verhältnis zu den einzelnen Beschuldigten gestaltete ich von Beginn an so, dass
ich ihre Persönlichkeit achtete, ihrer unterschiedlichen Bildung Rechnung trug und
ein gewisses Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Sämtliche Beschuldigten
haben mit mir von sich aus auch über ihre privaten Probleme gesprochen. Eines
Tages erschien die Beschuldigte, deren Verfahren ich bearbeitete, ziemlich
niedergedrückt zur Vernehmung. Ich fragte sie, ob sie Probleme habe. Dabei
erfuhr ich, dass der 80. Geburtstag ihrer Oma, an der sie sehr hing,
bevorstand. Es sei das erste Mal, dass sie ihr nicht gratulieren könne. Ich
habe sie so gut es ging beruhigt und vorgeschlagen, dass ich in der
Mittagspause eine Geburtstagskarte kaufe, die sie dann schreiben könne. Am
Abend auf meinem Nachhauseweg habe ich – selbstverständlich nach Absprache mit
der aufsichtsführenden Staatsanwältin – die Karte in
den Briefkasten geworfen. Das mag sehr banal klingen, aber für die Beschuldigte
war es ein besonderer Moment und sie war dankbar dafür.
Die
Zeit als Untersuchungsführerin war anstrengend, aber trotzdem – oder gerade
deshalb – wäre ich es am liebsten geblieben. Von Nutzen war diese Erfahrung auf
jeden Fall, denn bei meiner späteren Tätigkeit konnte ich aus eigenem Erleben
untersuchungsspezifische und taktische Hinweise zu geben.
Später
sollte ich noch einmal als Untersuchungsführerin tätig werden, als eine des
Mordversuchs beschuldigte Jugendliche aus einem Bezirk nach Berlin in das
Haftkrankenhaus verlegt werden musste. Ich weiß heute den Grund der
Einlieferung ins Haftkrankenhaus nicht mehr. Nachdem sie gesundheitlich wieder
fit war, jedoch im Auftrage des Gerichtes ein psychiatrisches Gutachten
gefertigt werden sollte und sie deshalb in Berlin blieb, habe ich im Auftrag
der zuständigen Untersuchungsabteilung die weiteren Vernehmungen mit ihr
geführt und das Verfahren zum Abschluss gebracht. Auch in diesem Fall bestand
ein sehr gutes Verhältnis zu der Beschuldigten. Wir sprachen oft über ihre
Sorgen und Ängste und über die Zeit nach Verbüßung ihrer Strafe. Während einer
Teilnahme am Besuch ihrer Eltern in der Haftanstalt entwickelte sich zu diesen
ebenfalls ein guter Kontakt. Wir unterhielten uns später über Besonderheiten im
familiären Bereich, was für mich wiederum hilfreich war, denn die Beschuldigte
war noch sehr jung und ich war für geraume Zeit ihre engste Bezugsperson.
Aus
eigenem Erleben weiß ich, dass im Haftkrankenhaus des MfS durchweg anerkannte
Fachärzte, sehr gut ausgebildetes medizinisches Personal wie Krankenschwestern
und Pfleger tätig waren. Unter den Beschuldigten hatte es sich in den
Abteilungen XIV (Untersuchungshaftvollzug) der Bezirksverwaltungen
herumgesprochen, dass das Haftkrankenhaus Berlin einen hohen medizinischen Standard hatte. So waren die Inhaftierten oft
bestrebt, bei einer Erkrankung nach Berlin verlegt zu werden. Vor allem aus der
BRD stammende Beschuldigte nutzten das zur Sanierung ihrer Zähne und nahmen
sehr kostenintensive Behandlungen in Anspruch. Die finanziellen Aufwendungen
trug selbstverständlich die DDR.
Nachdem
meine abteilungsinterne Ausbildung zum Offizier für Anleitung und Kontrolle
beendet war, übernahm ich die Funktion eines Instrukteurs für die Untersuchungsabteilungen
in den Bezirksverwaltungen des MfS Berlin, Frankfurt (Oder) und Schwerin. Mir
war es wichtig, für diese Tätigkeit mindestens Teilhochschulabschlüsse in
Strafrecht/sozialistische Kriminologie und
Strafprozessrecht/Untersuchungsarbeit an der Juristischen Hochschule Potsdam zu
erreichen. Ich wurde voll in den laufenden Hochschullehrgang integriert, nahm
an den Vorlesungen, Seminaren und schriftlichen Arbeiten sowie den
Abschlussprüfungen teil. Ein komplettes Hochschulstudium war leider nicht mehr
möglich. Da in meiner Verantwortung jetzt auch die Anleitung von Leitungskadern
in den Untersuchungsabteilungen der Bezirksverwaltungen lag, absolvierte ich
von 1980 bis 1981 ein Hochschulteilstudium »Wissenschaftliche Organisation der
staatlichen Leitung« (heute als Management bezeichnet) an der Akademie für
Staats- und Rechtswissenschaften der DDR in Potsdam-Babelsberg.
Die
anleitende und kontrollierende Tätigkeit bedeutete für mich – wie bereits
erwähnt – mindestens zweimal im Monat montags bis freitags eine Dienstreise in
meinen Verantwortungsbereich durchzuführen und dort auf der Grundlage des
Aktenstudiums und dessen Auswertung konkrete Hinweise an die
Untersuchungsführer zu geben und mit den Leitungskadern zu beraten, wie sie
ihre verantwortungsvollen Aufgaben noch besser wahrnehmen und die Aus- und
Weiterbildung ihrer Untersuchungsführer gewährleisten können. In dieser Zeit
lernte ich sehr viele Untersuchungsführer, deren Vorgesetzte und auch operative
Mitarbeiter kennen. Ausnahmslos gestaltete sich die Zusammenarbeit auf
Augenhöhe, war von gegenseitigem Respekt, von Achtung und Anerkennung der
individuellen Leistungen geprägt. Ich fühlte mich unter den »Untersuchern« wie
in einer Familie und habe unter ihnen viele Freunde gewonnen.
Alle
Leitungskader und viele Mitarbeiter hatten Hoch- oder Fachschulabschlüsse und
nahmen an spezifischen Lehrgängen für Untersuchungsführer teil, um ihre
Fähigkeiten weiterzuentwickeln und zur einheitlichen Durchsetzung des
sozialistischen Rechts qualifiziert beizutragen. Darüber hinaus fanden
regelmäßig Dienstkonferenzen für die Leitungskader der Abteilungen IX in Berlin
statt, bei denen u. a. neue Angriffsrichtungen gegen die DDR Gegenstand waren
und umfangreiche Erfahrungsaustausche stattfanden.
Im
Zeitabstand von etwa fünf Jahren erfolgten vierzehntägige Komplexüberprüfungen
in den Abteilungen IX der Bezirksverwaltungen. Dabei wurde unter Leitung des
zuständigen Instrukteurs eine Brigade gebildet, die alle Referate der
Abteilungen IX überprüften, wobei Wert darauf gelegt wurde, dass solche
Mitarbeiter der Hauptabteilung IX in den Brigaden eingesetzt wurden, die
spezifische Fachkenntnisse besaßen, so z. B. bei der Bearbeitung von Spionage,
Sabotage/Wirtschaftsverbrechen, Schleusungen und schwere Kriminalität wie Brandstiftungen
und Tötungsdelikten. Während dieser Einsätze ermöglichten die Abteilungen IX in
Zusammenarbeit mit den operativen Diensteinheiten jeweils einen mehrstündigen
Besuch örtlicher volkseigener Betriebe; eine Gelegenheit, die konkreten
Bedingungen der Produktion und ihrer Leitung sowie die Arbeitsbedingungen und
auch die Probleme der Betriebsangehörigen besser kennen zu lernen. Das half uns
sehr in unserer Arbeit, besonders bei der Beurteilung von Sachverhalten und
Verhaltensweisen.
Die
Ergebnisse der Brigadeeinsätze wurden in Berichten zusammengefasst, mit den
Kollektiven ausgewertet und dem Leiter der BV sowie dem Minister für
Staatssicherheit zur Kenntnis gegeben. Dies war insoweit wichtig, da
Untersuchungsarbeit immer mit der Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit
verbunden war.
Die
praktizierte zentrale Anleitung und Kontrolle der Untersuchungsabteilungen der
BV hat sich in jedem Fall bewährt. Die Instrukteure hatten zu allen
Abteilungsleitern IX ein sehr gutes Verhältnis und nutzten umfassend deren
Erkenntnisse und Erfahrungen zur Weiterentwicklung des sozialistischen Rechts.
In meinen Anleitungsbereichen ergaben sich sehr gute Kontakte zu den Leitern
der Bezirksverwaltungen, obwohl dies eigentlich nicht zu meinen Aufgaben
gehörte. Aber uns ging es um die gemeinsame Sache – die umfassende Einhaltung
der sozialistischen Gesetzlichkeit. Sie konnten sich darauf verlassen, dass sie
bei eventuell festgestellten Gesetzesverstößen sofort unterrichtet worden
wären. Einen solchen Fall gab es jedoch nicht.
Noch
ein Wort zu dem Bild, dass seit 1990 unisono von den Medien, so genannten
Gedenkstätten und Leuten, die sich als »Betroffene« ausgeben, von der
Untersuchungsarbeit und dem Untersuchungshaftvollzug in der DDR gezeichnet
wird. Sie alle arbeiten emsig an der Erfüllung des vom ehemaligen
Justizminister der BRD, Klaus Kinkel, erteilten Auftrages, die DDR zu delegitimieren. Und um dieses Ziel zu erreichen, darf man
es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Zweifelsohne ist eine Inhaftierung
für die/den Betroffene/n ein gravierender Einschnitt. Sie/er ist plötzlich vom
bisherigen Umfeld isoliert, auf sich selbst gestellt, fremden Regeln
unterworfen und im Ungewissen, was das Untersuchungsorgan über ihre/seine
Straftat weiß. Keine einfache Situation. Aber das ist weltweit so und keine
DDR-Spezifik. In der DDR gab es kein Guantanamo, keine von der CIA
unterhaltenen Gefängnisse außerhalb der USA.
In
den Vernehmungen, bei denen ich als Schreibkraft zugegen war und auch später
als Untersuchungsführerin sowie aus den Erkenntnissen der Anleitung und
Kontrolle wurde ausnahmslos korrekt gearbeitet. Die Beschuldigten wurden immer
als individuelle Persönlichkeiten behandelt und im Rahmen der Möglichkeiten ist
auch auf persönliche Belange eingegangen worden. Nicht wenige der Beschuldigten
bedankten sich sogar dafür, dass sie sich als Mensch behandelt fühlten und sich
ihre vorher von Mitarbeitern der westlichen Geheimdienste geschürten Ängste vor
Folter nicht bewahrheiteten. Folter widerspricht unserem humanistischen
Menschenbild und unserer Weltanschauung. Wäre trotzdem ein solcher Fall
eingetreten, hätte sich der dafür Verantwortliche einem Strafverfahren nach den
Gesetzen der DDR ausgesetzt gesehen und wäre verurteilt worden. In den
Ermittlungsverfahren, in die ich in meiner langjährigen Tätigkeit als
Schreibkraft, Sachbearbeiter und Instrukteur involviert war, wurde in fast
allen Fällen ein Gerichtsurteil gefällt; ganz einfach, weil Straftaten begangen
und im Ermittlungsverfahren nachgewiesen worden waren.
Seit
Bestehen der DDR bestand ein weiterer Schwerpunkt seitens der BRD darin, gut
ausgebildete Facharbeiter, Ingenieure und Ärzte aus der DDR abzuwerben. Die
gute Schulbildung sowie qualifizierte Facharbeiter-/Ingenieur- und
Hochschulausbildung war der BRD gleich mehrfach von Nutzen. Sie selbst hatten
keinerlei Ausbildungskosten aufwenden müssen und schädigten zugleich die
Wirtschaft der DDR, die hohe finanzielle Aufwendungen am Ende für nichts
erbracht hat. Besonders schwerwiegend wirkte sich die Abwerbung medizinischen
Personals aus, vor allen Dingen von Ärzten. Das führte teilweise dazu, dass
mangels vorhandener Fachärzte Operationen nicht durchgeführt werden konnten
oder verschoben werden mussten. Hier sei ein Hinweis auf das 2006 erschienene
Buch von Peter Pfütze »Besuchszeit« erlaubt, der detailliert zu dieser
Problematik Stellung nimmt.
Das
heutige Dilemma, dass die BRD nicht ausreichend über eigene allseitig
qualifizierte Kräfte verfügt, ist letztlich ein Zeichen dafür, dass es die DDR
nicht mehr gibt, an der man sich schamlos und schadlos halten konnte. Erschwert
wurde diese Situation für die BRD bereits nach den Maßnahmen des 13. August
1961. Nicht nur das Ausbluten der DDR durch Abwerbungen und wirtschaftliche
Ausplünderung wurde erschwert, sondern »durch die Mauer« wurde ein Krieg
verhindert. Hierzu empfehle ich das Buch von Armeegeneral a. D. Heinz Keßler und Generaloberst a. D. Fritz Streletz »Ohne die
Mauer hätte es Krieg gegeben«.
Ich
möchte auch noch eine andere Seite der Untersuchungsarbeit erwähnen. Sie
bestand darin, einsichtig Irregeleitete und Personen, die schuldlos in eine
Straftat verwickelt waren, möglichst rasch wieder in die Gesellschaft
einzugliedern. Oftmals betraf das auch Kinder und Jugendliche. So zum Beispiel,
wenn Kinder nach der Festnahme ihrer Eltern aus dem Kofferraum eines
Schleusungsfahrzeuges geborgen waren und vorübergehend in einem Heim der
Jugendhilfe untergebracht werden mussten. So erinnere ich mich eines Falles, in
dem ein Ehepaar festgenommen wurde, das ein Kind bei sich hatte. Ich erhielt
den Auftrag, mich um den Jungen zu kümmern. Um ihm den Aufenthalt in einem
Kinderheim zu ersparen, wandte ich mich an seine Großmutter, damit sie ihrem
sensiblen Enkel vorübergehend ein Zuhause bietet. Die hatte sich aber mit Sohn
und Schwiegertochter überworfen und deshalb auch keinen Kontakt zum Enkel, so
dass sie zunächst ablehnte. Es gelang mir schließlich, sie zu überzeugen, den
Enkel bei sich aufzunehmen. Das Strafverfahren gegen die Mutter des Jungen
wurde beschleunigt bearbeitet und der Haftbefehl aufgehoben, da ihre
persönliche Schuld gering war. Somit konnte sie sich wieder um ihr Kind
kümmern.
In
einem weiteren Fall versuchte ein Ehepaar mit seinen zwei Kindern mit Hilfe
westdeutscher Schleuserbanden die DDR kurz vor Weihnachten zu verlassen. Sie
wurden daran gehindert und festgenommen. Ich fuhr nach Gera und kümmerte mich
weisungsgemäß um die Unterbringung der Kinder in einem Heim. Dort sollte zwei
Stunden nach Übergabe der Kinder eine Weihnachtsfeier stattfinden, bei der die
Heiminsassen auch Geschenke erhalten würden. Für meine beiden Neulinge war
logischerweise nichts da. Um sie nicht auszugrenzen, ging ich einkaufen und
besorgte für sie Geschenke. Die Kinder konnten doch nicht dafür, dass ihre
Eltern sie der Gefahr ausgesetzt hatten, eventuell die Fahrt im Kofferraum
nicht zu überleben. Sie hatten es schon schwer genug, Weihnachten ohne Eltern
in fremder Umgebung zu begehen. Vom Kinderheim aus begab ich mich in die
Untersuchungsabteilung und habe mit Zustimmung des Untersuchungsführers und
dessen Vorgesetzten der Mutter der Kinder während einer Vernehmungspause
erklärt, dass ihre Kinder derzeit an der Weihnachtsfeier im Kinderheim
teilnehmen und auch dafür gesorgt ist, dass sie ebenfalls Geschenke erhalten.
Die Beschuldigte legte noch am gleichen Tage ein umfassendes Geständnis ab,
benannte die Hintermänner und distanzierte sich von ihrer »unüberlegten« Tat.
Das Verfahren wurde beschleunigt bearbeitet und die Beschuldigte nach kurzer
Zeit aus der Untersuchungshaft entlassen. Nun konnte sie ihre Kinder wieder
selbst betreuen.
Eines
Nachts, etwa gegen 2 Uhr, klingelte ein Bereitschaftskraftfahrer an unserer
Haustür. Er sollte mich unverzüglich zur Dienststelle bringen. Ich beeilte
mich, denn es handelte sich ganz offensichtlich um eine außergewöhnliche
Angelegenheit, wenn sie nicht bis zum Morgen Zeit hatte. Wir fuhren zum
Präsidium der Volkspolizei in der Keibelstraße. Dort
erfuhr ich, dass zwei kleine Kinder gegen Mitternacht durch eine Polizeistreife
auf dem Alexanderplatz aufgegriffen worden sind. Sie weinten und riefen nach
ihrer Mutter. Man hatte sie dann in das Berliner Präsidium der Volkspolizei
gebracht, wo sie erst einmal in einem gesonderten Raum untergebracht wurden, wo
sie schlafen konnten. Es handelte sich um einen etwa vierjährigen Jungen und
ein siebenjähriges Mädchen. Augenscheinlich waren es Roma. Ein ebenfalls zur
Dienststelle beorderter Arzt bestätigte meine Annahme. Er untersuchte die
Kinder, die sichtlich unterernährt und verwahrlost wirkten sowie äußerst ärmlich
gekleidet waren. Da es keine Hinweise auf ansteckende Krankheiten gab, war eine
stationäre Aufnahme in einer Kinderklinik nicht erforderlich. Es wurde
veranlasst, für die Kinder Milch und etwas zu Essen aufzutreiben. Es war gar
nicht so leicht um diese Uhrzeit. Jedenfalls machte sich ein »pfiffiges
Kerlchen« auf den Weg und kam tatsächlich mit Milch und etwas Essbarem zurück.
Während sich die Kinder stärkten, begann ich mit der Unterhaltung, wer sie
seien, woher sie kommen und weshalb sie allein auf dem Alexanderplatz unterwegs
waren. Das Mädchen hieß Beata, ihr Bruder Robert. Beata sprach recht gut
Deutsch, Robert hingegen gar nicht. So »übersetzte« Beata die Worte des
Kleinen. Sie waren mit ihren Eltern und Verwandten in einem Wohnmobil von
Hamburg nach Berlin gefahren und hatten sich hier etwas angesehen. Dann sollten
sie am Brunnen am Alexanderplatz auf die Rückkehr der Eltern warten, die vorgaben, noch etwas erledigen zu müssen. Sie kamen aber
nicht.
Wir
veranlassten über die zuständige Diensteinheit eine Benachrichtigung der
Grenzübergangsstellen zur BRD, um die inzwischen namentlich bekannte Familie an
einer Ausreise aus der DDR zu hindern und uns unverzüglich zu informieren,
damit die Angelegenheit geklärt werden könne. Binnen kurzer Zeit erhielten wir
die Mitteilung, dass die Familie mit dem Wohnmobil bereits in die BRD
ausgereist war, und zwar zu einer Zeit, als die Kinder sich noch am
Alexanderplatz aufhielten! Ich brachte die Kinder in das Kinderheim »Makarenko« nach Johannisthal und
übergab sie dort der zuständigen Ärztin, die vor Aufnahme in das Heim immer
eine Untersuchung vornehmen musste. Die Kinder wollten, dass ich bei ihnen
bleibe, da sie sich vor »Dracula« fürchteten. Ich sagte ihnen, dass es bei uns
keinen Dracula gibt, sondern einen ganz lieben Sandmann, der ihnen im Fernsehen
abends eine Geschichte erzählt und dann Schlafsand verstreut.
Als
ich das Zimmer der Ärztin verlassen hatte, standen einige Kinder im Alter von
etwa sechs bis zehn Jahren auf der Treppe. Ein Mädchen fragte mich, ob ich denn
ein Kind holen wolle. Sie selbst könne schon im Haushalt helfen und in der
Schule sei sie auch gut. Sie würde gern mit mir kommen. Ein anderes, ungefähr
zehnjähriges Mädchen sagte mir, dass sie noch einen Bruder habe, der auch im
Heim ist. Sie sei zehn und ihr Bruder neun Jahre alt. Leute, die sich hier
Kinder abholen, wollen immer nur ganz kleine. Wir sind da schon »zu alt«. Es
war für mich ein sehr trauriger Augenblick. Hoffnungsvolle Kinderaugen blickten
sehr traurig, als ich ihnen sagte, dass ich selbst Kinder zu Hause habe und sie
leider nicht mitnehmen könne. An diesem Tag verließ ich das Kinderheim mit
Tränen in den Augen. Ich wusste, dass es ihnen in diesem Heim gut ging, aber
sie wünschten sich verständlicherweise eine Familie.
Der
Minister für Staatssicherheit hatte in der Angelegenheit der Roma-Kinder
entschieden, dass Beata und Robert baldmöglichst zu ihren Eltern zurückzuführen
sind. Gleichzeitig wurde angewiesen, sie anständig einzukleiden und auch für
Spielsachen zu sorgen. Ich wurde damit beauftragt. Einen limitierten Etat hatte
ich für diese Aufgabe nicht. So begab ich mich zum Centrum-Warenhaus am
Alexanderplatz und kaufte komplette Bekleidung und Schuhe sowie Spielsachen für
die beiden. Dann holte ich Beata und Robert aus dem Kinderheim ab, damit sie zu
ihren Eltern gebracht werden konnten. Dies erfolgte unter Einbeziehung der
Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. Bevor die Kinder im Auto des
Mitarbeiters der StÄV Platz nehmen durften,
breitete er erst eine Decke auf den Sitzen aus, »damit nichts schmutzig wird«.
Kann eine gegensätzliche Haltung zu Roma deutlicher zum Ausdruck kommen?
Zu
den Aufgaben des Bereiches Anleitung und Kontrolle gehörte die sorgfältige
Analyse der in den Bezirken eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Wurde aufgrund
der Persönlichkeitsentwicklung, des konkreten Tatherganges, der Ursachen und
begünstigenden Bedingungen der Straftat eine relativ geringe Schuld
festgestellt und bestand die Aussicht auf problemlose Wiedereingliederung in
die Gesellschaft, wurde in Abstimmung mit den territorial zuständigen
Untersuchungsabteilungen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens angeraten,
nach Zustimmung des aufsichtsführenden Staatsanwaltes
beschlossen und die Aufhebung des Haftbefehls erwirkt. Gleichzeitig liefen die
Maßnahmen zur Wiedereingliederung an. So konnten während der intensiven
zentralen Anleitung nicht wenige Beschuldigte, besonders Jugendliche, vor einer
Haftstrafe bewahrt und ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich in ihrem
gewohnten Umfeld zu bewähren.
Eine
kurze Einfügung sei mir gestattet: Die wenigsten Ermittlungsverfahren wurden
eingeleitet, nachdem die Täter auf frischer Tat ertappt worden sind. Der
Regelfall war, dass bei einem begründeten Verdacht zunächst durch operative
Diensteinheiten gezielte Überprüfungen erfolgten und die Persönlichkeit der
Verdächtigen aufgeklärt wurde. Entweder brachten die Ergebnisse die
unmittelbare Einstellung der Vorermittlungen und Archivierung der Unterlagen
oder das Material wurde der zuständigen Untersuchungsabteilung zur Prüfung
vorgelegt. Bestätigte sich der dringende Tatverdacht einer strafbaren Handlung
und wurde dieser Verdacht durch entsprechende Beweismittel erhärtet, erfolgte
die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit oder ohne Haft.
In
einem schwierigen Fall bat der Leiter einer bezirklichen Untersuchungsabteilung
meinen Vorgesetzten um meine Unterstützung. Ich begab mich vor Ort, sah mir das
vorhandene Material an und sprach mit dem inhaftierten jugendlichen
Beschuldigten. Er war der schweren Brandstiftung verdächtig; der bearbeitende
Untersuchungsführer hatte jedoch aufgrund der bekannten Spurenlage Zweifel an
dem vom Beschuldigten geschilderten Tathergang. Diese Zweifel konnte ich
erhärten. Ich hatte den Vorteil, dass ich »von außen« kam und nicht unter dem
Zeitdruck zur Aufklärung der Straftat stand, wie er seitens der Leitung der
Bezirksverwaltung gemacht worden war. Der Jugendliche war in den Kreis der
Verdächtigen geraten, weil er als Kind schon mehrfach gezündelt und kleinere
Sachschäden verursacht hatte. Nach intensiver Beratung unter Einbeziehung des
Staatsanwaltes wurde noch am gleichen Tage durch den Richter der Haftbefehl
aufgehoben und der Jugendliche aus der Haft entlassen. Eine Woche danach konnte
durch weitere Maßnahmen im operativen Bereich der wahre Täter gefasst werden.
Ein
ähnliches Schicksal hatte zwei Jugendliche in einer anderen
Untersuchungsabteilung ereilt. Aufgeklärt werden musste eine am Tag zuvor
begangene schwere Straftat, bei dem unter anderem ein wichtiges Dokument
entwendet worden war. Zeugen beschrieben zwei Jugendliche, die sich an der dem
Tatort nahen Straßenbahnhaltestelle verdächtig benommen hätten. Daraufhin
eingeleitete Überprüfungen führten zu den Jugendlichen. Sie wurden
festgenommen. Nach den erfolgten Erstvernehmungen erließ der zuständige Richter
auf Antrag des Staatsanwaltes Haftbefehle.
Nachdem
die Meldung über die erfolgten Festnahmen dem Bereich Anleitung und Kontrolle
vorlagen – dies erfolgte zeitnah spätestens am nächsten Tag nach einer
Inhaftierung – erhielt ich Order, mir das Verfahren vor Ort anzusehen. Nachdem
ich mir einen Überblick über die Sache verschafft und mit den
Untersuchungsführern und ihren Vorgesetzten gesprochen hatte, erbat ich die
laut Protokoll angefertigten Tonbandaufzeichnungen von den Vernehmungen. Diese
waren zunächst »unauffindbar«. Ich wartete das Ergebnis der Suche ab. Da es
inzwischen spät geworden war und meine Dienstreise zu Ende ging, musste ich die
Tonbänder mit nach Berlin nehmen. Am nächsten Morgen hörte ich sie an. Ein wichtiger
Grundsatz unserer Vernehmungsarbeit, keine Suggestivfragen zu stellen, war von
dem beauftragten Untersuchungsführer verletzt worden. Er stand stark unter
Leistungsdruck, die Tat schnellstens aufzuklären. Damit waren die Aussagen
rechtlich gesehen nichts wert. Ich informierte meinen Abteilungsleiter, der
sich ebenfalls in die Tonbandaufzeichnungen »einhörte« und meine Einschätzung
teilte. Nach einigem Hin und Her schlossen sich die Genossen unserer Auffassung
an, stellten nach Rücksprache mit dem Staatsanwalt das Verfahren ein, entließen
die Beschuldigten aus der Haft und suchten nach den Tätern, die dann einige
Tage später festgenommen werden konnten und unter der Last der vorliegenden
Beweismittel die Tat gestanden.
Ich
muss an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass diese beiden geschilderten
Fälle die absolute Ausnahme in meiner langjährigen Tätigkeit im Bereich
Anleitung und Kontrolle darstellten.
Es
hat sich in beiden Fällen aufgrund des großen Erfolgsdruckes, der bei schweren
Straftaten oft vorhanden war, um Fehler gehandelt. Und ganz wichtig ist: der
Druck kam nicht von innen, sondern leider öfter von Mitarbeitern der
SED-Bezirksleitungen, die ihrerseits bestrebt waren, binnen kürzester Zeit
einen »Aufklärungserfolg« an ihre Vorgesetzten zu melden.
Generelle
Weisung in der Untersuchungsarbeit war, eine Vernehmung von mindestens sechs
Stunden durchzuführen, um zügig und konsequent die Strafsache zu bearbeiten und
die vorgegebenen gesetzlichen Fristen einzuhalten. Für Außenstehende sei
erwähnt, dass sich Untersuchungsführer und Beschuldigter während der
Vernehmungen mit gewissem Abstand gegenübersaßen. Dabei war die Blickrichtung
des Beschuldigten zum Fenster; in den Wintermonaten wurde der Raum durch die
Deckenleuchte erhellt. Für den Untersuchungsführer war es wichtig, den
Beschuldigten zu beobachten und seine Reaktionen etwa auf die Fragestellung zu
erkennen. Tischlampen, mit denen die Beschuldigten direkt angeleuchtet werden,
gab es bei uns nicht. Die gibt es nur in schlechten Kriminalfilmen.
So etwas
Hirnrissiges wie in der »Gedenkstätte Hohenschönhausen« behauptet, dass durch
»Löcher in der Wand« vernommen wurde, wäre selbst einem Baron von Münchhausen
nicht eingefallen.
Am
28. Februar 1990 endete meine Tätigkeit. Ich wurde mit dem Dienstgrad Oberstleutnant
entlassen. Ich hatte es nie für möglich gehalten, jemals in meinem Leben
arbeitslos zu werden.
Nach
einer weiteren Berufsausbildung (Umschulung mit 55 Jahren) legte ich vor der
Rechtsanwaltskammer Berlin die Prüfung als Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte
ab. Danach konnte ich noch bis zu meinem Renteneintritt in einem Westberliner
Anwaltsbüro arbeiten, deren Chefs sich von dem Kesseltreiben und den
Verteufelungen der MfS-Mitarbeiter nicht beeindrucken ließen, sondern
ausschließlich sehr gute Arbeitsleistungen erwarteten.
Ohne
Zweifel wurden in der DDR Fehler gemacht, auch im Ministerium für
Staatssicherheit. Wo sonst entstehen Fehler, wenn nicht bei der Arbeit und noch
dazu bei einer so verantwortungsvollen und vielschichtigen.
Im
Nachhinein ist zu erkennen, dass viele Menschen, die 1989 auf die Straße
gingen, ganz offensichtlich den falschen Weg gewählt hatten. Es wäre unter
anderen Bedingungen tatsächlich ein Erhalt der
Errungenschaften der DDR möglich gewesen. Aber die Hintermänner in der
BRD haben mit der Kraft der D-Mark und unter Ausnutzung ökonomischer Probleme
in der DDR ihren Feldzug begonnen und viele Bürger manipuliert.
Täglich
erlebe ich, wie Menschen, denen es in der DDR einmal gut ging, die Arbeit und
ihr Auskommen hatten, jetzt in ärmlichen Verhältnissen leben müssen, keine
Arbeit mehr finden und deren Kinder und Enkel ohne Zukunft sind.
Dass
es im November/Dezember 1989 nicht zu militärischen Auseinandersetzungen bei
der Bekämpfung der Konterrevolution kam, war nicht zuletzt den bewaffneten
Kräften der DDR zu danken. Es widerspricht unserer humanistischen und
kommunistischen Erziehung und Haltung, einen Krieg gegen die eigenen Bürger zu
führen, der sich zu einem Weltbrand hätte entwickeln können.
Das
Ministerium für Staatssicherheit der DDR und seine ehemaligen Mitarbeiter
werden seit 1990 verteufelt, sie werden ausgegrenzt und sollen ihrer Würde
beraubt werden. Das war u. a. das Ziel eines Kinkel, der zu Zeiten, als er dem
BND vorstand, wegen der Erfolge dieses Ministeriums für Staatssicherheit der
DDR sicher mehrmals zum Rapport antanzen musste, weil seine Behörde nichts
geahnt und nichts gewusst hat. Genauso, wie es heute der »Verfassungsschutz«
und der Bundesnachrichtendienst beweisen. Sie vertreten ausschließlich die Interessen
des Kapitals und nicht der Menschen, egal wie sich gebärden. Dass sie ihr Land
und die Bürger nicht schützen, zeigt u. a. die Tatsache, dass nichts
Ernsthaftes gegen die Datenausspähung seitens des amerikanischen Geheimdienstes
NSA unternommen wird.
Diese
Bundesrepublik Deutschland dient ausschließlich den Interessen des Kapitals,
zunehmend auch der Rüstungsindustrie. Der Präsident dieses Landes fordert
unverhohlen militärische Einsätze in anderen Ländern der Welt. Herr Pfarrer!
Wie steht es um die Losung »Schwerter zu Pflugscharen«? Die Haltungen vor 1990
waren wohl ausschließlich Demagogie und nicht nur bei ihm.
Es
tut weh, zu erleben, wie die ehemaligen Mitarbeiter des MfS trotz ihrer
Bildung, ihrer Erfahrungen, ihrer Zuverlässigkeit und ihrer bewiesenen hohen
Einsatzbereitschaft heute ausgegrenzt werden. Sie haben mit den anderen
bewaffneten Kräften der DDR an vorderster Stelle dafür gesorgt, dass 1990
friedlich geblieben ist. Man sollte uns eigentlich dafür danken. Weshalb tut
man es nicht? Aber: Toleranz ist eine Tugend der Weisen.
Im
Grundgesetz der BRD steht in Artikel 1:
(1)
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2)
Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen
Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens
und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3)
Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und
Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«
Weshalb
hält man sich nicht daran?
Abschließend
noch einige Bemerkungen zur »Gedenkstätte Hohenschönhausen«. Schließlich habe
ich fast 34 Jahre lang in der Hauptabteilung Untersuchung gearbeitet.
Ich
kann die Äußerungen des Leiters der »Gedenkstätte« und auch die der dortigen
»Museumsführer« überhaupt nicht nachvollziehen. Es reihen sich Lügen an Lügen
und wenn ehemalige Mitarbeiter der Abteilungen IX und XIV während solcher
»Führungen« wahrheitsgemäß etwas dazu sagen, wird ihnen das Wort entzogen und
sie erhalten Hausverbot! Wenn die Angaben der »Museumsführer« tatsächlich der
Wahrheit entsprechen würden, wäre es ein leichtes, diese durch Auslegen ihrer
von den Untersuchungsführern angefertigten Hand- und Gerichtsakten zu
untermauern. Aber das geht nicht, denn zu offensichtlich wäre die Wahrheit, so
dass die »Gedenkstätte« unverzüglich geschlossen werden müsste. Aber was sollen
die »freiwilligen Knackies« dann tun? Die
Qualifikation des »Historikers« für die von ihm derzeit ausgeübte Tätigkeit liegt
schlicht und ergreifend nicht vor! Die Bundesregierung sollte sich fragen, ob
die enormen finanziellen Mittel für diese »Gedenkstätte« nicht besser für
soziale Projekte eingesetzt werden als sie für Schürung
von Hass und zur Volksverdummung zu nutzen.
Bei
dieser Gelegenheit erinnere ich mich eines Vorfalls, bei dem nach 1990 ein
Bürger in die Anwaltskanzlei kam und darum bat, für ihn eine »Opferrente« zu
beantragen, da er in der DDR »politischer Häftling« gewesen sei. Der
Rechtsanwalt sagte zu, ihm behilflich zu sein. Jedoch brauche er etwas Geduld,
denn wir müssen erst Akteneinsicht beantragen, um genaue Forderungen stellen zu
können. Er fragte, welche Akten denn? Aufgeklärt, dass es um seine Akten beim
MfS geht, bat er, die Sache auf sich beruhen zu lassen und nichts zu
unternehmen. Das war ihm wohl doch zu heiß. Warum wohl?
Es
bleibt die Hoffnung, dass die Menschen wieder ihren Verstand benutzen, denn: es
kommt immer anders, wenn man denkt.
Die
Untersuchungsabteilung des MfS war kein Geheimnis
Von
Manfred Liebscher
Jahrgang
1930; Diplomjurist; MfS/AfNS 1959-1990;
Oberstleutnant a. D.; zuletzt Referatsleiter in der HA Untersuchung des MfS
Berlin
Zum
besseren Verständnis meiner nachfolgenden Erinnerungen möchte ich einige
Vorbemerkungen machen. Das MfS mit Sitz in der Berliner Normannenstraße war in
Hauptabteilungen, Abteilungen, Referate und Arbeitsgruppen gegliedert. In den
15 Bezirken der DDR, einschließlich Berlin, arbeiteten Bezirksverwaltungen
mit fast analoger Struktur. Und: Nach der Strafprozessordnung der DDR (StPO)
gab es drei gleichberechtigte strafprozessuale Untersuchungsorgane: neben den
Untersuchungsorganen der Volkspolizei und der Zollverwaltung der DDR das des
MfS. Das Untersuchungsorgan des MfS war die Hauptabteilung IX. Ihre diesbezügliche
Tätigkeit regelte sich demzufolge auch – wie der beiden anderen U-Organe – nach
den §§ 88 und 89 StPO. Die Aufsicht über alle strafprozessualen
Ermittlungshandlungen oblag nach § 89 dem Staatsanwalt. Die Aufsicht des
Staatsanwaltes sicherte die Gesetzlichkeit der Untersuchungen. In
fachlich-operativer Hinsicht lag die Verantwortung beim Minister für Staatssicherheit.
Damit
befanden sich sowohl die HA IX im Ministerium als auch die entsprechenden
Abteilungen IX in den Bezirken in einem doppelten Unterstellungsverhältnis.
Was
heutige Sichten auf die Arbeitsweise dieser Abteilungen betrifft, so möchte ich
hier aus dem Buch »Bis zum bitteren Ende« zitieren, das Josef Schwarz, einst
Leiter der BV Erfurt, 1994 veröffentlicht hat. Zur Rolle des Untersuchungsorgans
schrieb er dort in einer Polemik: »Wichtig erscheint mir in diesem
Zusammenhang, dass das Strafrecht eindeutige Straftatbestände aufweist. Deshalb
wundere ich mich über den Vorschlag eines Herrn Dr. Thieler,
[…] einen Tatbestand ›Verlust der Lebensqualität‹ zu schaffen. Herr Dr. Thieler wünschte natürlich diesen Tatbestand auf die
Verhältnisse der ehemaligen DDR anzuwenden. Aber wer will darüber urteilen? Bei
wem sollen sich die vielen Arbeitslosen und die de facto mit ›Berufsverbot‹
belegten Lehrer, Wissenschaftler und Staatsangestellten über den Verlust ihrer
Lebensqualität beklagen?
Ist
das Strafrecht nicht schon dehnbar genug? Wie leicht kann es z. B. einem
angetrunkenen Bürger passieren, dass er, bevor er auf dem Polizeirevier landet,
bereits ein halbes Dutzend Paragraphen verletzt hat, wie Widerstand gegen die
Polizei, Beamtenbeleidigung, Verleumdung des Staates.
Das
war nicht nur in der DDR so. Deshalb sind übersichtliche und für den Bürger
begreifbare Straftatbestände so wichtig. Wie aber will ich ›Verlust der
Lebensqualität‹ erfassen, zumal sie für jeden Bürger anders aussieht und wen
will ich dafür zur Verantwortung ziehen? Anders sieht die Sache schon aus, wenn
jemand tatsächlich einen Untersuchungshäftling oder einen Gefangenen misshandelt
hat. Ich kann mich zwar nicht für jeden einzelnen Fall verbürgen, dennoch muss
ich mich damit auseinandersetzen, weil es die gegenwärtige Praxis in den Medien
ist, dass alle Übergriffe, die z. B. in Haftanstalten, wie Rummelsburg
vorgekommen sein sollen und die nichts mit dem MfS zu tun haben, diesem zur
Last gelegt werden.
Dabei
ist das zwar eine bedauerliche, aber bekannte Tatsache, dass es z. B. in
amerikanischen, aber auch in deutschen Gefängnissen, manchmal von den
Gefangenen selbst provozierte Übergriffe der Gefängniswärter gibt. Ich weiß
nicht, in welchen Vorstellungen das Bürgerkomitee in Erfurt im Herbst 1989
befangen war, das sehr enttäuscht war, als es nach der Besetzung der
Bezirksverwaltung des MfS weder ›Tigerkäfige‹ noch Folterzellen fand.
Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass es vor 1989 in der Westpresse
kaum solche schrecklichen ›Stasi-Geschichten‹ gab. Dabei konnten Tausende von
Häftlingen nach ihrer Entlassung in die Bundesrepublik ausreisen und damit auch
erzählen, was sie in der Untersuchungshaft und im Strafvollzug erlebt hatten.«
Und
weiter mit Josef Schwarz: »Ich versuchte meinen Mitarbeitern stets zu erklären,
dass gerade die Untersuchungsabteilung eine Art offene Abteilung war, in die
viele Menschen Einblick hatten: die Staatsanwaltschaft, das Gericht, der
Verteidiger und schließlich der Beschuldigte selbst (und ich füge hinzu: dessen Angehörigen, Zeugen, Gutachter, und wenn es
sich um einen Bundesbürger handelte, auch noch die Vertretung der BRD – M. L.).
Was dort vorging, konnte letzten Endes der Öffentlichkeit nicht verborgen
bleiben. Also musste nach der StPO sauber und exakt gearbeitet werden. […] Jede
Aussage wurde protokolliert. Bei wichtigen Vernehmungen, insbesondere der
Erstvernehmung, wurden Schallaufzeichnungen angefertigt und der Beschuldigte
darüber informiert. Jeder Jurist der Strafrechtspraxis der ehemaligen DDR wird
bestätigen können, dass alle Verfahren unserer Untersuchungsabteilung
rechtsstaatlich bearbeitet und aussagefähig mit Einlassungen und Beweisen an
die Justizorgane gingen. […] Viele Veröffentlichungen, die heute dazu
erscheinen, sind tendenziös und auf politische Effekte ausgerichtet und sollen
die These vom ›Unrechtsstaat DDR‹ unterstützen.
Es
gab für diesen Bereich der Arbeit des Ministeriums nicht nur Gesetze,
Dienstanweisungen und Vorschriften, sondern auch Kontrollorgane, die über deren
Einhaltung wachten. Die Repressivfunktion spielte eine weit geringere Rolle und
beeinflusste das Leben in der DDR weit weniger, als heute dargestellt wird. Im
Gegenteil, das Leben war für die Bürger in der DDR – auch dank des MfS –
sicherer. Es gab keine Hakenkreuze an den Mauern, keine verwüsteten Friedhöfe,
keine Brandanschläge gegen Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstandes,
auch nicht solche brutale Kriminalität, die sich in bewaffneten Banküberfällen
u.dgl. äußert. Ja, das MfS diente der Erhaltung der Macht, aber auch die
bürgerlichen Staaten, wie die BRD, können (wollen) nicht ohne Geheimdienste
auskommen. Dabei darf man nicht übersehen, dass der Antikommunismus, neben dem
Antisemitismus, die zweite tragende Säule des Dritten Reiches, in die Kapitalismusideologie
ohne Abzug eingegangen ist. Ich kann da Erich Kuby, dem kritischen Beobachter
der Verhältnisse in der Bundesrepublik, nur zustimmen.«
Soweit
die Ausführungen von Joseph Schwarz.
Damit
ist die Problematik des Untersuchungsorgans des MfS gut umrissen. Wenn
diejenigen, die dem Untersuchungsorgan des MfS wider besseres Wissen oder in
tatsächlicher Unkenntnis Menschenrechtsverletzungen unterstellen, sich wirklich
Klarheit verschaffen möchten, sollten sie von der Gelegenheit Gebrauch machen,
in die Berichte und Referate der Dienstversammlungen der Hauptabteilung IX
Einblick zu nehmen. Sie könnten feststellen, dass gerade die Probleme der
strengen, ja nahezu peniblen Beachtung gesetzlicher Bestimmungen und Regelungen
unausgesetzt im Mittelpunkt von Versammlungen und Konferenzen standen. Auch in
meiner Diplomarbeit, die sich mit Besonderheiten der Kommunikation und der
Fragestellung in der Vernehmung beschäftigte, habe ich mich 1966 ausschließlich
mit rechtlichen Aspekten der Vernehmungstätigkeit beschäftigt, um
Gesetzeswidrigkeiten auszuschließen und dem Beschuldigten bezüglich des
Zustandekommens und der Wertung von Aussagen Rechtssicherheit zu gewähren. Um
diese Problematik vorerst abzuschließen: Nicht in einem einzigen Fall konnten
bei dem Versuch der juristischen Aufarbeitung von »DDR-Unrecht« nach der Wende
strafrechtsrelevante Verhaltensweisen von Mitarbeitern des Untersuchungsorgans
des MfS glaubhaft nachgewiesen werden. Und das trotz zweifelhaftem Einsatz und
bedenklicher Auslegung von Rechtsnormen durch die bundesdeutsche Justiz. So wurde beispielsweise versucht, die üblichen Hinweise eines
Untersuchungsführers an den Beschuldigten, dass wahrheitsgemäße Aussagen oder
ein Geständnis zu Strafminderung führt, als strafrechtlich relevante Nötigung
zu qualifizieren.
Als
ich an jenem 2. Januar 1959 mit meinen 28 Lebensjahren den anderen Mitarbeitern
als hoffnungsvoller Nachwuchs vorgestellt wurde, überblickte ich kaum, was es
im Detail mit dem Untersuchungsorgan auf sich hatte. Man wies mir ein
Arbeitszimmer und einen Mitarbeiter als Paten zu, dem ich in den ersten Wochen
bei seinen Untersuchungsarbeiten assistieren sollte, um mein Arbeitsgebiet
kennen zu lernen. Konkret hieß das zum Beispiel bei den Vernehmungen parallel
zu ihm zu protokollieren. Die Protokolle waren in Fragen und Antworten
untergliedert anzufertigen, wobei die Fragen entsprechend vernehmungstaktischer
Varianten möglichst in logischen Schritten zur Sachverhaltsaufklärung, zur
Klärung der Schuldfrage und der Beurteilung von Beweismitteln führen sollten.
Suggestiv- oder Ja-Nein-Fragen waren zu vermeiden und tatrelevante Details, die
allein nur der Täter wissen kann, durften nicht vorgehalten werden. Dass
Kenntnisse zum Strafrecht und -prozessrecht
anzueignen waren, versteht sich.
Zu
den Aufgaben eines Untersuchungsführers gehörte auch das Anfertigen eines
Schlussberichtes mit der rechtlichen Würdigung des erarbeiteten Sachverhaltes.
Neben den neuen Anforderungen kamen auch recht simple Dinge auf mich zu. So
hatte ich als Berufsoffizier kein Problem damit, in der Öffentlichkeit
unbefangen Uniform zu tragen und ging nun also auch in der neuen Position wie
gewohnt in Uniform zum Dienst. Nicht so die anderen Untersuchungsführer. Sie
bevorzugten für den Weg in die Dienststelle Zivil und zogen sich die Uniform
erst dort an. Zivilisten eben, denen das Uniformtragen unbequem oder zu
auffällig war. Dass ich dieser Gewohnheit nicht folgte, wurde mit etwas Ironie
honoriert und mir als Eitelkeit eines Militärs ausgelegt. Postwendend wurde ich
als Neuling für die Schießausbildung verantwortlich gemacht, schließlich würde
ich ja über eine professionelle militärische Ausbildung verfügen.
Im
Mittelpunkt meiner Aufgaben stand von nun an die Bearbeitung von
Ermittlungsverfahren. Soweit die Tatverdächtigen nicht auf frischer Tat
festgenommen wurden, woraufhin bei begründetem Tatverdacht ein
Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl beantragt werden konnten,
basierte die Mehrzahl der Ermittlungsverfahren auf den Ergebnissen einer meist
längeren operativen Bearbeitungsphase. Bei einem Verdacht auf Spionage zum
Beispiel wurde durch die zuständige Abteilung ein Operativer Vorgang eröffnet und
die verdächtige Person konspirativ beobachtet. Begründete sich der Tatverdacht,
kam der Vorgang zur Untersuchungsabteilung zur Prüfung strafrechtlicher
Relevanz, der Beweislage und so weiter. War der Tatverdacht dringend begründet,
die offiziellen Beweismittel ausreichend und standen operative Interessen dem
nicht entgegen, konnte ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl
erlassen werden.
Meist
wurde nach einer vorläufigen Festnahme (ein strafprozessualer Terminus nach §
125 StPO und bedeutete, dass spätestens am folgenden Tag über eine Verhaftung
oder Freilassung zu entscheiden ist) in einer Erstvernehmung in groben Zügen
der Tatverdacht geklärt. Bei nachfolgender Schilderung von
Ermittlungsverfahren, die mir noch erinnerlich sind, bleibt Gelegenheit, über
Details der Untersuchungsarbeit zu berichten, wobei ich mich hüten will, meine
Erinnerungen im Stile eines Fachbuchs zu schreiben.
Ich
will auch vorausschicken, dass meine zum Teil nüchterne Sachbeschreibung nicht
bedeutet, es hätte an Einfühlungsvermögen für die Situation der beschuldigten
Person fehlen können. Immer war mir bewusst, und da befand ich mich ausnahmslos
in Übereinstimmung mit anderen Untersuchungsführern, dass viele Straftäter im
Grunde genommen bedauernswerte Opfer der politischen Verhältnisse, der
negativen Einwirkung von westlicher Seite und des erbarmungslos geführten
Kalten Krieges geworden waren. Manchem Täter wäre es überhaupt nicht
eingefallen, gegen die DDR gerichtete Straftaten zu begehen, wenn er nicht von
westlicher Seite dazu ermuntert, aufgehetzt oder angestiftet worden wäre. Diese
menschlich-tragische Seite habe ich nie übersehen und dies dem Beschuldigten
oder dessen Angehörigen dort, wo es angebracht war, auch wissen lassen. Und ich
weiß, dass meine Vorgesetzten in aller Regel ebenso dachten und uns dazu
anhielten, die Zusammenhänge von Persönlichkeitsentwicklung, gesellschaftlichem
Umfeld und Ursachen der Tat erkennbar zu machen. Andererseits wurde ich aber
auch mit kriminellen Handlungen und Täterpersönlichkeiten konfrontiert, für die
ich kaum Verständnis aufbringen konnte.
Hier
ist kein Platz, jeden von mir bearbeiteten Vorgang zu schildern. Zum einen
würde es vielleicht ermüden, zum anderen hat mein Gedächtnis nach so vielen
Jahren nicht mehr alle Details parat. Versuchen möchte ich aber, einige
besonders interessante Verfahren und Erlebnisse zu beschreiben. Und sei es nur
darum, die gegenwärtig so oft propagierte Mär zu widerlegen, es wären lediglich
unschuldige politische Widerstandskämpfer oder so genannte »Abweichler«
verfolgt worden. Um diese Frage grundsätzlich zu beantworten, kann ich aus
meinem Wissen heraus in voller Überzeugung sagen, dass in den mir bekannten
Ermittlungsverfahren in jedem Fall die nachweisbare Verletzung konkret
formulierter Straftatbestände vorlagen, die in jedem Land strafrechtliche
Verfolgung nach sich gezogen hätten. Von keinem Beschuldigten wurde seinerzeit
ihre strafrechtliche Schuld in Frage gestellt.
Das
erste Ermittlungsverfahren, das ich zwar nicht von Anfang an bearbeitete aber
in das ich dann eigenverantwortlich mit einbezogen wurde und das ich auch abschließen
konnte, gehörte mit zu jenen Straftaten, die absolutes Unverständnis
hervorrufen und zugleich bezeichnend waren für die Schärfe der damaligen
politischen Auseinandersetzung. Das Tatmotiv bestätigte auch die Hinweise auf
die Verführbarkeit zu gesellschaftswidrigen Straftaten.
Wie
ich erst viel später erfuhr, hatte mein Jugendfreund Erich, der unterdessen ein
erfolgreicher Kriminalist geworden war, zu diesem Sachverhalt erste
Ermittlungshandlungen geführt. Straftäter waren zwei Brüder, die gemeinsam
ihren Großbauernhof bewirtschafteten. Es war die Zeit, in der es um die
Gründung Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften ging. Der Nachbar der
Brüder war in die LPG eingetreten. Um andere Bauern des Ortes vor diesem
Schritt abzuschrecken, streuten die Brüder dem Nachbarbauern Gift ins
Viehfutter – Kalk-Arsen, das man zur Bekämpfung von Kartoffelkäfern benutzte.
Einige Kühe gingen davon ein. Bei der Durchsuchung des Großbauernhofes wurden
nicht nur aus dem Krieg stammende Waffen und Munition sichergestellt, sondern
auch Flugblätter der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU),
in denen die Bauern zum Widerstand gegen die »bolschewistische Kollektivierung«
aufgehetzt wurden.
Dieser
erste Untersuchungsvorgang war für mich ziemlich lehrreich. Es ist sicher
leicht zu begreifen, dass es für die politische Grundüberzeugung sehr prägend
sein kann, wenn man nahezu tagtäglich die Umstände und Akteure gefährlicher
krimineller und geheimdienstlicher Angriffe vor Augen bekam.
Zu
meinen ersten Fällen gehörte auch die Bearbeitung einer Brandstiftung. Die
Kriminalpolizei hatte einen Täter ermittelt, der geständig war, vorsätzlich
einen Brauerei-Betriebsteil in Brand gesetzt zu haben. Da es sich um einen
Schwerpunktvorgang handelte, wurde das Verfahren der Untersuchungsabteilung des
MfS zur weiteren Bearbeitung übergeben. Der Täter hatte gestanden, es waren
aber noch die Motive und die Schuldfragen sowie eventuelle Mittäter festzustellen.
Ich
erhielt den Vorgang zur abschließenden Bearbeitung. Auf die Frage nach dem
Tatmotiv erklärte der Verdächtige, aus Protest über die Zusammenlegung von
mehreren Betrieben zu einem Kombinat und dem damit verbundenen Verlust des
traditionellen Firmennamens den Brand gelegt zu haben. Ich fand diese Erklärung
sei ziemlich weit hergeholt. Ich wusste noch nicht, dass gerade von
Brandstiftern die ausgefallensten Motive und Gründe genannt werden und bohrte
immer hartnäckiger nach einem einleuchtenden Tatmotiv. Entweder spürte der Mann
meine Unerfahrenheit und wusste um die dünne Beweislage oder er war tatsächlich
nicht der Täter – auf jedem Fall widerrief er plötzlich sein Geständnis.
Ich
war zu unerfahren, um auf diesen Widerruf vernehmungstaktisch richtig zu
reagieren, zum Beispiel das Täterwissen zu prüfen. Ich kann nicht behaupten,
dass ich mich damals als erfolgreicher Untersuchungsführer empfahl. Der Vorgang
wurde der Kriminalpolizei zurückgegeben – deren Mitarbeiter mit ihrem Spott
nicht hinter dem Berg hielten. Sie warfen mir sträfliche Leichtgläubigkeit vor.
Mein
unmittelbarer Vorgesetzter nahm es gelassen: »Da kannste
nichts machen. Vor einem Widerruf ist niemand gefeit. Vielleicht war er
wirklich nicht der Täter«, versuchte er zu trösten. Immerhin nahm ich die
Erkenntnis aus der Sache mit, dass es besser ist, einen Schuldigen, dem man die
Tat nicht nachweisen kann, ungestraft ziehen zu lassen, als einen Unschuldigen
zu verurteilen.
Auch
ein weiterer Fall sollte mich mit meinen gerade 28 Lebensjahren auf ganz andere
Weise auf die Probe stellen. Nicht ohne mitfühlendes Bedauern ging ich an die
Vernehmungen einer Person, die sich anonymer Morddrohungen schuldig gemacht
hatte. Es handelte sich um einen etwa sechzigjährigen Mann aus Plauen, der in
jungen Jahren in die Kommunistische Partei eingetreten war und nach 1945 der
SED angehörte. Er hatte in einem Textilbetrieb gearbeitet, ein ruhiger und
einfacher Mensch. Nun erhielten damals in Plauen Staats- und
Wirtschaftsfunktionäre aller Parteien anonyme Postkarten und Briefe, die
ziemlich massive und zugleich primitiv formulierte Morddrohungen enthielten,
etwa in der Art: »Du Schwein, du wirst aufgehängt, wenn es wieder andersherum
kommt« und so ähnlich.
Beunruhigend
waren diese Schreiben für die Adressaten, weil der Inhalt eigentlich auf NaziTäter schließen ließ. Wie überrascht war man, dass
jenes alte KPD- bzw. SED-Mitglied als Täter ermittelt wurde. Auch ich konnte es
beim ersten Kontakt mit dem Mann kaum fassen, dass ausgerechnet er diese Morddrohungen
geschickt haben sollte. Er war der Täter, die Schriftenvergleiche und sein
umfassendes Geständnis räumten jeden Zweifel aus. Warum in aller Welt kam ein
lebenserfahrener Mann, Parteimitglied, ein angesehener Arbeiter dazu, derartige
Morddrohungen zu schreiben? Das wollte ich von ihm wissen.
Er
erging sich in einer geradezu erbarmungslosen Selbstzerfleischung, dem Ausdruck
und Wortschatz nach ähnlich seinen schriftlichen Morddrohungen. »Ach, was bin
ich für ein dämlicher Hund, so was zu schreiben, das sind doch alles anständige
Leute, den ich solche Karten geschickt habe, ich habe das doch gar nicht so
gemeint, ich wollte denen bloß ein bissel Angst einjagen. Ich habe mich über
die Politik geärgert, ich bin nicht einverstanden mit der Vereinigung mit den
Sozialdemokraten, die jetzigen Funktionäre sind überhaupt keine richtigen
Kommunisten mehr. Wie soll ich das alles wieder gut machen, was ich angestellt
habe?«
Wenn
man von seiner Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Entwicklungen
beziehungsweise mit den Plauener Funktionären absah, gab es genau genommen
keinen einsichtigen Grund für seine Handlungen. Eine merkwürdige Geschichte.
Nicht ohne Kalkül versuchte er mir zu schmeicheln. Wenn er am Ende der
Vernehmung das Protokoll las, hielt er von Zeit zu Zeit inne und meinte: »Wie
geschickt Sie das aufgeschrieben haben – und genau so, wie ich es gesagt habe.
Ich würde das nicht bringen.«
Trotz
solcher Anbiederungsversuche und seines heuchlerischen Gehabens tat er mir im
Grunde genommen leid. Was hatte er als Mitglied der KPD nicht alles erlebt, wie
ergebnislos waren für ihn die Jahre in der Weimarer Zeit gewesen, von den
Verfolgungen in der Hitlerzeit gar nicht zu sprechen und nun hatte er mit
seinen verworrenen Ansichten sich selbst Schaden zugefügt.
Mit
der Schilderung des Verlaufs einer weiteren recht kuriosen, aber nicht
erfolglosen Vernehmung will ich meine Ausführungen zur Untersuchungstätigkeit
in Karl-Marx-Stadt beenden: Mir war das Ermittlungsverfahren zu einer Person
übergeben worden, die beim Versuch, die Staatsgrenze nach der CSSR illegal zu
übertreten, festgenommen wurde. Zuvor war es dem Mann noch gelungen, beim
Toilettengang seine Ausweispapiere zu beseitigen. Die ersten Vernehmungen hatte
ein erfahrener Untersuchungsführer vorgenommen. Der Verhaftete hatte zunächst
Aussagen zur Person verweigert, später jedoch ziemlich diffuse Angaben gemacht.
Letztlich erklärte er, als BRD-Bürger im niederländischen Raum gearbeitet zu
haben, von irgendeinem Geheimdienst zur Zusammenarbeit angesprochen worden zu
sein, der er sich nach formeller Zusage durch eine Flucht in die
Tschechoslowakei entziehen wollte. Man musste nicht besonders voreingenommen
sein, um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte anzuzweifeln. Warum vernichtete
er seine Personaldokumente und weshalb stellte er sich nicht den Behörden der
DDR, wenn er mit Geheimdiensten nichts zu tun haben wollte. Seine Aussagen zur
Person widerrief er wiederholt und verlieh sich immer wieder andere Namen.
Nach
der zweiten oder dritten Version legte er sich schließlich auf einen Namen
fest. Handfeste Straftaten konnten ihm nicht nachgewiesen werden. Es gab zwar
einen schwerwiegenden Verdacht, aber beweisen konnten wir zu diesem Zeitpunkt
im Grunde genommen nur Bagatellen. Auch die Haftgründe waren dünn. Also mussten
wir irgendwie zum Ende kommen. Ich sollte in einer abschließenden Vernehmung
nochmals den gesamten Komplex protokollieren. Als ich in der Vernehmung zum
Punkt des mehrfachen Namenswechsels kam und er seine letzte Version »alias«
nannte, erwiderte ich in Anspielung darauf nebenher: »Ja, vorläufig heißen Sie
noch so. Wie Sie in der nächsten Viertelstunde heißen werden, ist noch nicht
gewiss!«
Der
Zufall wollte es, dass ich in diesem Moment für mein Protokoll unauffällig
wegen irgendeiner Rechtschreib-Frage im Duden nachschlagen wollte. Für solche
Fälle lag das Wörterbuch, ein wenig verdeckt, stets im Schreibtischfach parat.
Der Beschuldigte interpretierte meinen unauffälligen Blick ins Schreibtischfach
vollkommen anders. Er nahm offenbar an, ich hätte irgendwelche ihn betreffenden
Ermittlungsergebnisse in der Schublade. Vermutlich befürchtete er, ein weiteres
Mal der Lüge überführt zu werden und wollte dem zuvorkommen.
»Also
gut, Sie wissen Bescheid, dann will ich die Wahrheit sagen, wie es war, aber im
Protokoll muss es so stehen, dass ich unaufgefordert ein Geständnis abgelegt
habe.« Darauf konnte ich mich einlassen. Er nannte mir
seinen richtigen (?) Namen, schilderte seine Anwerbung durch den
Bundesnachrichtendienst und seinen Auftrag als Kurier. Nun war damals mein
Wissen über die Praktiken der Geheimdienste, deren Dienststellen und
Arbeitsweisen noch gleich null. Unter diesen Umständen war es schwierig, den
allwissenden Vernehmer vorzutäuschen. Mir wurde ziemlich heiß. Da war ich also
drauf und dran, einen Spion zu entlarven, bei dem sich altgediente
Untersuchungsführer den Mund fusselig geredet hatten. Der Mann durfte auf
keinen Fall argwöhnen, wie unerfahren ich war.
Der
Mann war kein heuriger Hase. Würde er merken, dass er sich mir ohne Not
offenbarte? Womöglich würde er dann sein Geständnis noch während der Vernehmung
widerrufen. Ich verfiel auf folgenden Trick: »Sie möchten also den Staatsanwalt
davon überzeugen, von sich aus ein Geständnis abgelegt zu haben. Einverstanden,
dann erzählen Sie, ich werde Sie nicht unterbrechen, egal, ob Sie die Wahrheit
sagen oder nicht!«
Damit
war ich fein heraus. Ich brauchte nur noch bei bestimmten Passagen die
Augenbrauen hochzuziehen, die Stirn gewichtig zu runzeln und alles korrekt
aufzuschreiben. Dennoch war ich erleichtert, als die Vernehmung beendet wurde
und ich meinen Referatsleiter informieren konnte.
Dieser
Vorfall zeigte, dass es an der Zeit war, mir fundierte theoretische Kenntnisse
der Untersuchungsarbeit anzueignen. Von September 1959 an nahm ich an einen
dreimonatigen Lehrgang für Untersuchungsführer teil, der von der Hauptabteilung
Untersuchung organisiert und von erfahrenen Praktikern, Juristen, Kriminalisten
und Kriminaltechnikern geleitet wurde.
Zum
Umfang und Inhalt des gebotenen Lehrstoffs gibt es nichts Sensationelles zu
berichten. Wieder eröffneten sich mir gänzlich neue Wissensbereiche: Grundlagen
des Strafprozessrechts und der Strafrechtslehre, kriminalistische
Grundkenntnisse, Beweissicherungsmaßnahmen, erkennungsdienstliche Arbeit,
Tatortarbeit, Umfang und Grenzen kriminaltechnischer Untersuchungen sowie
vernehmungstaktischer und politisch-operativer Aspekte. Der Lehrgang sollte
aber Folgen haben, die mir so nicht unbedingt gefielen.
Die
Kursanten kamen aus verschiedenen Bezirken, auch aus Berlin war einer dabei.
Der Berliner gehörte zu einer Abteilung, die für die Bearbeitung von
Militärstraftaten und strafbaren Handlungen gegen militärische Objekte und
Personen zuständig war. Irgendwann erzählte ich ihm von meiner früheren Zeit als
Armeeoffizier. Von diesem Moment an versuchte er mich davon zu überzeugen, dass
mein Platz in Berlin, bei seiner Abteilung sei: »Wir bearbeiten
Militärverbrechen. Du kennst dich mit militärischen Einheiten und Strukturen
bestens aus. Ich werde mit meinem Chef reden, der kann dich nach Berlin holen.«
Meine
Antwort: »Mach keinen Quatsch. Was will ich in Berlin, ich bin unerfahren in
der Untersuchungsarbeit? Lasst mich erst vertrauter werden mit dieser
Problematik. Ich gehe nicht nach Berlin, kommt nicht in Frage!«
Mein
Berliner guckte mich etwas spöttisch an.
Berlin
war für mich nicht nur ganz weit weg und eine fremde große Stadt. Dort war die
Zentrale des Ministeriums, etwas für erfahrene Könner auf ihrem Gebiet. Ich sah
mich schon in der Fremde herumirren und wegen erwiesener Unfähigkeit einem
ungewissen Schicksal entgegengehen. Nie strotzte ich vor Selbstbewusstsein, war
dünnhäutig und bei jeder neuen Aufgabe vom Zweifel zerrissen, ob ich ihr
gewachsen wäre. Außerdem brauche ich zum Wohlfühlen meine Familie. Nur sie
bietet mir jenen Ruhepunkt, aus dem ich meine Leistungsfähigkeit gewinne. So
sehr es mir gefallen hatte beim Lehrgang viel Neues zu lernen, so skeptisch
stand ich dem Angebot gegenüber, nach Berlin zu wechseln.
Mitte
Dezember 1959 ging der Lehrgang zu Ende. Zurück im Dienst wurde ich tatsächlich
zu einem Gespräch in die Kaderabteilung bestellt: »Wie denken Sie über eine
Versetzung nach Berlin, Hauptabteilung Untersuchung, Abteilung 6?«
Der
Sachbearbeiter strahlte, als hätte ich einen Hauptgewinn gezogen. Nein, ich
wollte trotzdem nicht nach Berlin und führte eine umfangreiche Liste
stichhaltiger Gegenargumente an. Ich zog alle Register, erklärte, dass ich mich
der Aufgabe nicht gewachsen fühle, mich mit der Familie in Karl-Marx-Stadt gut
eingelebt hätte, unser ältester Sohn bereits für den Schulbesuch angemeldet sei
und Achim, der jüngere, sich eines Hüftschaden wegen in besonderer ärztlicher
Betreuung befinde und überhaupt wolle ich mich nicht von meiner Familie
trennen. Alles umsonst. Auf jedes Argument reagierte der Mann mit der
emotionslosen Gelassenheit eines Gebrauchtwarenhändlers: »Berlin ist für deine
Entwicklung eine große Sache. Übrigens hast auch du unterschrieben, dass du
bereit bist, an jedem Ort der Republik deinen Dienst zu verrichten! Und jetzt
wirst du in Berlin gebraucht! Wir kommandieren dich erst einmal, wirst sehen, es gefällt dir. Und wenn du dann versetzt bist,
holst du deine Familie nach.«
So
war das nun. Wir hatten uns mit der neuen Situation anzufreunden. Weihnachten
feierten wir mit den Kindern und der Mutter meiner Ehefrau so wie jedes Jahr
besinnlich und in Harmonie. Es waren wie immer Tage einer besonderen familiären
Nähe und Wärme und ruhiger Festlichkeit, die durch die ungekünstelte Freude der
Kinder ihren Wert erfährt. Aber trotzdem war dieses Mal die Stimmung durch die
bevorstehende Versetzung gedrückt.
Wenn
ich bedenke, mit welchen finanziellen, materiellen und anderweitigen Vorteilen
Bundesbeamte nach der »Wiedervereinigung« in den Osten gelockt wurden – man sprach
ganz offiziell von einer »Buschzulage« – und dass so genannten »Staatsnahen«
der DDR in geheuchelter Entrüstung und fetter Überzeichnung besondere
Privilegien angedichtet wurden, kann ich nur mit großer Beherrschung gemäßigte
Ausdrücke dafür finden.
Am
Montag, dem 11. Januar 1960, fuhr ich mit dem Frühzug nach Berlin und meldete
mich mit meinem Dienstauftrag in der Kaderabteilung »im Haus«. So nannte man
allgemein unter uns den Sitz des Ministeriums in Berlin-Lichtenberg,
Normannenstraße. Seinerzeit bestand das Objekt einschließlich des
Ministerbereiches noch aus einem überschaubaren Gebäudekomplex. Später, im Ergebnis
der ausufernden Sicherheitspolitik und um sich greifenden Sicherheitsneurosen
der MfS-Führung war alles überdimensioniert.
Die
Kaderabteilung war nur mein Anlaufpunkt, von dem aus ich zu meinem künftigen
Arbeitsbereich, zur Untersuchungsabteilung der Hauptabteilung IX/6 gelangte.
Das Dienstobjekt befand sich direkt gegenüber dem Ministerium zwischen der Magdalenenstraße und der Alfredstraße. Dazu gehörten die
Untersuchungshaftanstalt (UHA), ein kleiner Küchentrakt und der Vernehmerkomplex, also die Diensträume der Vernehmer und
der Leitung der Abteilung, im Dienst-Deutsch von uns verkürzt IX/6 genannt.
Insgesamt, mit dem Sekretariat und den Schreibkräften zusammen waren es
vielleicht 25 Mitarbeiter, aufgeteilt in drei Referate.
Während
der Zeit des Hitlerfaschismus diente diese Haftanstalt als Jugendgefängnis, in
das Erich Honecker im Frühjahr 1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg verlegt worden
war. Am 6. März 1945 gelang ihm, gemeinsam mit Erich Hanke, die Flucht.
Honecker, bis 1989 Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR,
war am 8. Juni 1937 vom 2. Senat des »Volksgerichtshofes« zu zehn Jahren
Zuchthaus verurteilt worden.
Der
Zugang zur UHA beziehungsweise den Arbeitsräumen meiner neuen Diensteinheit
befand sich in der Magdalenenstraße und führte über
einen großen Hof zum Gebäudekomplex längs der Alfredstraße. Wie es sich für
derartige Einrichtungen gehört, waren die Fenster vergittert und die
vergitterten Türen zweimal verschlossen. Der Vernehmerbau
war mit der UHA mit einem Durchgang verbunden. Zum sogenannten Zellenbau hatten
wir Untersuchungsführer keinen Zugang.
Einige
Verwahrräume, so die korrekte Bezeichnung für eine Zelle, waren von weiblichen
und männlichen Strafvollzugsgefangenen belegt, die in der Kaffeeküche
arbeiteten beziehungsweise die anfallenden Instandhaltungsarbeiten ausführten.
Der Vollzug ihrer Strafe regelte sich hier meinen Wahrnehmungen zufolge nach
einem sicherlich weniger strengen Reglement als in den eigentlichen
Strafvollzugseinrichtungen. Sie konnten sich ihre Verwahrräume, in bestimmten
Grenzen, nach persönlichen Wünschen mit Pflanzen, Rundfunk- und Fernsehgeräten
einrichten. Häufig wurden die Arbeitspausen zum Tischtennisspiel im Hof
genutzt.
Als
ich nun im Januar 1960 in Begleitung eines Postens zum ersten Mal über den Hof
zum Vernehmergebäude geleitet wurde und dann vor dem
Schreibtisch meines künftigen Chefs stand, ahnte ich nicht, dass ich von nun an
mehr als zwanzig Jahre meines Lebens hier und damit quasi hinter Gittern
zubringen würde. An dieser Stelle sei eine kleine Bemerkung dazu gestattet: Der
Untersuchungsführer wurde tagtäglich und hautnah mit negativen
Erscheinungsformen menschlichen Verhaltens konfrontiert, mit
Rechtsverletzungen, Ignoranz allgemeingültiger Normen und Regeln des
Zusammenlebens, rücksichtslosem Verhalten, Egoismus, Unredlichkeit,
Charakterlosigkeit bis hin zu Brutalität und Verrat. Das setzt für den
Untersuchungsführer Selbstbeherrschung, Nachsicht, charakterliche Festigkeit,
aber auch Urteilsfähigkeit voraus.
Die
Begrüßung des Abteilungsleiters war kurz und hinterließ keinen nachhaltigen
Eindruck. Beunruhigend war die Ankündigung, dass ich zunächst nur drei bis vier
Ermittlungsvorgänge übernehmen soll, bis ich Erfahrungen gesammelt und mich
eingearbeitet habe. Mein scheuer Einwand, bisher überhaupt noch keinen
Untersuchungsvorgang von der Einleitung des Verfahrens bis zur Übergabe an den
Staatsanwalt in eigener Verantwortung bearbeitet zu haben, wurde mit der
stereotypen Erwiderung, »das schaffen wir schon, Sie werden sich schon
einarbeiten« vom Tisch gewischt.
Ich
war deprimiert. Mir würde, so mein von unerschütterlichem Optimismus
strotzender Chef, ein erfahrener Untersuchungsführer zur Seite gestellt, von
dem ich jede Hilfe erhalte sollte. Damit war meine erste Audienz beim Leiter
der Untersuchungsabteilung für Militärstraftaten beendet. Es steht mir nicht
an, meine Vorgesetzten zu beurteilen, dennoch einige Bemerkungen aus meiner
Sicht, andere mögen abweichende Auffassungen haben. Mein Chef war ein
Arbeitsmensch von gradliniger Korrektheit. Für ihn gab es keinen regulären
Dienstschluss und er erwartete von seinen Mitarbeitern mit der größten
Selbstverständlichkeit den gleichen Einsatz. Ansonsten will ich für mich
feststellen, dass er zwar den Eindruck eines herben, strengen Vorgesetzten
machte, tatsächlich eher eine mitfühlende, gerechte Autorität war, die ihre
Meinung auch korrigieren konnte. Jahre später, als ich auch privat mit ihm
verkehrte, fiel mir sein herzlicher Umgang im Kreis der Familie auf.
Noch
vor meiner Zeit in der Abteilung, wurde von einem Untersuchungsgefangenen auf
ihn ein Mordversuch unternommen. Der Häftling hatte sich aus der Blechabdeckung
des Heizkörpers seiner Zelle eine Waffe gefertigt. Als er an einem Wochenende
vorgeführt wurde, um ein Protokoll zu unterschreiben, versteckte er die unter
der Kleidung. In einem Moment der Unaufmerksamkeit schlug der Gefangene, der
eine Sicherheitslücke seit langem beobachtete, meinen Leiter nieder und
versuchte sich der bei ihm vermuteten Pistole zu bemächtigen. Entsprechend der
Vorschrift hatte er jedoch keine Waffe dabei.
Mit
Hilfe eines im Hause befindlichen Mitarbeiters, der auf den Tumult aufmerksam
geworden war, konnte der Häftling schließlich überwältigt werden.
Zurück
aber zu meiner eigenen Situation im Januar 1960. In Berlin wies man mir in
einem Biesdorfer Ledigenheim eine Unterkunft mit Gemeinschaftsküche zu. Für
mich stand fest: Jedes Wochenende wird nach Hause gefahren und ein Antrag für
baldmögliche Wohnungszuweisung gestellt. Bekomme ich nicht bald eine Wohnung,
dringe ich auf meine Rückversetzung. Dies tat ich auch meinen neuen
Arbeitskollegen ohne Umschweife kund und konnte darauf vertrauen, dass die
Leitung davon erfuhr! Mit einigem Unmut nahm man zur Kenntnis, dass ich
freitags nach dem Dienst nicht mehr ansprechbar war, sondern zur Familie fuhr.
Tatsächlich wurde mir bald eine Wohnung in einem Zweifamilienhaus in
Hohenschönhausen angeboten. Mit dieser Botschaft, samt den Aufmaßen der Zimmer
und Fenster löste ich bei meiner nächsten Heimfahrt große Freude aus.
Leider
hieß es dann schon wenige Tage später in Berlin, dass daraus nichts würde. Mir
war klar, dass die Hauptabteilung viele Wohnungssuchende hatte und dass ich
Neuling in der Warteschlange nicht an erster Stelle stehen konnte. »Aber ich
habe für dich schon eine andere, wirst staunen, im Sperrgebiet in Karlshorst, Willi Stoph und andere große Chefs wohnen dort.«
Der
Wohnungsverantwortliche tat so, als hätte er eigens meinetwegen die »großen
Chefs« dort angesiedelt. In Berlin-Karlshorst war ein
Wohnviertel südlich des Tierparks zwischen der Treskowallee,
der Stolzenfelsstraße und der Köpenicker Allee zum
Sperrgebiet der sowjetischen Kommandantur und Verwaltung in Deutschland erklärt
und eingezäunt worden. Man konnte es nur mit Sonderausweis oder
Sondergenehmigung betreten. Dort befand sich auch das Kapitulations-Museum,
einst die Pionierschule der deutschen Wehrmacht, in der Marschall Shukow am 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation
Deutschlands vom Oberkommando der Wehrmacht, vertreten durch
Generalfeldmarschall Keitel, entgegennahm.
In
dieses Sperrgebiet zogen wir im Februar 1960 in eine Wohnung mit drei großen,
über drei Meter hohen Räumen ein. Es handelte sich um eine Altbauwohnung mit
Ofenheizung, fensterlosem Bad und sonstigen Mängeln, die einen hohen
Pflegeaufwand erforderte. Nicht schlecht, aber keineswegs komfortabel und schon
gar nicht privilegiert. Aber ruhig lebte es sich in diesem Gebiet mit einem
Park und Geschäften, die von sowjetischem Personal geführt wurden. In den
Häusern wohnten vorwiegend sowjetische Offiziere mit ihren Familien. Man grüßte
die Nachbarn, aber es entstanden keine näheren Kontakte.
Karlshorst war damals eine vorzügliche
Wohnlage mit besten Anschlüssen an die öffentlichen Verkehrsmittel. Die
Trabrennbahn, der Tierpark und ein Kreiskulturhaus, zahlreiche Gaststätten und Cafes boten gute Bedingungen für die meist sehr knapp
bemessene Freizeit und die wunderbaren Ausflugsgebiete in Erkner oder zum
Müggelsee zum Beispiel waren schnell erreichbar. Unsere Kinder verlebten in der
Karlshorster Drachenfelsstraße eine gute und behütete
Kindheit. Wir blieben dort fast siebzehn Jahre lang, bis wir im Dezember 1976
in Hohenschönhausen unsere erste Berliner Neubauwohnung bezogen.
Von
Karl-Marx-Stadt her war ich es gewohnt, mich an so manchem Wochenende an
freiwilligen Arbeitseinsätzen im Nationalen Aufbauwerk (NAW) zu beteiligen. So
wie vielen anderen Bürgern lag mir daran, die Trümmer zu beseitigen, die der
Krieg hinterlassen hatte. Anders als durch eine massenhafte Initiative der
Menschen wäre wohl der Wiederaufbau der zerstörten Städte nicht denkbar
gewesen. Ich hatte gesunde Hände und erkundigte mich in Karlshorst,
wo man Aufbaustunden leisten könne. Man schickte mich zum Tierpark. Komme ich
heute am »Bärenschaufenster« vorbei, so erinnere ich mich der vielen
Wochenenden, die ich dort beim Schippen verbrachte, um Platz für das
Eisbärenfreigehege zu schaffen.
In
meinem neuen Tätigkeitsbereich, der Hauptabteilung IX/6 arbeite ich mich trotz
mancher Zweifel und Bedenken bald ein. Nach einer gewissen Gewöhnungszeit war
ich ein verlässliches und daher akzeptiertes Mitglied des Arbeitskollektivs. Es
bestand unter uns ein ausnehmend gutes, kameradschaftliches Verhältnis mit
teilweise freundschaftlichen Beziehungen. Nicht ganz problemlos gestalteten
sich die Verhältnisse zu einigen Vorgesetzten und Leitungsmitgliedern. Gewisse
Reibungsflächen mag mein Charakter geboten haben.
Andererseits
scheint es ein Attribut ehrgeiziger oder unsicherer Vorgesetzter zu sein, den
Mitarbeitern besonders durch ihr Misstrauen und ihre Pedanterie Wissen und
Anspruchsniveau vermitteln zu wollen. Welche reiche Ernte an gutem Willen und
Einsatzfreude hätte mein damaliger Referatsleiter in die Scheuer eines
erfolgreichen Vorgesetzten einfahren können, wenn er begriffen hätte, dass ich
zwar in der Untersuchungsarbeit unerfahren war, aber mit meinen fast 30
Lebensjahren (davon neun NVA-Dienstjahren) kein Objekt seiner
Profilierungssucht sein wollte. Stattdessen bauten sich gegenseitig Aversionen
auf. So kam es, wie es in solchen Fällen kommen musste, unser Verhältnis
kulminierte in einer heftigen, dann allerdings die Atmosphäre reinigenden Auseinandersetzung.
Mein Referatsleiter hatte offenbar »Verbündete« gefunden.
Eines
Tages hörte ich zufällig, wie er mich einem anderen Leitungsmitglied gegenüber
schnoddrig, überheblich als seinen »speziellen Freund« bezeichnete. Zuvor hatte
ich von ihm eine Rüge erhalten, weil ich meinen Papierkorb nicht im
Panzerschrank, sondern im verschlossenen Schreibtisch untergebracht hatte. Das
war vorschriftswidrig, was mir aber niemand erklärt hatte. Ich glaubte, im
versiegelten Schrankfach sei der Papierkorb mit seinem Inhalt sicher genug
aufbewahrt.
Nun
musste ich eine schriftliche Stellungnahme mit einer selbstkritischen
Einschätzung zur »vernachlässigten Wachsamkeit« abgeben. Sie erschien dem
Referatsleiter nicht selbstkritisch genug und er wollte sie in dieser Fassung
nicht entgegennehmen. Ich hingegen weigerte mich kategorisch, den Text nach
seinen Vorstellungen umzuformulieren. Sollte die Leitung mit meiner
Stellungnahme nicht einverstanden sein, so ließ ich wissen, dann wollte ich zum
Rapport beim Hauptabteilungsleiter angemeldet werden. Ich würde dort mündlich
über den Vorfall berichten. So einfach wollte man es dem aufsässigen neuen
Mitarbeiter nicht machen. Also wurde ich zu einer Aussprache vor der
Abteilungsleitung geladen, dazu kamen alle Referatsleiter und der
Parteisekretär. Rein arithmetisch stand es also vor Beginn des Tribunals 1:8
gegen mich.
Mein
Referatsleiter informierte die Versammelten von meinen Missetaten. Aus der
Runde kamen daraufhin nur einige spärliche, leidenschaftslose Beiträge. Alle
hielten sich zurück, das sprach eigentlich für mich. Ich meldete mich nicht zu
Wort. Das wurde vom stellvertretenden Leiter mit wachsendem Unmut registriert.
Was das denn für ein Verhalten sei, an meiner Person würde Kritik geübt, ich
würde mich nicht dazu äußern, wolle hingegen mit dem Hauptabteilungsleiter
sprechen und so weiter. Sein Ton wurde schärfer und zugleich unsachlich. Ich
sei überheblich, vielleicht wäre ich zu Höherem geboren und würde mich an der
jetzigen Stelle nicht ausgefüllt sehen, dann müsste ich Minister werden oder in
eine andere höhere Position aufrücken. Die Runde empfand diesen Sarkasmus wohl
als der Situation völlig unangemessen, ich spürte förmlich, wie die Stimmung zu
meinen Gunsten umschlug. Nun machte ich das, wozu ich aufgefordert worden war,
ich bezog Stellung und zwar sehr ausführlich. Zudem hatte ich ja noch einen
Trumpf im Ärmel: »Warum sollte ich mich eigentlich zu den Vorhaltungen äußern,
wenn ich weiß, dass ich auf eine Wand von Voreingenommenheit mir gegenüber
stoße?«
Verdutztes
Staunen.
»Was
habe ich von einem Vorgesetzten zu halten, der mich an die Aufgaben
verantwortungsvoll heranführen soll, der von mir alle Tugenden verlangt und
vortäuscht, um meine Entwicklung besorgt zu sein, mich aber im Arbeitskollektiv
abfällig als seinen ›speziellen Freund‹ bezeichnet! Als ich nach Berlin
versetzt wurde, habe ich mir nicht vorstellen können, dass ich hier hinter
meinem Rücken von Vorgesetzten derartig lächerlich gemacht und herabsetzend
beurteilt werden würde. Anstatt mir die Einarbeitungsphase und das Einleben in
das Kollektiv zu erleichtern, gibt der verantwortliche Vorgesetzte negative
Signale.«
So
ungefähr die Einleitung zu meiner Erwiderung. Was ich im Weiteren vorbringen
konnte, war nicht zu widerlegen. Ich kritisierte, dass sich kaum ein
Vorgesetzter ernstlich dafür interessierte, welchen fachlichen Problemen ich in
Berlin gegenüberstand. Auch dass man vorwiegend überheblich im Ton und
unsachlich im Inhalt mit mir verfuhr. »Und« – so schloss ich meine Ausführungen
– »die heutige Dienstversammlung ist offensichtlich die logische Fortsetzung
dieses kränkenden Umganges mit mir!«
Ich
konnte mir nicht verkneifen zu sagen, dass ich nicht auf eigenen Wunsch nach
Berlin kam und dass mir der Abteilungsleiter bei der Begrüßung Verständnis und
Hilfe zugesichert hatte.
In
der anschließenden Diskussion waren die Wortmeldungen für mich positiv,
bestätigten ausdrücklich, dass bei mir keine Spur von Überheblichkeit zu
erkennen sei und dass die Mitarbeiter der Abteilung die Position meines Referatsleiters
nicht teilten. Letzten Endes ging ich aus diesem Zusammenstoß vollkommen
rehabilitiert hervor. Guten Gewissens kann ich sagen, dass ich von diesem Tag
an nicht nur vollkommen gleichberechtigt zum Kollektiv gehörte, sondern mir
einen festen, geachteten Platz erwarb.
Ich
habe diese Geschichte etwas detaillierter geschildert, als es ihrer Banalität
wegen nötig gewesen wäre. Ich wollte eine Erscheinung, die wohl auch in anderen
Arbeitsbereichen zu finden wäre, weder dramatisieren noch mich selbst ins
Blickfeld rücken, sondern ein wenig in den Dienstbetrieb hineinleuchten, um
darauf zu verweisen, dass es dort, wohin ich versetzt worden war, »ganz normal«
zuging. Ist man im Recht, sollte man sich zur Wehr setzen und das war auch dort
möglich, wo militärische Regeln, Normen und Gewohnheiten den Dienstablauf
bestimmten. Schließlich ist es auch eine Frage, zu welchen Einsichten die
»Kontrahenten« fähig sind und welche Grundregeln das Leben im Kollektiv
bestimmen. Und die waren bei uns in Ordnung.
Die
in meiner Abteilung zu bearbeitenden Ermittlungsverfahren betrafen im
Wesentlichen Militärstraftaten oder Straftaten, die von Militärpersonen
begangen wurden. Das konnten also auch Tötungsverbrechen, Gewalttätigkeiten,
schwere Eigentums- und Betrugsdelikte wie überhaupt Tatbestände des
Strafgesetzbuches der DDR sein. Militärstraftaten waren in dessen 9. Kapitel
unter § 251 beschrieben. Dort heißt es:
»(1)
Militärstraftaten sind von Militärpersonen schuldhaft begangene
gesellschaftswidrige oder gesellschaftsgefährliche Handlungen, die als Vergehen
oder Verbrechen strafrechtliche Verantwortlichkeit nach den Bestimmungen dieses
Kapitels begründen.
(2)
Militärperson im Sinne des Gesetzes ist, wer aktiven Wehrdienst,
Wehrersatzdienst oder Reservistenwehrdienst leistet.
(3)
Wegen Anstiftung und Beihilfe zu einer Militärstraftat wird auch bestraft, wer
nicht Militärperson ist.
(4)
Die Bestimmungen dieses Kapitels gelten auch für Straftaten, die sich gegen die
Armeen der verbündeten Staaten richten.«
Wer
Gesetzestexte zu lesen hat, der wird die klare, auch für Nichtjuristen
verständliche Formulierung erkennen. Ich will auch hier über einige mir noch erinnerliche Untersuchungsvorgänge berichten. Wer willens
und fähig ist, jene Zeiten der politischen Systemauseinandersetzungen nicht
einseitig zu beurteilen, wird die strafrechtliche Relevanz bestimmter
Handlungen, die in der Phase der deutschen Spaltung begangen wurden, nicht
bestreiten können. Spionage, Desertion (Fahnenflucht), Waffen- oder Tötungsdelikte
können doch wohl nicht deshalb zu straffreien Widerstandshandlungen mutieren,
nur weil »lediglich« die Sicherheit der DDR das angegriffene Objekt war!
Wir
hatten es damals, eingangs der sechziger Jahre, vielfach mit dem Tatbestand der
Fahnenflucht zu tun. Bevor ich auf konkrete Ermittlungsverfahren eingehe, ein
Wort zu dem Weg, den geflüchtete NVA-Angehörige nahmen. Bis zum 13. August 1961
setzten sich potentielle Fahnenflüchtige einfach in die S-Bahn und fuhren für
zwanzig Pfennige nach Westberlin. Viele der Geflüchteten kehrten jedoch bis zur
Schließung der Staatsgrenze trotz der zu erwartenden Strafe wieder in die DDR
zurück. Sie fanden zur BRD-Gesellschaft einfach keine ausreichende Bindung.
Andererseits
nahm damals die Zahl der Deserteure eher zu als dass sie geringer wurde. Die
Verlockungen des wirtschaftlich erdrückend starken Westdeutschlands waren für
viele, denen das spartanisch reglementierte Soldatenleben lästig erschien, zu
anziehend und leicht erreichbar. Auch andere Fluchtgründe spielten eine Rolle,
wie untreue Freundinnen und Ehefrauen, Ärger und Auseinandersetzungen in der
Familie, Alimente-Forderungen oder Flucht vor der Verantwortung für anderweitig
begangene Straftaten. Hingegen traf ich niemanden, der ausschließlich eines
gravierenden Demokratie- oder Freiheitsdefizites wegen in die BRD desertiert
sein wollte. Bei manchen mag das eine Rolle mit gespielt
haben, aber man nannte es nie als das zentrale Motiv.
Was
erwartete einen Fahnenflüchtigen der NVA in der Bundesrepublik? Ganz gleich, wo
sich ein Deserteur in Westberlin oder Westdeutschland meldete – meist bei einem
Polizei- oder Grenzposten, aber auch dann, wenn er bei Verwandten eintraf – er
wurde in das für den Grenzübertritt zuständige Flüchtlingslager verwiesen, wo
er ein so genanntes »Notaufnahmeverfahren« durchlief. Es ging in der Regel um
die Anerkennung als »Politischer Flüchtling«. In Westberlin befand sich das
»Notaufnahmelager« in Marienfelde, in Westdeutschland gab es solche
Einrichtungen z. B. in Uelzen, Gießen, Sandbostel und
Unna. In den Lagern befanden sich Sichtungsstellen des US-amerikanischen,
englischen und französischen sowie des bundesdeutschen Geheimdienstes.
Ausnahmslos und in der genannten Reihenfolge mussten die Deserteure (auch
Zivilpersonen, falls von denen besondere Informationen erhofft wurden) diese
Sichtungsstellen durchlaufen. Es mag verwundern, dass die westdeutschen Dienste
zuletzt »dran« waren, nachdem die ausländischen Geheimdienste ihre
Informationen abgeschöpft hatten, aber es kennzeichnete die damalige Position der
westdeutschen Dienste.
In
der aufgeregten Vereinigungsphase nach 1989, wo es vorzugsweise um die
Diskriminierung der DDR und ihrer Institutionen ging, konnte man sich mit
ungebremster Hingabe gar nicht genüsslich genug über die »Überwachung und
Bespitzelung« durch das MfS auslassen. Jede Abwehrmaßnahme gegen ausländische
Geheimdienste wurde und wird als üble Schikane der DDR-Sicherheitsorgane
verunglimpft. Ein IM, ein inoffizieller Mitarbeiter des MfS, ist nach wie vor
mit das Übelste, was die Medien der armen Volksseele
vorwerfen. In diesem blinden Eifer interessierte die zehntausendfach
praktizierte, lückenlose Abschöpfung westlicher Geheimdienste bei geflüchteten
und desertierten DDR-Bürgern schlichtweg niemanden. Die Frage sollte schon
erlaubt sein, wer die fremden Geheimdienste legitimierte, DDR-Bürger als
nachrichtendienstliche Quellen zu nutzen. Um die Dinge beim Namen zu nennen: Da
wurde nicht nur nach Waffen und Ausrüstung und militärischen Standorten
gefragt. Der Fragespiegel der Geheimdienste enthielt auch Fragen zu ganz
persönlichen Angelegenheiten, wie zum Beispiel nach der beruflichen Situation,
der Parteizugehörigkeit und der politischen Gesinnung nächster Freunde und
Angehörigen.
Aber
zurück zum weiteren Ablauf der »Befragungen«. Je nach Kenntnisstand des
Deserteurs, der Bedeutung seiner ehemaligen Dienststelle und entsprechend
seines Dienstgrades und Dienststellung folgte auf eine Überblicksbefragung in
den Sichtungsstellen seine Weiterleitung zu den außerhalb des Flüchtlingslagers
gelegenen Geheimdienststellen. US-Geheimdienststellen befanden sich in
Westberlin unter anderem in der Podbielski-Allee
sowie in der Clay-Allee. Die Befragungen in solchen Dienststellen konnten sich
tagelang hinziehen. Als Belohnung gab es Zigaretten und Geld. Waren die Angaben
ergiebig, kam es auch vor, dass der »betreuende« Geheimdienstmitarbeiter mit
dem Deserteur ein Warenhaus aufsuchte und ihn einkleiden ließ. Personen,
Offiziere oder Unterführer, von denen man sich besonders wichtige oder
umfangreiche Angaben erhoffte, wurden, ohne das Aufnahmeverfahren
abzuschließen, in das Hauptquartier des US-Geheimdienstes CIA in Deutschland
»Camp King« nach Oberursel ausgeflogen. Dort erfolgten wochenlange Befragungen
und auch Anwerbungen für geheimdienstliche Zusammenarbeit. Auch in anderen
westdeutschen Städten, wie München, Nürnberg, Frankfurt, fanden derartige
Befragungen statt.
Waren
die Befragungen – man kommt der Wahrheit näher, wenn diese Tätigkeit als das
bezeichnet wird, was sie in der Tat auch war, als Beschaffung von
Spionageinformationen – beim US-Geheimdienst in Westberlin zu Ende, wurde die
Prozedur in der englischen (Am Olympiastadion) und dann in der französischen
Geheimdienststelle (Quartier Napoleon) fortgesetzt. Jedoch war das Interesse
der beiden letztgenannten Geheimdienste nicht so lebhaft. Unverständlich war
eigentlich, dass diese Befragungen, wenn auch nicht mehr so intensiv, in jedem
weiteren Lager, in das der Deserteur noch gelangte, fortgesetzt wurden. Es kam
auch vor, dass der Betreffende erneut zu Befragungsdienststellen bestellt
wurde, wenn er bereits einen festen Wohnsitz hatte.
Seit
den 60er Jahren wurde eigens zur Betreuung geflüchteter NVA-Angehöriger und
Grenzer eine von Geheimdiensten kontrollierte Organisation geschaffen, die den
unverfänglichen Namen »Deutsche Gesellschaft für Sozialbeziehung e. V.«, Duisdorf bei Bonn, trug. Als Begrüßungsgeschenk
erhielten die Ankömmlinge einen Shell-Atlas. Mitarbeiter der Gesellschaft
wollten angeblich den neuen Bundesbürger helfen, sich im bundesdeutschen Alltag
zurechtzufinden. Anzunehmen ist jedoch, dass eine bestimmte Kontrolle ausgeübt
werden sollte, denn die ehemaligen NVA-Angehörigen wurden von ihren Betreuern
angehalten, ihnen die aus der DDR erhaltene Post zu zeigen beziehungsweise über
Rückverbindungen in die DDR zu berichten. Vorgeblich sollte das dem Schutz der
Geflüchteten vor Rückführungsversuchen in die DDR dienen. Einige Rückkehrer
berichteten davon, dass sie von den Betreuern dazu ermuntert wurden, zu
ehemaligen Dienstkameraden Briefkontakte aufzunehmen. Mir ist ein Fall
erinnerlich, wo ein »Betreuer« mit einem Deserteur zum Abschnitt seiner
ehemaligen Grenzkompanie fuhr, um direkte Kontakte mit Grenzposten aufzunehmen
und zur Fahnenflucht aufzufordern.
Mit
den aus der DDR geflüchteten Militärpersonen erschloss sich für die westlichen
Geheimdienste eine anhaltend sprudelnde Informationsquelle zu sämtlichen
Bereichen der DDR und ein unerschöpfliches Reservoir zur Agentenwerbung. Diese
bedenkenlose Vereinnahmung war zugleich ein schweres Hindernis für jene, die in
die DDR zurückkehren wollten. Die Geheimdienste wussten sehr wohl, welche
strafrechtlichen Folgen daraus für die Betroffenen erwachsen konnten. Den
Fahnenflüchtigen wurde zwar formell von den Geheimdienstmitarbeitern freigestellt,
Angaben zu machen. Aber wer konnte und wollte das schon in dieser Zwangslage,
in die man sich natürlich – das soll nicht ausgeblendet bleiben – selbst
gebracht hatte? Jeder befürchtete für sich Nachteile, wenn er sich den
Geheimdiensten nicht kooperativ zeigte. Nicht wenige dieser jungen Menschen
erhofften sich, nach dem sie sich hinreichend an der BRD-Realität orientiert
und vielfach herbe Enttäuschungen im Vergleich zum Leben in der DDR erfahren
hatten, eine straffreie Rückkehr. Wenn keine Strafausschließungsgründe
vorlagen, mussten solche Anfragen, die meist von den Angehörigen an die
Militärstaatsanwälte oder an MfS-Dienststellen gerichtet wurden, abschlägig
beantwortet werden. Außer einer eventuell strafmildernden Wirkung der
freiwilligen Rückkehr konnten der Strafgerechtigkeit wegen weitergehende
Zusicherungen nicht gemacht werden. Dennoch zogen nicht wenige es vor, die
Strafe mit dem löblichen Vorsatz, ein neues Leben anzufangen, auf sich
zunehmen.
Die
Frage, wie es überhaupt zur Geständnisbereitschaft der Beschuldigten kam, ist
schnell beantwortet. Die meisten waren überrascht von der Sachlichkeit der
Vernehmungsführung. Wer sich auf Konfrontation eingestellt hatte, war schlecht
beraten und musste sich von seiner dementsprechenden Taktik verabschieden.
Insbesondere betraf das jene Untersuchungsgefangenen, die aus freiem Willen in
die DDR zurückkehrten. Es machte ja keinen Sinn, sich den
Strafverfolgungsorganen zu stellen, aber Aussagen zu verweigern. Schließlich
veranlassten gesicherte Sachkenntnis der Untersuchungsführer zu
Aussagebereitschaft und Aussagetreue.
Die
Bestrafung von Fahnenfluchten war keine Spezifik des DDR-Strafrechts. Ich las
in der Berliner Zeitung vom 3./4.
Februar 2001, dass ein Alexander T. mit sechs Monaten Gefängnis bestraft wurde,
weil er der Einberufung zum 2. Jägerbataillon nicht Folge leistete. Der Richter
zum um Nachsicht bittenden Angeklagten: »Mensch, Herr T., Sie wissen doch, wenn
so was passiert, dass Sie ergriffen werden. Sie können sich vorstellen, dass
der Inhalt des Gesetzes nicht zur Disposition steht!«
Der Herr T. wollte aber in keinen anderen Staat und zu keinem Geheimdienst, er
wollte nur zu Hause bei seiner kranken Freundin bleiben! Die Straftatbestände
des Strafgesetzbuches der DDR standen ebenfalls nicht zur Disposition!
Im
Folgenden will ich einige solcher einschlägigen Ermittlungsvorgänge etwas
detaillierter und konkreter schildern. Ich hatte mit einem Beschuldigten zu
tun, dem es gelungen war, lange Zeit unter falschen Namen in der DDR zu leben.
Er stammte aus einer sächsischen Kleinstadt. Um nicht als Fahnenflüchtiger
bestraft werden zu können, war er unter falschem Namen als BRD-Bürger in die
DDR »übergesiedelt« und zog nach Dresden, also in die Nähe seines Heimatortes,
wo seine Eltern lebten. Bei dem Versuch, über die CSSR erneut in die BRD zu
gelangen, war er festgenommen und unter dem falschen Namen zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt worden. Im Strafvollzug kam der Verdacht auf, dass
mit dem Mann irgendetwas nicht stimmte. Die Nachermittlung wurde mir übertragen.
Nach Auswertung eines Bilderkennungsprotokolls legte der Betreffende ein
Geständnis ab. Sein Weg in Westdeutschland und die Aufenthalte in
Geheimdienststellen unterschieden sich nicht von den Erlebnissen anderer
Deserteure.
Von
der Geschichte mit dem falschen Namen abgesehen, war nichts Sensationelles zu
berichten. Als Erzgebirgler kamen wir problemlos miteinander klar, was auch die
Bearbeitung des Ermittlungsverfahrens vereinfachte. Gelegentlich sprachen wir
nicht nur über den zu untersuchenden Sachverhalt, sondern auch über alle
möglichen Dinge im Leben. Mehrfach bekam dieser Untersuchungsgefangene von
seiner Mutter aus Dippoldiswalde Besuch. Hier sei
eingefügt, dass wir bei der Gewährung von Angehörigen Besuchen nicht kleinlich
verfuhren. Es kam vor, dass die Angehörigen spontan nach Berlin zum
Militärstaatsanwalt kamen, um sich über das Vorgefallene unterrichten zu
lassen. Meist war das mit der Bitte um eine Besuchserlaubnis verbunden, der in
der Regel stattgegeben, wurde, ohne dass eine schriftliche Genehmigung vorlag.
Im
erwähnten Fall nun versuchten Sohn wie Mutter den Eindruck zu erwecken, als sei
dies das erste Wiedersehen seit langem. In den Vernehmungen und bei der
Befragung der Mutter hatte ich die Frage, ob sie den Sohn während seiner Dresdener
Zeit gesehen hätte, nicht gestellt. Zwar zweifelte ich nicht daran, dass der
junge Mann seine Eltern besucht hatte, aber da dieses Detail für den Vorgang
nebensächlich war, habe ich es nicht hartnäckig erörtert.
Auch
jetzt wäre diese Sache kaum erwähnenswert, wenn sie nicht später nochmals eine
Rolle gespielt hätte: Jahre später wurde der junge Mann mit dem bewegten Leben
für eine Zeugenvernehmung benötigt. Ich führte sie in einer Dresdner
Dienststelle durch. Wir erkannten uns sofort wieder, sprachen aufgeschlossen,
fast freundschaftlich miteinander. Er berichtete, dass er nach seiner
Haftentlassung den elterlichen Betrieb übernommen habe. Ich bot ihm an, ihn
anschließend mit dem Dienst-Pkw nach Dippoldiswalde
zu fahren. Dort angekommen bat er mich zu einer Tasse Kaffee ins Haus. Auch
seine Mutter erkannte mich wieder und so kam es zu einer angeregten
Unterhaltung. Der Mann sprach über seine faire Behandlung und die Mutter
erwähnte die tolerante Auslegung der Besuchserlaubnis.
»Sie
haben damals von mir alles erfahren, außer einer Sache«, sagte mein Zeuge. Ich
wollte ihm den Triumph nicht gönnen und kam ihm zuvor: »Ich weiß, Sie haben in
der Zeit, als Sie unter falschem Namen in Dresden lebten, Ihre Eltern besucht.
Sie werden sich doch nicht als Wohnsitz Dresden auswählen und Ihre zwanzig
Kilometer entfernt wohnenden Eltern nicht besuchen.«
»Und
warum haben Sie mich nicht danach gefragt?«
»Na«,
erwiderte ich, »Sie hätten mir ja doch nicht die Wahrheit gesagt, und Ihre
Mutter hätte ich nur in Verlegenheit gebracht.«
Das
war einleuchtend, und so schieden wir im guten Gefühl, uns verstanden zu haben
und uns gegenseitig nichts nachtragen zu müssen.
An
dieser Stelle scheint mir nochmals geeignet festzustellen, dass wirklich
feindselige, kaum auflösbare Konfrontationen zwischen Vernehmer und
Beschuldigten zu den absoluten Ausnahmen gehörte. Rüde, rücksichtslose
Grobheiten gab es nicht und sie wären unterbunden worden. Psychische oder
physische Gewalt oder Schikanen von seiten der
Untersuchungsführer gegen Untersuchungsgefangenen waren entgegen heutigen
Behauptungen in jeder Beziehung ausgeschlossen. Verwendbare Aussagen lassen
sich dadurch nämlich nicht erlangen.
Eine
unüberbrückbare Konfrontation entstand als Ausnahmefall bei einem Verfahren
gegen einen Päderasten. Die mich abstoßende Veranlagung homosexueller Kontakte
zu Kindern und noch dazu die arroganten Rechtfertigungsversuche dieses Menschen
waren mir so zuwider, dass die Vernehmungen fast immer in heftigen
Streitgesprächen mündeten. Im Grunde hatten wir mit solchen Rechtsbrüchen
nichts zu tun, aber im Zusammenhang von Gewalttätigkeiten gegen staatliche
Ordnungskräfte war dieses Ermittlungsverfahren zu uns gelangt. Solche
Konfrontationserscheinungen waren aber untypisch, die Sachlichkeit entsprach der
Normalität, was sich auch in nicht alltäglichen Erlebnissen bestätigte.
Während
eines Urlaubsaufenthaltes in meinem Geburtsort spürte ich bei einem
Gaststättenbesuch, dass jemand meinen Blick suchte. Ein Mann mittleren Alters
wandte sich an mich und ich erkannte ihn als ehemaligen Beschuldigten, der als
Grenzsoldat straffällig geworden war. Er hatte mich wieder erkannt und wir
begrüßten uns mit den üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Unbefangen
machte er mich mit seiner Frau bekannt, die auch wusste, mit wem sie es zu tun
hatte.
Betroffen
machte mich die schwere Straftat eines jungen Grenzsoldaten, der meiner
Erinnerung nach in oder bei Aue im Erzgebirge beheimatet war und im Raum Berlin
Dienst versah. Er war mit seinem Streifenposten übereingekommen, aus Langeweile
eine Grenzverletzung vorzutäuschen. Jeder sollte einige Schüsse aus der MPi abgeben, um dann mit Signalpatronen einen Offizier zur
Grenze zu beordern und zu melden, dass sie einen Grenzdurchbruch hätten
verhindern wollen, der Grenzverletzer aber nicht
gestellt werden konnte. Die beide stellten sich gegenüber und schossen, das war
als Mutprobe gedacht, nah aneinander vorbei. Nachdem der Postenführer als
zweiter geschossen hatte, stürzte sein Gegenüber getroffen zu Boden. Er geriet
in Panik und entschloss sich, den Kameraden zu töten. Der Postenführer richtete
die Waffe auf seinen Kameraden und schoss das Magazin mit Dauerfeuer leer. Der
am Boden Liegende bekam mehrere Treffer ab, auch
seine Waffe wurde von Schüssen durchschlagen. Wie durch ein Wunder kam er mit
dem Leben davon. Wahrscheinlich verfehlte ihn der Täter in der Aufregung. Dem
eintreffenden Diensthabenden erklärte er, dass sein Kamerad fahnenflüchtig
werden wollte, was er zu verhindern versucht habe. Diese Version hielt er solange
aufrecht, bis er erfuhr, dass das Opfer noch lebte. Daraufhin legte er ein
Geständnis ab und beschrieb den tatsächlichen Hergang. Meine Ermittlungen zur
Person des Täters in dessen Heimatort brachten durchweg positive Aussagen und
passten überhaupt nicht zum Persönlichkeitsbild eines Mörders. Es blieb für
Eltern, Freunde und Bekannte unverständlich, wie es zu dieser Tat kommen
konnte.
Ich
erwähnte bereits den Nutzen gediegener Sachkenntnisse, um wahrheitsgetreue
Aussagen zu bekommen. Dass dabei auch Zufall hilfreich sein kann, belegt
nachfolgender Fall. Nach operativer Bearbeitung war ein Fall von
Militärspionage soweit aufgeklärt, dass beim nächsten Kontakt mit einem Kurier,
der ein Funkgerät zu überbringen hatte, die Festnahme erfolgen sollte. Nach gedeckter
Observation konnte die Aushändigung des Funkgerätes festgestellt und der
Kurier, in diesem Fall eine Frau, vor der Rückkehr nach Westberlin festgenommen
werden. Einem allgemeinen Grundsatz folgend, sollten in der Erstvernehmung
möglichst keine Beweismittel vorgelegt oder anderweitige Erkenntnisse
vorgehalten werden. Vor allem, um mit erlangtem Täterwissen einem eventuellen
Widerrufsversuch begegnen zu können.
Die
Tatverdächtige bestritt jede geheimdienstliche Verbindung und erklärte, einen
Bekannten, nämlich den Spion, besucht und ihm aus Gefälligkeit für einen
anderen Bekannten aus Westberlin ein Päckchen überbracht zu haben. Keine Ahnung
habe sie, was das Päckchen enthalte. Sie wohne in der BRD, in Kassel – sie
nannte die Anschrift, die im Ausweis stand – und sei lediglich zu Besuch nach
Westberlin gekommen.
Zufällig
kannte ich aus einem vorangegangenen Ermittlungsverfahren den Stadtkern von
Kassel ziemlich genau, vor allem den Weg vom Hauptbahnhof zur Oberen und
Unteren Königsstraße, wo sich eine so genannte Befragungsstelle befand. Von
einem zurückgekehrten Deserteur, der dorthin bestellt worden war, hatte ich mir
diese Straßen, die dortigen Geschäfte und öffentlichen Gebäude so gründlich
beschreiben lassen, dass ich mich fast wie ein Reiseführer hätte zurechtfinden
können. Das sollte der Frau zum Verhängnis werden.
Bald
musste sie einräumen, dass sie die Stadt, in der sie ihren Papieren nach
gewohnt haben wollte, gar nicht kannte. Eine plausible Erklärung, wie sie als
Westberlinerin zu einem Ausweis für Bundesbürger kam – Westberliner hatten
einen »Vorläufigen Ausweis« – ließ sich natürlich nicht finden. So war ein
umfassendes Geständnis die logische Folge.
Eine
Peinlichkeit am Rande dieser Vernehmung erinnert mich daran, dass es nicht
immer gelingt, vernehmungstaktische Grundsätze einzuhalten. Parallel zur
Vernehmung der Kurierin wurde der Spion vernommen. Ihm war die Nutzlosigkeit
des Leugnens vorgehalten worden, weil das Untersuchungsorgan ohnehin «alles von
seiner Spionagetätigkeit wisse«. In diese Vernehmung kam kurzzeitig ein
Mitarbeiter der zuständigen operativen Abteilung hinzu, um sich sozusagen vom
Erfolg seiner vielleicht jahrelangen Abwehrarbeit zu überzeugen. Der Vernehmer
wollte ihn vom neuesten Stand der Vernehmung informieren und schrieb auf einen
Zettel: »Hat den Erhalt des Funkgerätes zugegeben!«
Und
was machte der operative Mitarbeiter mit dieser vertraulichen Nachricht? Er las
die Botschaft, rief aufgeräumt: »Da muss ich gleich meinen General informieren«
und verschwand. Der geständige Spion schaute etwas ironisch seinen
Untersuchungsführer an und meinte: »Na, alles haben Sie vermutlich doch nicht
gewusst!«
Natürlich
haben wir nicht alles gewusst, und es gehört auch heute noch zu den allgemeinen
vernehmungstaktischen Gepflogenheiten, die Beschuldigten darauf hinzuweisen,
dass sich ein Geständnis strafmildernd auswirken kann. Das aber als strafbare
Nötigung auszulegen, konnte nach der »Wende« nur einer politisch motivierten
bundesdeutschen Klassenjustiz bei ihren Strafverfolgungsabsichten gegen
Untersuchungsführer des MfS einfallen, wozu an anderer Stelle auch in eigener
Sache noch mehr zu sagen sein wird.
Das
Zustandekommen von Geständnissen ist manchmal tatsächlich selbst für den
Untersuchungsführer überraschend. Ich erinnere mich hier an eine weitere
Erstvernehmung, ebenfalls die eines Kuriers des BND. Ich hatte
Bereitschaftsdienst und wurde außerhalb der regulären Dienstzeit zur
Dienststelle beordert, um die Vernehmung durchzuführen. Von der Fachabteilung
erhielt ich aus taktischen Gründen nur wenige Informationen. Es handelte sich
danach um einen ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, der aus Westberlin in die
DDR-Hauptstadt nach Ostberlin einreiste.
Der
Festgenommene machte relativ schnell Aussagen darüber, dass er als Kurier zu
einer Bekannten eingereist war, um ihr mündliche Informationen zu überbringen.
Bei einem vorangegangenen Besuch habe er bereits schriftliches Material
mitgebracht und es in ihrer Wohnung versteckt, weil seine »Bekannte« persönlich
nicht anwesend gewesen sei. Es war alles ein bisschen verworren. Zur
SS-Zugehörigkeit machte er auch nur sehr sparsame Angaben. Ich beschränkte mich
auf allgemeine, emotionslose Ermahnungen zur Wahrheit. Auch mit der verbalen
Beschreibung des angeblichen Verstecks gab ich mich vorerst zufrieden und
schrieb das Protokoll, dass mit den üblichen Standartsätzen endete: »Ich habe
das Protokolle selbst gelesen. Der Inhalt entspricht in allen Teilen den von
mir gemachten Aussagen. Meine Worte sind darin richtig wiedergegeben.«
Nach
dem er es gelesen und unterschrieben hatte, fiel mir ein, dass es besser sei,
vom erwähnten Versteck der Unterlagen eine Skizze fertigen zu lassen. Mit den
Worten: »Damit wir Ihr Versteck auch finden, sollten Sie noch eine Skizze
anfertigen, damit Sie später nicht behaupten, falsch verstanden worden zu
sein«, schob ich ihm ein Blatt Papier zu.
Er
guckte mich prüfend an, schnitt eine Grimasse, die alles Mögliche bedeuten
konnte und zog seinen rechten Schuh aus. Ich schaute stillschweigend amüsiert
zu. Er manipulierte dann am Absatz herum und zog aus einer dort eingearbeiteten
Öffnung einen Gegenstand heraus. Es waren mikroverfilmte Spionageanweisungen.
Ohne Kommentar fertigte ich einen Zusatz zum Protokoll und beendete die
Vernehmung. Der Beschuldigte wurde in die Zelle zurückgeführt.
Ganz
knapp war ich an einer gewaltigen Blamage vorbeigerauscht! Nicht vorzustellen,
dass der Kurier stundenlang vor mir saß und anschließend Gelegenheit erhalten
hätte, seelenruhig die wichtigsten Beweismittel zu vernichten.
Ich
will meine Beispiel-Reihe mit einem nicht alltäglichen Vorgang abschließen.
Dabei muss ich etwas ins Detail gehen. Die betreffende, unter meiner
Verantwortung im Referat in einem Ermittlungsverfahren bearbeitete Person
gehörte den DDR-Grenztruppen an und wurde nach zehnjähriger Dienstzeit als
Oberleutnant entlassen. Der Mann zog in die Nähe von Berlin und arbeitete in
einem Großbetrieb als Verantwortlicher für Sicherheitsfragen Er war verheiratet
und hatte zwei Söhne. Die Eheleute ließen sich pro forma scheiden, um eine
Flucht nach Westberlin getrennt vorbereiten und durchführen zu können.
Wie
verantwortungslos das gegenüber der Entwicklung ihrer Kinder war, will ich hier
nicht weiter erörtern. Im Mai 1975 ließ sich die Mutter mit ihrem sechs Jahre
alten Sohn von einer Fluchthelferorganisation für 15.000 Mark nach Westberlin
ausschleusen. Von dort aus organisierte sie über einen der Westberliner Polizei
bekannten «Fluchthelfer« die Ausschleusung ihres geschiedenen Ehemannes und des
zurückgelassenen achtjährigen Sohnes. 5.000 Mark Anzahlung soll sie dafür
geleistet haben. Ende April 1976 sollte die Ausschleusung vorgenommen werden.
Auf
einem Waldweg stiegen der ehemalige Oberleutnant und sein Sohn, der zur
Ruhigstellung von seinem Vater eine Tablette »Faustan«,
eine Art Narkotikum, verabreicht bekam, in den Kofferraum eines für das
Unternehmen präparierten Pkw. Bei der Fahrzeugkontrolle an der
Grenzübergangsstelle Staaken entdeckte man sie. Der Westberliner Fahrer wie
auch der ehemalige Grenztruppenoffizier wurden
festgenommen, der Sohn ärztlich betreut und zunächst in einem Kinderheim
untergebracht.
Der
Fahrer des Fluchtautos wurde 1978 nach Westberlin entlassen, wo bekanntlich
Fluchthelfer straffrei blieben und bei einer Verurteilung in der DDR Anspruch
auf Haftentschädigung geltend machen konnten.
Wie
rasch sich die Rechtslage ändern kann, ging aus einer Meldung im Neuen Deutschland vom 27. Juli 2001
hervor, wonach das Landgericht Leipzig gegen drei Mitglieder einer
»internationalen Schleuserbande« ermittelt, die seit 1999 etwa 1.000 Personen
über Italien, Österreich und die Schweiz nach Deutschland einschleusten und am
Menschenhandel rund eine Million Mark verdienten.
Der
ehemalige Oberleutnant formulierte schriftlich den Wunsch, dass sein Sohn an
eine bestimmt Familie zur Betreuung übergeben werden sollte. Vermutlich war
eine solche Maßnahme vor der Aktion für den Fall eines Fehlschlages mit dieser
Familie erörtert worden. Der Beschuldigte bat bereits nach der Festnahme, diese
Familie zu benachrichtigen. Vierzehn Tage nach dem Ausschleusungsversuch kam
der Junge dorthin.
Das
Ermittlungsverfahren wurde entsprechend den Straftatbeständen, unter anderem
ging es auch um Spionage, bearbeitet und der Militäroberstaatsanwaltschaft zur
Anklageerhebung übergeben. Nach Verbüßung einer achtjährigen Freiheitsstrafe
wurde der Verurteilte im April 1984 mit Aberkennung seiner Staatsbürgerschaft
der DDR in die Bundesrepublik entlassen. Eine Erwähnung dieses Vorganges, schon
gar nicht in dieser Ausführlichkeit, wäre kaum notwendig gewesen, wenn nicht
deswegen von der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und
Vereinigungskriminalität (ZERV) im Dezember 1997 gegen mich ein
Ermittlungsverfahren eingeleitet worden wäre. Mir und anderen damals
beteiligten Personen wurde zum Vorwurf gemacht, Zwangsmittel zum Erlangen von
Aussagen angewandt beziehungsweise, meine Person betreffend, dazu angestiftet
zu haben. Der das Verfahren bearbeitende Sachbearbeiter war ein außerordentlich
korrekter, gebildeter Untersuchungsführer mit gepflegten Umgangsformen, der zu
keiner Zeit nicht einmal mit scharfen Wortgefechten Vernehmungen führte.
Dem
Ermittlungsverfahren der ZERV lag eine Anzeige des ehemaligen Grenzoffiziers
zugrunde. Es soll dem Mann zugutegehalten werden, dass er nicht aus eigenem
Antrieb handelte. Er hatte ein Informationsblatt einer so genannten
Opferorganisation mit einschlägigen Aufforderungen bekommen und daraufhin im
August 1995 die Ermittlungsstelle in Berlin angeschrieben. Ansonsten wäre es
schon recht ungewöhnlich, dass es ihm erst siebzehn Jahre nach dem Ereignis
bewusst wurde, zu Aussagen genötigt worden zu sein. Dennoch enthält ein solcher
Vorwurf ein gutes Stück Infamie: Menschen, die sich lebenslang, auch nach dem
Anschluss an die Bundesrepublik, in jeder Hinsicht gesetzestreu verhalten,
werden ausgerechnet von Personen, die mit unsicheren Rechts- und
Moralauffassung auffällig geworden waren, der Rechtsverletzungen beschuldigt.
Ich schildere den Sachverhalt nicht, um mich zu rechtfertigen, sondern weil
auch dieser Abschnitt zu meinem Lebensweg gehört. Ich kann dazu stehen!
Inwieweit
der Vorwurf einer Aussageerpressung substantiell überhaupt gerechtfertigt sein
könnte, will ich weitestgehend unkommentiert lassen, denn die bereits erwähnten
Details und die noch folgenden Fakten machen von sich aus diese Beschuldigung
haltlos. Die vorgebliche Nötigung zu einer Aussage reduzierte sich auf die
Unterstellung, dem Beschuldigten angedroht zu haben, dass er seinen Sohn nicht
wieder sehen dürfe, wenn er keine Aussagen zum beabsichtigten Geheimnisverrat
mache. Man fand dafür nicht den geringsten Beleg, nicht einmal eine begründete
Mutmaßung für diesen Vorwurf.
Zudem
gibt es überzeugende Gründe, die eine solch primitive Argumentation im
Ermittlungsverfahren von vornherein ausschließen. Zum einen könnte der
Betreffende spätestens zur gerichtlichen Hauptverhandlung widerrufen. Jeder
Verteidiger hätte mit Begeisterung ein solches Argument aufgenommen.
Tatsächlich war der Verurteilte nach der Urteilsverkündung im Dezember 1976 in Berufung
gegangen, aber selbst bei dieser Gelegenheit war nicht von einer vorgeblichen
Nötigung die Rede. Außerdem steht dieser Beschuldigung die Tatsache entgegen,
dass unmittelbar nach der Festnahme des Beschuldigten, auf dessen Wunsch hin,
also ausdrücklich in seinem Sinne, über den weiteren Verbleib seines Sohnes
entschieden wurde. Es gab also überhaupt keinen Ansatzpunkt für die angebliche
Drohung.
Nach
seiner Ankunft in der BRD im April 1984 war der ehemalige Offizier in
zahlreichen Einrichtungen und Dienststellen. Nirgendwo, auch nicht im Rahmen
des Notaufnahmeverfahrens, hatte er über eine solche Form der Nötigung
berichtet, obgleich er wiederholt nach Rechtsverletzungen jeglicher Art befragt
wurde. Auf Ersuchen der «Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltung
Salzgitter zur Erfassung von Rechtsbrüchen in der DDR«, wurde in Hamburg im
Juli 1984 von der »Behörde für Inneres, Polizei-Fachdirektion 7« nach einem
zugestellten Fragespiegel eine Befragung durchgeführt.
Die
Zentrale Erfassungsstelle schrieb im Mai 1984 an das Landeskriminalamt: »Der
Obengenannte soll in der DDR aus politischen Gründen abgeurteilt worden sein.
Zur Prüfung der Frage, ob während der Ermittlungen, im Zusammenhang mit der
Verurteilung selbst und während des Strafvollzuges von der Zentralen
Erfassungsstelle zu registrierende Unrechtshandlungen begangen worden sind,
bitte ich, den Obengenannten als Zeuge zu vernehmen.« (Die Aburteilung erfolgte
keineswegs aus politischen Gründen, sondern wegen konkret begangener Straftaten!)
Dazu sagte der Betreffende: »Verfahrensverstöße erkenne ich darin, dass mir die
Anklageschrift erst einen Tag vor der Verhandlung zur genauen Kenntnis gegeben
wurde.« Weitere Bemerkungen wurden hierzu nicht
gemacht, von einer Aussageerpressung war keine Rede, obgleich an anderer Stelle
ausdrücklich danach gefragt wurde.
Seine
Angaben zum zu späten Erhalt der Anklageschrift sind im Übrigen
wahrheitswidrig. Im Protokoll der Verhandlung vor dem Militärobergericht Berlin
wird nämlich festgestellt, dass seinerzeit der Angeklagte an zwei verschiedenen
Tagen vor der Hauptverhandlung die Anklageschrift ausgehändigt bekam und
Gelegenheit erhielt, sich Aufzeichnungen zu machen. Darüber hinaus enthält aber
der erwähnte Fragespiegel ein anderweitiges aufschlussreiches Detail. Es wurde
danach gefragt, ob »der Zeuge Opfer einer Denunziation« geworden sei. Der Zeuge
wurde quasi selbst zum Denunzieren ermutigt, indem er die Frage beantworten
sollte, ob und welche MfS-Angehörigen er kennengelernt habe.
In
der ausdrücklich auf etwaige Rechtsverletzungen durch DDR-Justizorgane
orientierenden Befragung 1984 in Hamburg wurde nicht der geringste Hinweis
erarbeitet, der den Verdacht von Gesetzesverletzungen durch Mitarbeiter des
Untersuchungsorgans des MfS hätte begründen können und schon gar nicht
bezüglich einer Aussagenötigung durch Drohungen, seinen Sohn nicht wieder sehen
zu dürfen. Dass sich die Familie auflöste, die Geschwister voneinander getrennt
wurden, der ältere Sohn durch den Transport im Kofferraum des Fluchtfahrzeuges
und Verabreichung eines starken pharmazeutischen Beruhigungsmittels
traumatischer Gefährdung ausgesetzt war, haben die Eltern zu verantworten und
hätte in der BRD von den ansonsten so selbstgerechten Juristen gerügt werden
müssen.
Um
für eine etwaige Gerichtsverhandlung gewappnet zu sein, hatte ich mich zu
meiner Verteidigung mit dem Faktenmaterial beschäftigt und Notizen gefertigt,
weshalb mir diese Details noch so konkret erinnerlich sind. Es sollte jedoch
nicht dazu kommen. Im Ergebnis der gesamten Aktenlage war es nur konsequent und
– das will ich hier ausdrücklich festhalten – auch das Resultat
funktionierender Rechtsstaatlichkeit, dass ich von der Staatsanwaltschaft II
beim Landgericht Berlin im September 1998 folgende Mitteilung erhielt:
»Betrifft:
Ermittlungsverfahren gegen Sie u. a. wegen Aussageerpressung: Sehr geehrter
Herr Liebscher, es wird mitgeteilt, dass o. g. Ermittlungsverfahren gemäß
Paragraph 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist. Hochachtungsvoll …« und so
weiter.
Am
7. Oktober 1998 erhielt ich von derselben Behörde ein ähnliches Schreiben,
wonach ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung gegen mich
ebenfalls eingestellt worden war. Sonderbarerweise war mir von diesem
Ermittlungsverfahren überhaupt noch nichts bekannt und ich erfuhr auch nie, wer
da gegen mich geklagt hatte. Dass ich darüber nicht in Kenntnis gesetzt worden
war, spricht aus rechtsstaatlicher Sicht auch nicht gerade für die BRD.
Zum
Ende des Jahres 2000 wurde die Tätigkeit der ZERV eingestellt. Ich will diese
Maßnahme als Betroffener weder kommentieren noch die Arbeitsergebnisse dieser
nach der »Vereinigung« der DDR mit der BRD geschaffenen politischen
Strafverfolgungsbehörde bewerten, um jeden Verdacht von Voreingenommenheit zu
vermeiden.
Verwiesen
sei deshalb auf die Zeitung jungeWelt, die am 28. Dezember 2000 unter der sarkastischen
Überschrift »Kommunistenjagdabteilung des Tages« zu den Ergebnissen der
Berliner ZERV schrieb:
»Die
Bundesrepublik hat mit dem Jahreswechsel eine Institution weniger, die für
ruhigen Schlaf der Bürger sorgte: die ›Zentrale Ermittlungsstelle für
Regierungs- und Vereinigungskriminalität‹. Am Donnerstag schraubte der letzte
Chef des Sonderjustizkommandos das Behördenschild in Berlin-Tempelhof ab. In
Agenturen ist die Rede von ›Mauerschützen‹ und ›Schreibtischtätern‹, die von
seinen 700 Beamten geschnappt wurden. Ähnlich frei von politischer
Vorverurteilung und ohne jeden ideologischen Furor, vor allem ohne Rücksicht
auf allgemeinübliche Justizstandards wie Rückwirkungsverbot oder Verjährung
bemühten sich die Greif- und Ermittlungstrüppler neun
Jahre lang, herauszubekommen, was den DDR-Staat im innersten zusammenhielt. Wer
in Polizeiuniform 1950 im Osten ein Huhn geklaut, war bei ihnen fällig. Unter
Regierungskriminalität verstand die Truppe nämlich ausschließlich Ost und zwar
puren Ost.
Jene
Regierungskriminalität, deren Wirken Millionen Menschen arbeitslos machte,
Millionen ruinierte und die Enteignung ganzer Landstriche organisierte, die
zweifellos mehr Tote kostete als jemals die Grenze zwischen DDR und BRD, fiel
ihr nicht weiter auf. Mehr als 20.000 Ermittlungsverfahren wurden von den
Vereinigungsbütteln eingeleitet, 877 Personen angeklagt, 211 dann auch
verurteilt, 22 davon zu Haftstrafen. Resümee des über das magere Strafergebnis
etwas verstimmten Berliner Justizsenators Erhard Körting:
›Die große Leistung der Ermittlungs- und Strafverfahren liegt darin, den
Unrechtscharakter des DDR-Regimes kenntlich gemacht zu haben.‹ So bekommt der
Endsieg endlich seinen Namen. Dass Sozialismus Unrecht ist, war schon seit
Stalingrad und dem 8. Mai 1945 klar.«
Eine
Frage möchte ich aber trotzdem stellen: Ist es ein Indiz für den »Unrechtsstaat
DDR«, wenn allein von den ca. 20.000 Ermittlungsverfahren der Berliner ZERV die
übergroße Mehrzahl eingestellt werden musste, weil trotz aller
Verfolgungsziele, extensiver Rechtsauslegung und zweifelhafter Rechtmäßigkeit
der Schuldvorwürfe keine relevanten Straftaten nachzuweisen waren?
Wie die
BRD-Justiz mich zum Täter machen wollte
Von
Adolf Thode
Jahrgang
1933; Diplomjurist; MfS/AfNS von 1952 bis 1990; Major
a. D.; zuletzt Stellvertretender Abteilungsleiter in der BV Berlin
Am
Samstag, dem 2. Oktober 1971, gegen 9.15 Uhr, überwand eine männliche Person,
von Westberlin kommend, die Grenzsicherungsanlagen der DDR in unmittelbarer
Nähe des Brandenburger Tores. Die wie immer »zufällig« auf Westberliner Gebiet
anwesenden Reporter und Polizisten beobachteten das Geschehen, hielten aber den
Mann nicht davon ab, die Grenze zur Hauptstadt der DDR auf ungesetzliche Weise
zu übertreten. Nachdem ihm das gelungen war, versuchte er, sich fluchtartig in
das Innere unserer Hauptstadt zu entfernen. Dabei wurde er von Angehörigen der
Grenztruppen der DDR festgenommen, in einen ihrer Diensträume gebracht und dort
von einem Offizier und einem Wehrpflichtigen der Grenztruppen bewacht. In
dieser Zeit informierten andere Angehörige der Grenztruppen ihre Vorgesetzten
vom Vorkommnis und veranlassten, den Grenzverletzer
abzuholen.
Erste
Überprüfungen hatten ergeben, dass der Festgenommene bereits von einem Gericht
der DDR wegen Straftaten gegen die Staatsgrenze der DDR zur Verantwortung
gezogen worden war. Er verhielt sich renitent und provokant, stand plötzlich
auf und begab sich entgegen den Weisungen des Grenzoffiziers zu einem
ungesicherten Fenster des Raumes. Der Offizier ging davon aus, dass mit einem
Sprung aus dem Fenster ein erneuter Fluchtversuch erfolgen würde. Er forderte
den Mann auf, stehen zu bleiben und brachte seine MPi
in Anschlag.
Der
Festgenommene begab sich jedoch weiter in Richtung des Fensters. In dieser
Situation löste sich aus der Dienstwaffe des Offiziers ein Schuss, der den
Festgenommenen von hinten traf und ernsthaft verletzte.
Aufschlussreich
für die Hintergründe seines Handels ist folgende Äußerung, die er nach seiner
Verletzung gegenüber einem Angehörigen der Grenztruppen machte: »Mussten die
denn wieder mich schicken?«
Die
Besatzung des sofort angeforderten Sanitätskraftwagens der Grenztruppen
übernahm nach ersten medizinischen Hilfsmaßnahmen den Verletzten. Auf der Fahrt
zum Krankenhaus erlag er seinen Verletzungen. Die Sicherheitsorgane der DDR,
damit auch die für die Bearbeitung schwerer Fälle ungesetzlicher
Grenzübertritte zuständige Untersuchungsabteilung der Bezirksverwaltung Berlin
des MfS, waren noch vor dem tragischen Ereignis von der Festnahme des Grenzverletzers informiert worden.
Zur
ständigen Gewährleistung der Handlungsfähigkeit war es im MfS üblich, dass an
den dienstfreien Wochenenden eine Bereitschaftsgruppe Dienst oder Hausbereitschaft
hatte. Als an dem betreffenden Samstag im Oktober 1971 die Meldung von dem
ungesetzlichen Grenzübertritt eintraf, befand ich mich in Folge dieser Reglung
in der Dienststelle, ebenso mein Dienstvorgesetzter, später auch einer der
Angeklagten.
Er
leitete an diesem Tage die seitens des MfS erfolgenden Untersuchungen zum
Grenzdurchbruch. Zwei Mitarbeiter der Dienstschicht erhielten den Auftrag, sich
an den Ereignisort zu begeben, um dort die Untersuchungen einzuleiten und
durchzuführen. Bei ihrem Eintreffen erhielten sie Kenntnis vom Ableben des Grenzverletzers. Ihre Ermittlungen konzentrierten sich
demzufolge vordergründig auf die Feststellung der genauen Umstände des
ungesetzlichen Grenzübertritts, der Festnahme und des Versuchs des Mannes, sich
seiner Verantwortung durch Flucht zu entziehen. Dazu und zu den weiteren
zwischenzeitlich erarbeiteten Ermittlungsergebnissen fertigte der Leiter der
Diensteinheit noch an diesem Wochenende eine zusammenfassende Information,
einschließlich entsprechender Vorschläge für die weitere Verfahrensweise am
darauf folgenden Montag, dem 4. Oktober 1971. Sie wurde der Leitung des MfS zur
Kenntnisnahme und Bestätigung vorgelegt.
Bei
der weiteren Bearbeitung dieses Vorkommnisses war zu berücksichtigen: Die DDR
war in Verantwortung vor der eigenen Bevölkerung und zur Wahrung ihres
internationalen Ansehens daran interessiert, dass an der Staatsgrenze der DDR
nur im äußersten Fall die Schusswaffe angewendet, bei der Abwehr von Angriffen
der Tod von Menschen möglichst verhindert wird.
Der
Verlauf des geschilderten Vorkommnisses entsprach nicht diesen Grundsätzen. Die
weitere Verfahrensweise bedurfte deshalb zentraler Entscheidungen.
Zu
beachten waren zudem solche lagebezogenen Tatsachen: Jeder Todesfall an der
Staatsgrenze der DDR wurde von den westlichen Massenmedien zur Diffamierung der
DDR genutzt. Die Verhandlungen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zur
Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten standen kurz
vor ihrem Abschluss, sie konnten durch ein solches Ereignis gefährdet werden –
oder sollten sogar gestört werden? Das Ereignis vollzog sich vor vielen
Zuschauern, darunter Touristen, die das Brandenburger Tor am Samstagvormittag
auf beiden Seiten besuchten.
Außerdem
liefen die Vorbereitungen der Feierlichkeiten in der Hauptstadt zum 22.
Jahrestag der Gründung der DDR.
An
jenem Oktobermontag im Jahr 1971 ließ der Minister für Staatssicherheit die
Bestätigung der in der Information vorgeschlagenen Maßnahmen durch die
Hauptabteilung Untersuchung an die BV Berlin übermitteln. Dem damit
beauftragten Abteilungsleiter der Hauptabteilung Untersuchung, einem in dieser
Sache später ebenfalls Angeklagten, war zunächst nicht bekannt, dass die
Leitung des Verfahrens in den Händen des Leiter der Untersuchungsabteilung der
BV lag. Von Telefonaten am Tag des Vorkommnisses war ihm mein Name in
Erinnerung geblieben. Deshalb wollte er mir die Entscheidung des Ministers
mitteilen. Da ich mich zum Zeitpunkt des Anrufes nicht in der Dienststelle
befand, diktierte er die bestätigten Maßnahmen einer Sekretärin, mit dem
Auftrag, mir diese vorzulegen.
Die
Sekretärin versah die mit Maschine geschriebene Nachricht, wie zur Orientierung
für die Weitergabe üblich, handschriftlich mit den Anfangsbuchstaben meines
Familienamens »Tho«. Ordnungsgemäß übergab ich sie an
den Leiter der Abteilung. Soweit der verkürzt dargestellte
Sachverhalt, wie er sich 18 Jahre vor Übernahme der DDR durch die BRD und 28
Jahre vor der Hauptverhandlung ereignet hat.
1999
sollten ich und weitere ehemalige Mitarbeiter des MfS von den Justizorganen der
BRD in dieser Sache zu Tätern gemacht werden.
Wir
bekamen es mit der extra geschaffenen Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs-
und Vereinigungs-Kriminalität (ZERV) zu tun. Die offenkundig zur Kriminalisierung
von Verantwortungsträgern der DDR, darunter auch gegen Mitarbeiter des MfS
eröffneten Strafverfahren, wurden mit großem Zeit-, Arbeits- und Kostenaufwand
geführt. Sie waren nicht nur aus meiner Sicht von wenig Sach- und
Rechtskenntnissen der Handelnden in Bezug auf die DDR-Verhältnisse geprägt.
Dazu aus eigenem Erleben einige Beispiele.
Einem
von der ZERV im Jahre 1996/97 vernommen ehemaligen Kollegen von mir war der
erwähnte Vermerk mit dem Kürzel »Tho« mit der Frage
vorgelegt worden, wer das sein könnte. Damit war mir klar, dass ich im
Zusammenhang mit dem ungesetzlichen Grenzübertritt vom 2. Oktober 1971 alsbald
mit Aktivitäten der ZERV zu rechnen hatte. Ich konnte mich entsprechend
vorbereiten und darauf einrichten. Allerdings erfolgten für mich über Monate
hinweg keine sichtbaren Maßnahmen.
Am
16. Juni 1997 wurde ich dann mit einer seltsamen Praxis der BRD-Behörden
konfrontiert. Nach 20 Uhr wurde ich von einem Mitarbeiter der ZERV, der sich
mit einem Dienstausweis auswies, so dass ich seinen Namen kenne, in meiner
Wohnung aufgesucht. Der Herr teilte mir zu dieser für derartige Amtshandlungen
ungewöhnlichen Zeit offiziell mit, dass gegen mich im Zusammenhang mit dem
Ereignis vom 2. Oktober 1971 von der Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren
wegen Begünstigung und Strafvereitelung im Amt eingeleitet worden sei. Die
Kenntnisnahme dieser Mitteilung hatte ich schriftlich zu bestätigen. Der Herr
ging aufgrund meines Verhaltens davon aus, dass ich nicht gewillt sei, zu
diesem Sachverhalt Aussagen zu machen, was ich ihm bestätigte. Ihm war das
angesichts der fortgeschrittenen Tageszeit offensichtlich nicht unangenehm.
Nach
dieser Mitteilung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen mich
erhielt ich am 2. Dezember 1998 – nach fast 18 Monaten – vom Polizeipräsidenten
Berlins eine Vorladung zum 15. Dezember 1998. Ich sollte bei dieser Gelegenheit
Aussagen zu »ungeklärten Todesfällen in der DDR« machen.
Für
mich war das ein mieser Trick, mich trotz des laufenden Ermittlungsverfahrens
in dieser Sache zu Aussagen zu veranlassen. Ich teilte dem Polizeipräsidium
schriftlich mit, dass ich zu diesem Termin aufgrund eines laufenden
Ermittlungsverfahrens in dieser Sache, nicht erscheinen werde.
Am
2. Februar 1999 erhielten mein ehemaliger Abteilungsleiter, ein
Abteilungsleiter der HA Untersuchung des MfS und ich eine 29 Seiten umfassende
Anklageschrift, die mit 26. August 1998 datiert war. Ebenso erhielten wir den
Beschluss zur Eröffnung des Hauptverfahrens vor der 3. Großen Strafkammer des
Landgerichts Berlin. Mitgeteilt wurden die angesetzten sechs
Verhandlungstermine, beginnend am 7. Mai 1999, mit wöchentlich je einem Verhandlungstag.
Der
Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. Februar 1999 ließ die Anklage vom 26.
August des Vorjahres zu und legte fest, die Hauptverhandlung gegen uns wegen
ihrer großen Bedeutung mit drei Berufsrichtern und nicht mit Schöffen
durchzuführen.
Wie
aus dieser Schilderung zu ersehen ist, hatten die Justizorgane der BRD noch
nach Fertigung der Anklageschrift vom 26. August 1998 mit meiner späteren
Vorladung vom 2. Dezember gleichen Jahres versucht, von mir noch Aussagen in
dieser Sache zu erlangen, offensichtlich mit dem Ziel, damit die Beweislage in
diesem Verfahren »günstiger« zu gestalten.
Da
für Verfahren dieser Art vor den Landgerichten die Teilnahme von Verteidigern
vorgeschrieben ist, wurde uns jeweils ein Westberliner Rechtsanwalt als
Pflichtverteidiger benannt. Die Staatsanwaltschaft erhob gegen uns den
strafrechtlichen Vorwurf, einem Offizier der Grenztruppen der DDR, aus dessen
Waffe sich am 2. Oktober 1971 der Schuss löste, in Ausübung unserer Funktionen
und in Verantwortung als Mitarbeiter des MfS dabei Beistand geleistet zu haben,
sich der Strafverfolgung zu entziehen. Jedem Juristen, auch solchen, die gerade
ihre juristische Ausbildung begonnen haben, wäre klar gewesen, dass solche
Straftaten nur von Personen begangen werden können, die auch die Befugnisse zu
solchen Entscheidungen haben.
Darüber
hinaus hätte den mit dieser Sache befassten Juristen der BRD eigentlich bekannt
sein müssen, dass für die Bearbeitung von Straftaten der Angehörigen der
Grenztruppen der DDR ausschließlich die Militärstaatsanwälte der DDR, die dem
Generalstaatsanwalt der DDR unterstanden, zuständig waren. Weder die angeklagten
ehemaligen Mitarbeiter des MfS noch der Minister für Staatssicherheit hatten
die Möglichkeit, den Militärstaatsanwälten und Militärgerichten der DDR in
Strafverfahren Weisungen zu erteilen.
Solche
Erkenntnisse der Mitarbeiter der Justizorgane der BRD sowie ihre Einsicht und
ihr Wille. danach zu handeln, hätten in vielen anderen Verfahren langjährige Ermittlungen,
aufwendige Prozesse und eigenes Unrecht verhindert. Das hätte auch dem
Steuerzahler viel Geld erspart.
Im
Verlaufe dieses Verfahrens wurde bekannt, dass gegen den Offizier der
Grenztruppen der DDR, aus dessen Waffe sich der Schuss gelöst hatte, durch die
Justizorgane der BRD bereits 1991 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und
bearbeitet worden war. Da dieser Offizier aber 1992 verstarb, musste dieses
Ermittlungsverfahren eingestellt werden.
Ersatzweise
sollte ich, sollten wir, die in diesem Verfahren Angeklagten, nunmehr als
Straftäter schuldig gesprochen werden. Es dauerte etwa sieben Jahre, um nach
dem Ableben dieses Grenzoffiziers, ehemalige Mitarbeiter des MfS zu
beschuldigen, sie hätten diesen Offizier der Grenztruppen vor 28 Jahren der
Strafverfolgung entzogen. Diesen Juristen ist nicht aufgefallen, dass ein dazu
Befugter einen Anderen nur dann der Strafverfolgung
entziehen kann, wenn gerichtlich festgestellt wurde, dass dieser zuvor eine
Straftat begangen hat. Dies nachzuweisen war den Justizorganen der BRD nicht
nur durch den frühen Tod des Grenzoffiziers aber nicht möglich.
Wir,
die in dieser Sache Angeklagten, trafen uns nach Erhalt der Anklageschrift bei
den Rechtsanwälten unseres Vertrauens und wählten diese als unsere
Wahlverteidiger für dieses Verfahren. Den uns vom Gericht zugeordneten
Pflichtverteidigern aus dem ehemaligen Westberlin war damit der Auftrag für
unsere Verteidigung entzogen.
Wenige
Tage vor Beginn der Hauptverhandlung nahmen wir die Wahl unserer Rechtsanwälte
als Wahlverteidiger zurück und erklärten uns damit einverstanden, dass sie in
diesem Prozess unsere Interessen als Pflichtverteidiger wahrnehmen. Sie vertraten
unsere Interessen mit der gleichen Intensität wie der Wahlverteidiger, aber für
weniger Geld und bezahlt vom Staat.
Die
von uns beauftragten Verteidiger beantragten zunächst beim Landgericht Berlin
Akteneinsicht, die ihnen nach einigen Verzögerungen gewährt wurde.
Am
7. Mai 1999, vor Beginn der Hauptverhandlung, mussten wir im Gebäude des
Landgerichtes in Berlin-Moabit die mit vielen Schlagzeilen in der Presse
organisierte Aufmerksamkeit der anwesenden Schar von Journalisten, deren
Pöbeleien, Aufdringlichkeiten und das übliche »Blitzlichtgewitter« über uns
ergehen lassen. Fotos von uns, Angaben zu ehemalige Funktionen und die
Anklagepunkte waren von Medien zuvor bereits publik gemacht worden. Der
angeblich in der Bundesrepublik geltende Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung
bis zur Verurteilung galt, wie meist in solchen Fällen, nicht.
Zu
Beginn der Hauptverhandlung wurden unsere Personalien festgestellt und der
wesentliche Inhalt der Anklage vom Staatsanwalt vorgetragen.
Im
Verlauf der Hauptverhandlung stellten wir aber auch zwei Besonderheiten fest:
Zum einen: Der Staatsanwalt, der die in der Akte befindlichen
Ermittlungsergebnisse kannte und die Anklageschrift verfasst hatte, war nicht
anwesend. Er hatte einen jüngeren Kollegen mit der Vertretung der Anklage in
der Hauptverhandlung beauftragt.
Im
weiteren Verlauf der Hauptverhandlung zeigte sich, dass dieser jüngere
Staatsanwalt naturgemäß keine detaillierten Kenntnisse über den Akteninhalt und
den Sachverhalt hatte.
Der
Vorsitzende Richter war gleichfalls für einen Kollegen »eingesprungen«. Ihm
fehlten ebenso Kenntnisse aus der Akte und zum Sachverhalt. Die Folge war,
unsere Rechtsanwälte waren veranlasst, Richter und Staatsanwalt mehrfach
Hinweise auf Ermittlungsergebnisse und den Ort ihrer Auffindung in den Akten zu
geben. Wir konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, dass der vorsitzende
Richter nicht recht wusste, wie er die von seinem Kollegen festgelegten sechs
Verhandlungstage ausfüllen sollte. Er setzte deshalb bereits am zweiten
Verhandlungstag ein »Aktenstudium durch die Angeklagten« an, obwohl wir bereits
umfassend über den Akteninhalt informiert waren.
Nach
dem ersten Verhandlungstag ließ das
Interesse der Journalisten an diesem Prozess nach. Sie erschienen kaum noch zu
den Verhandlungstagen und die Berichterstattung darüber wurde weitgehend
eingestellt.
Nach
Verlesung der Anklageschrift hatten wir, die Angeklagten, die Möglichkeit, eine
von uns gemeinsam erarbeitete Erklärung vom 6. Mai 1999 vorzutragen. In dieser
Erklärung legten wir unsere Auffassungen zu rechtlichen und tatsächlichen
Fragen dar und verwiesen auf politische Probleme, wie sie zwischen den beiden
deutschen Staaten bestanden. Das führte naturgemäß zu Streitgesprächen mit den
Vertretern der Justiz. In der gesamten Hauptverhandlung wurden überwiegend
Fragen des gesetzwidrigen Eindringens des Grenzverletzers
in das Gebiet der DDR und die Umstände seiner Festnahme sowie seines Ablebens
geklärt und durch Zeugenaussagen bewiesen. Der eigentliche Gegenstand des
Verfahrens, wir hätten einem Offizier der Grenztruppen der DDR der
Strafverfolgung entzogen, konnte wegen der fehlenden Voraussetzungen in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht ernsthaft verhandelt und
nachgewiesen werden.
Zur
Klärung meines angeblichen Tatbeitrages hatte ich dem Vorsitzenden Richter mit
verschiedenen Schriftproben gezeigt, wie ich das Kürzel meines Familiennamens »Tho« schreibe. Obwohl der Richter kein
Schriftsachverständiger war, konnte er sich nicht vorstellen, dass diese drei
Buchstaben »Tho« auf dem mit Schreibmaschine
gefertigten Vermerk nicht von mir, sondern der zwischenzeitlich verstorbenen
Sekretärin geschrieben wurden. Ich sagte dem Richter, dass es für mich
»Blödsinn« gewesen wäre, das von der Hauptabteilung Untersuchung des MfS
Übermittelte nochmals aufzuschreiben. Diesen Hinweis nahm der vorsitzende
Richter »unwillig« zur Kenntnis. Es fiel ihm sichtlich schwer zu erkennen, dass
ich auch bei einer Entgegennahme der Mitteilungen von der Hauptabteilung
Untersuchung und Unterzeichnung dieses Vermerkes, nicht im Sinne der Anklage
schuldig gesprochen werden konnte.
Überraschungen
gab es auch bei den zahlreich geladenen Zeugen. In den Unterlagen der
Staatsanwaltschaft und des Gerichts wurde eine weibliche Person als Zeugin der
Anklage aufgeboten, die keiner von uns Angeklagten und Rechtsanwälten kannte
und wir folglich auch gespannt waren, was sie bezeugen sollte. Es stellte sich
heraus, sie war die ehemalige Ehefrau des zwischenzeitlich verstorbenen
Offiziers der Grenztruppen. Sie sollte als Zeugin aussagen, ob sie einen von
uns Angeklagten kenne, ob wir sie nach dem Ereignis vom 2. Oktober 1971 oder in
Vorbereitung auf diese Hauptverhandlung aufgesucht und beeinflusst hätten, wie
sie sich verhalten sollte. Diese Fragen des Gerichts beantwortete die Zeugin
mit einem klaren Nein.
Aufschlussreich
für die »Qualität« der Arbeit von ZERV, Staatsanwaltschaft und Gericht erschien
uns auch die Tatsache, dass der einzige Tatzeuge, der zur Bewachung des Grenzverletzers anwesende Wehrpflichtige, trotz der langen
Vorbereitungszeit des Prozesses nicht ermittelt werden konnte. Während der
Hauptverhandlung brachte die Anklagevertretung einen Bürger gleichen Namens in
den Zeugenstand. Er bestätigte, als Wehrpflichtiger Dienst bei den Grenztruppen
der DDR versehen zu haben. Zum Zeitpunkt des Vorkommnisses besuchte er aber
noch die Grundschule. Das war von den Vertretern der Anklage übersehen worden.
Ähnlich kuriose Aussagen wurden auch von den beiden anderen, weither aus
Thüringen und sogar aus der Schweiz vorgeladenen Zeugen erzielt. Die
Auswirkungen auf die zu zahlenden Zeugengebühren waren entsprechend.
Bereits
vor Beginn der Hauptverhandlung hatte mein Hausarzt mir eine »Verhandlungs- und
Vernehmungsunfähigkeit« schriftlich bestätigt. Davon machte ich zunächst keinen
Gebrauch. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, ich wolle mich vor der
Verantwortung drücken, ich wollte aber auch keine weiteren Verzögerungen in
dieser Sache verursachen.
Nach
dem 3. Verhandlungstag kam für mich aber das gesundheitlich bedingte »Aus«. Ich
musste im Krankenhaus Friedrichshain operiert werden. Der Vorsitzende Richter
konnte meine Entscheidung, trotz der Bestätigung vom Hausarzt, nicht
verhandlungsfähig zu sein, aber dennoch an der Hauptverhandlung teilzunehmen,
nicht verstehen. Das Verfahren gegen mich wurde abgetrennt und gegen die beiden
anderen Angeklagten weiter und zu Ende geführt. Es endete trotz
widersprüchlicher und unwahrer Aussagen von geladenen Zeugen mit einem
Freispruch.
Da
ich den Termin der Urteilsverkündung kannte und wusste, dass erneut
Journalisten an dieser Urteilsverkündung teilnahmen, verfolgte ich aufmerksam
die Veröffentlichungen der Medien, vor allem jener, die bei der Ankündigungen
des Prozesses besonders aktiv waren.
Es
gab keine Berichte über den Ausgang der Hauptverhandlung gegen die drei
Offiziere.
Für
das abgetrennte Verfahren gegen mich ergab sich für das Gericht die juristische
Notwendigkeit, das Verfahren erneut zu eröffnen und mit allen Zeugen, Aussagen
und Erkenntnissen nochmals durchzuführen. Ein Antrag auf
Verhandlungsunfähigkeit hätte für mich eine gründliche und langwierige
ärztliche Untersuchung durch einen Gerichtsmediziner bedeutet. Deshalb stimmte
ich dem Vorschlag meines Verteidigers zu, die Einstellung meines Verfahrens zu
gleichen Bedingungen wie bei dem Freispruch der beiden anderen Angeklagten zu
erreichen. Das Gericht stimmte dem zu.
Das
hat mir unter Umständen Prozesskosten in nicht unerheblicher Höhe erspart.
Unvoreingenommene
Leser der hier vorliegenden individuellen Erinnerungen werden zu dem Schluss
kommen, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit sich von der überwiegenden
Mehrheit der DDR-Bürger im Wesentlichen nicht unterschieden haben: Auch sie
wollten in Frieden und sozialer Sicherheit leben. Das schloss für sie den
Schutz und die Verteidigung der hart erarbeiteten Ergebnisse und Erfolge, die
Existenz der DDR überhaupt, ein. Dabei konnten sie sich auf den Einsatz vieler
Gleichgesinnter in allen Bevölkerungsschichten stützen.
Die
Beiträge lassen erkennen, wie das strategische Ziel des Zurückrollens und der
Beseitigung sozialistischer Entwicklungen maßgeblich durch geheimdienstliche
und andere subversive Institutionen, vor allem denen der USA und der BRD,
betrieben und zum Herausbrechen der DDR aus der sozialistischen
Staatengemeinschaft führen sollte. Dass das keine propagandistischen
Behauptungen waren und sind, wird im Detail in den Lebenserinnerungen der
Autoren sichtbar.
Die
Beschreibung konkreter Tätigkeit verdeutlicht zudem eine von den früheren und
heutigen Feinden der DDR bewusst negierte oder bestrittene Wirklichkeit: Die
DDR war ein Staat wie jeder andere auch. Allerdings unter der Prämisse einer
angestrebten sozialistischen Entwicklung, d. h. ohne Profitdominanz und
Eroberungsgelüste, zum Wohle seiner Staatsbürger. Es galt, eine in diesem Sinne
funktionsfähige staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu schaffen. Jedoch
unter außerordentlich schwierigen ökonomischen, politischen und ideologischen
Ausgangsbedingungen und bei ununterbrochenem Druck von außen. Die DDR,
jahrzehntelang als »Zone« diffamiert und als Staat von der kapitalistischen
deutschen Republik nicht anerkannt, sollte immer »befreit« werden.
Die
Betrachtung der eigenen Tätigkeit wirft natürlich auch Fragen nach
Fehlentscheidungen auf, mit denen schmerzhaft und nachhaltig in das Leben von
Menschen eingegriffen wurde. Beispiele wurden hier nicht ausgespart. Dies zu
nutzen für eine Verteufelung des MfS, wie sie seit Jahrzehnten durch Politik,
Medien, Verbänden, Bildungseinrichtungen, Gedenkstätten etc. zweckdienlich
praktiziert wird, ist unredlich. Geschichtliche Abläufe sind nur in deren
Zusammenhang mit den dabei herrschenden Bedingungen zu sehen und zu zeigen. Der
Kalte Krieg mit der jahrzehntelangen Systemauseinandersetzung beeinflusste auch
die Abwehr- und Aufklärungstätigkeit des MfS. In seinen Gründerjahren musste
einem Gegner standgehalten werden, dessen Leitungsebenen in den Geheimdiensten
mit erfahrenen Kadern der Gestapo, der SS oder des Amtes Abwehr beim
Oberkommando der faschistischen Wehrmacht durchsetzt waren.
Ja,
es gab drastisches Vorgehen, Härten und Zuspitzungen, auch falsche
Entscheidungen und Irrtümer. Sie waren letztlich politisch motiviert und
häuften sich insbesondere in Perioden, in denen die Führungen der Sowjetunion,
der DDR und des Warschauer Paktes den Sozialismus in seiner Existenz bedroht
sahen. In den Erinnerungen der Autoren spiegelt sich das vor allem in den 50er
Jahren wider, als sie von sowjetischen Beratern in die operative Arbeit
eingeführt, angeleitet und kontrolliert wurden. Sie mussten damals lernen,
Brandstiftungen, Sabotageakte, Anschläge auf Funktionäre etc. aufzuklären.
Bevorzugt werden zu Verleumdungszwecken gerade Vorgänge aus dieser
Gründungszeit als durchgängige Praxis bis 1989 dargestellt.
Wohl
hat sich das in der DDR gestaltete Sozialismusmodell als untauglich erwiesen.
Dies hebt jedoch nicht den Nachweis auf, dass es Prozesse in Gang gesetzt hat,
die sozialistischen Entwicklungen eigen sind,
etwa die Überwindung einer die Gesellschaft durchdringenden Profitherrschaft,
die Schaffung von Grundlagen für die Entwicklung neuer zwischenmenschlicher
Beziehungen, der Ausschluss von Aggressionskriegen, um nur Wesentliches zu
nennen. Davon ist vieles im kollektiven Gedächtnis großer Teile der Menschheit
haften geblieben. Das ist ein Grund, auf diese Leistungen stolz zu sein.
Die
Mitarbeiter des MfS haben zudem keinen unbedeutenden Anteil am friedlichen
Verlauf der Ereignisse im Herbst 1989. Sie mussten dennoch erleben, dass sie
und ihre Lebensleistung als Inbegriff des Bösen und als Merkmal sozialistischer
Entwicklung diskreditiert, verleumdet und juristisch verfolgt wurden. 25 Jahre
nach dem Anschluss der DDR ist es mehr als an der Zeit, damit Schluss zu
machen!
Als
Zeitzeugen sehen wir uns in einer besonderen Verantwortung, weil das Bewahren
und Weitergeben von Lebenserfahrungen sich als unverzichtbar für die Zukunft
erweist. Autoren und Herausgeber streiten darum mit verbündeten
gesellschaftlichen Organisationen und Verbänden gegen eine einseitige,
verfälschte und letztlich von ideologischer Verblendung und Hass diktierte
Vermittlung von Geschichte. Ganz im Sinne Bert Brechts, der einmal meinte: »Die
Schwachen kämpfen nicht. Die Stärkeren kämpfen vielleicht eine Stunde lang. Die
noch stärker sind, kämpfen viele Jahre. Aber die Stärksten kämpfen ihr Leben
lang. Diese sind unentbehrlich.«
Das
ist nicht nur ein Versprechen.
Die
Herausgeber
Adler,
Norman: DDR in Äthiopien und späte Lügen, 96 S., spotless
2013
Allertz, Robert: Die RAF und das MfS.
Fakten und Fiktionen, 224 S., edition ost, Berlin 2008
Allertz, Robert: Im Visier die DDR. Eine
Chronik. 190 S., edition ost,
Berlin 2002
Berger,
Jens: Theobald Tiger und der Stasi-Killer, spotless-Verlag,
Berlin 2004
Berliner,
Kurt: Der Resident. Ein Diplomat im Dienst der HV A erinnert sich, 320 S., edition ost, Berlin 2001
Böhm,
Peter: Spion bei der NATO. Hans-Joachim Bamler, der erste Resident der HV A in
Paris, 256 S., edition ost,
Berlin 2014
Buchholz,
Erich: DDR-Strafrecht unterm Bundesadler, edition
Zeitgeschichte Band 54, 1010 S., Kai Homilius Verlag
2011
Busse/Nehmer/Skiba: Herrn Henry Leides Umwälzung der Geschichte der DDR
(»Anti-Leide«), 214 S., GRH e. V., Berlin 2007
Eichner,
Klaus/Dobbert, Andreas: Headquarters Germany. Die
USA-Geheimdienste in Deutschland, 384 S., edition ost, Berlin 1997
Eichner/Langrock: Der Drahtzieher. Vernon Walters – Ein
Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges, Edition Zeitgeschichte Band 17, 280 S.,
Kai Homilius Verlag, Berlin 2005
Eichner/Rehbaum: Deckname Topas. Der Spion Rainer Rupp in
Selbstzeugnissen, 256 S., edition ost,
Berlin 2013
Eichner/Schramm:
Kundschafter im Westen, 385 S., edition ost, Berlin 2003
Eichner/Schramm
(Hrsg.): Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945, 640 S., edition ost, Berlin 2007
Foschepoth, Josef: Überwachtes Deutschland.
Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, 378 S., Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
Geschichte
der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS:
1.
Eichner/Schramm (Hrsg.): Hauptverwaltung A. Geschichte, Aufgaben, Einsichten.
Konferenz am 17./18. November 2007 in Odense/Dänemark, 320 S., edition ost, Berlin 2008
2.
Müller/Süß/Vogel (Hrsg.): Die Industriespionage der DDR. Die
wissenschaftlich-technische Aufklärung der HV A, 224 S., edition
ost, Berlin 2008
3.
Eichner/Schramm: Topspione im Westen: Spitzenquellen der DDR-Aufklärung
erinnern sich. Mit einem Vorwort von Markus Wolf und Werner Großmann, 320 S., edition ost, Berlin 2008
4.
Fischer, Bernd: Als Diplomat mit zwei Berufen. Die DDR-Aufklärung in der
Dritten Welt, 224 S., edition ost,
Berlin 2009
5.
Eichner/Schramm (Hrsg.): Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den
Geheimdienstzentren, 288 S., edition ost, Berlin 2010
6.
Rupp/Rehbaum/Eichner: Militärspionage: Die
DDR-Aufklärung in NATO und Bundeswehr, 288 S., edition
ost, Berlin 2011
7.
Fischer, Bernd: Der Große Bruder. Wie die Geheimdienste
der DDR und der UdSSR zusammenarbeiteten, 224 S., edition
ost, Berlin 2012
8.
Fischer, Bernd: Das Ende der HV A. Die Abwicklung der DDR-Auslandsaufklärung,
288 S., edition ost, Berlin
2014
Geyer,
Heinz: 40 Jahre Spionageabwehr. Der letzte Stabschef der HV A erinnert sich und
stellt richtig, 160 S., Kai Homilius Verlag, Berlin
2007
Graf,
Herbert: Interessen und Intrigen. Wer spaltete Deutschland? 288 S., edition ost, Berlin 2012
GRH
e. V. (Hrsg.): Siegerjustiz? Die politische Strafverfolgung infolge der
Deutschen Einheit. 735 S., Edition Zeitgeschichte, Kai Homilus
Verlag, Berlin 2003
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Weitere
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anderem auch download-Angebote des Sachbuches »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit
des MfS« sowie des Buches »Fragen an das MfS«).
ISBN 978-3-945187-08-1
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