Neues Deutschland, 23.März 2021, Seite 14
Ein kritischer Abgesang
Letzte Gedanken und Fragen zur Stasi-Unterlagen-Behörde in Abwicklung
Günter Benser
Am vergangenen Freitag übergab der Bundesbeauftragte für die
Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble den
15. und letzten (120-seitigen) Bericht seiner Behörde. Die in den Unterlagen
dokumentierte Geschichte sei eine große Chance, langfristig für Demokratie und
Menschenrechte zu sensibilisieren, meinte der letzte Amtsinhaber. Mit dem Ende
seiner Amtszeit im Juni sollen Millionen Akten der DDR-Staatssicherheit in die
Zuständigkeit des Bundesarchivs übergehen.
Als im März 2019 von Jahn und vom Präsidenten des Bundesarchivs, Michael
Hollmann, ein Konzept über die »Zukunft der Stasi-Unterlagen« vorgelegt wurde,
nahm dies der Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der
Arbeiterbewegung zum Anlass, sich eingehend mit den hier anvisierten Strukturen
und Maßnahmen zu befassen. Wir kamen zu der übereinstimmenden Auffassung, dass
dieses Konzept in der vorliegenden Fassung aus juristischen, archivfachlichen,
praktisch-finanziellen sowie kultur- und erinnerungspolitischen Gründen abzulehnen
ist und unterbreiteten unsere Argumente den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Während einerseits die
Linksfraktion auf unsere Eingabe an den Bundestag reagierte und wir erfreuliche
Unterstützung von einzelnen Persönlichkeiten und interessierten Gremien
erfuhren, erlebten wir andererseits Ignoranz. Nachdem dann das
Jahn/Hollmann-Konzept längere Zeit aus dem Fokus der Öffentlichkeit
verschwunden war, stand plötzlich, am 2. September 2020, ein Gesetzentwurf auf
der Tagesordnung der 111. Bundeskabinettssitzung zur Änderung des
Bundesarchivgesetzes, des Stasi-Unterlagen-Gesetzes und zur Einrichtung einer
oder eines SED-Opferbeauftragten, eingebracht von der Bundesbeauftragten für
Kultur und Medien. Bereits am 19. November wurde die Gesetzesnovelle vom
Bundestag angenommen.
Ohne Zweifel ist mit dem Übergang der Federführung aus dem Hause Jahn in
die Behörde der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien eine spürbare
Versachlichung und Zurücknahme politisch-ideologischer Überfrachtungen
eingetreten. Trotzdem weist das Änderungsgesetz Lücken, Tücken und
Ungereimtheiten auf, die bei seiner Verabschiedung nicht thematisiert worden
sind, auch nicht von der Sprecherin der Linkspartei.
Von führenden Vertretern des Bundesarchivs wurde schon vor Jahrzehnten
darauf hingewiesen, dass die Stasi-Unterlagen-Behörde nicht als Archiv, sondern
als politische Institution konzipiert worden war und entsprechend arbeitete.
Demzufolge erfordert deren Eingliederung eine archivwissenschaftliche Bewertung
der zu übernehmenden Bestände. Diese hat bisher nicht stattgefunden. In der
Begründung des Gesetzes wird argumentiert, »dass die Unterlagen ohne
archivfachliche Bewertung im Einzelfall in Gänze als archivwürdig zu bewerten
sind«. Und auch der Bundesarchivpräsident hat sich diese den Traditionen und
der Philosophie seiner Institution widersprechende Regelung zu eigen gemacht.
In seiner Erläuterung heißt es: »Im Bundesarchiv wird der Gesamtbestand der
Stasi-Unterlagen – eine bewertende Auslese wird es nicht geben – als Archivgut
dauerhaft Teil des kollektiven Gedächtnisses der deutschen Gesellschaft.«
Das liest sich wie eine besonders geschichts- und verantwortungsbewusste
Herangehensweise, ist aber in der Praxis die Umsetzung eines politisch-ideologischen
Konzepts, womit die höhere Dotierung der Stasi-Unterlagen gerechtfertigt werden
soll. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar – und Insider haben dies
bestätigt –, dass sich unter den Unmengen Papier der BStU nicht auch Massen an
historisch bedeutungslosen kassationswürdigen Aufzeichnungen befinden.
Andererseits hat das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auch in hohem
Maße Dokumente an sich gezogen, die nicht in den nun für sie vorgesehenen
Archivkorpus gehören. Das Sakrosankt-Sprechen jeglicher Stasi-Unterlagen lässt
sich nur damit erklären, dass entgegen mancher Beteuerungen aus jüngerer Zeit
der Umgang mit der Geschichte der DDR weiterhin aufs engste an das Wirken des
MfS gekoppelt werden soll. Und dies in einer sehr einseitigen Weise, denn wo
vom Aktenbildner MfS die Rede ist, geschieht dies losgelöst vom Kalten Krieg,
von der Interaktion beider deutscher Staaten, von Gemeinsamkeiten aller
Geheimdienste etc. Es ist nicht vorgesehen, die jüngere deutsche Geschichte als
Doppelbiografie zweier Staaten zu untersuchen und zu vermitteln. Da stellt sich
die Frage, ob sich die Gesetzgeber bewusst sind, von wo die Bedrohungen der
Demokratie heutzutage eigentlich ausgehen – von der verblichenen DDR oder von
gewaltbereiten Demokratieverächtern, Rechtspopulisten und Rechtsextremisten?
Wenn die Befürworter des Änderungsgesetzes die Stasi als Hauptinstrument
eines Repressionsapparates anprangern und als nicht zu leugnenden Teil der
DDR-Geschichte hervorheben, sind sie dazu natürlich absolut berechtigt.
Allerdings wird eine Beschreibung der Stellung, der Aufgaben und der
Funktionsweise des MfS, die fast ausschließlich auf Observierung und Repressierung von Bürgern der DDR abhebt, der
widersprüchlichen Realität nicht gerecht. Damit entsteht auch ein verzerrtes
Bild der nun vom Bundesarchiv zu übernehmenden Überlieferungen, denn die
Personenakten machen nach Auffassung von Insidern maximal 20 Prozent des
Bestandes aus und sind zu beträchtlichen Teilen der heute üblichen
Vorratsdatenspeicherung vergleichbar.
Offengeblieben ist auch, ob bei der vorgesehenen Konzentration von
Überlieferungen der DDR in der unter dem Dach des Bundesarchivs befindlichen
Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (Sapmo) nun auch die vor 30 Jahren von der Konrad-Adenauer-Stiftung
und der Friedrich-Naumann-Stiftung anmaßend vereinnahmten Archive der CDU (Ost)
und der LDPD einfließen werden. Der Gesetzentwurf beziehungsweise dessen
Begründung gibt auch keine Auskunft über die Kosten von Verlagerungen der BStU-Bestände
sowie erforderliche bauliche Aufwendungen. Es heißt da nur lapidar, es würde
keine geben. Es sind jedoch Außenstellen in Orten vorgesehen, die bisher gar
keine Archivstandorte sind; in Medien ist die Rede von einem aufwendigen
Archivbau in Rostock zur Aufnahme der Überlieferungen der drei Nordbezirke der
DDR.