Aus: NEUES DEUTSCHLAND, 12. Februar 2003
Der Schoß ist fruchtbar
noch...
Geschichtsaufarbeitung im
Dokumentarfilm – mit nützlichen Lehren für Gegenwart und Zukunft
Von Peter Richter
Neun ehemalige Offiziere des DDR-Ministeriums
für Staatssicherheit berichten in einem Dokumentarfilm über ihre Tätigkeit,
ihre Erklärungsversuche, ihr Selbstverständnis. Entstanden ist ein Zeitdokument
von überraschender Aktualität.
An einer Stelle des Films »Das Ministerium für Staatssicherheit – Alltag einer
Behörde«, der Montagabend zum zweiten Mal in Berlin öffentlich gezeigt wurde,
spricht Gerhard Rataizick, einst Leiter der MfS-Haftanstalt, von der Verfolgung
durch den Nationalsozialismus, der seine Familie ausgesetzt war. Und begründet
auch damit seine Tätigkeit für den Sicherheitsapparat der DDR: Das sollte sich
nicht wiederholen. Ehrhart Neubert von der Stiftung Aufarbeitung, die zusammen
mit der Birthler-Behörde Filmvorführung und anschließende Diskussion
organisierte, stieß sich daran, dass diese Aussage im Film geblieben ist; sie
könne Verständnis für den »Täter« wecken. Auch andere Zuschauer fanden zu wenig
vom Leiden der Opfer im Film wieder. Die Darstellung fast ausschließlich aus
der Täterperspektive, deren Rechtfertigungen verharmlosten ihr Tun. »Der
unbedarfte Zuschauer in Freiburg im Breisgau«, schimpfte Hans-Eberhard Zahn vom
Bund Freiheit der Wissenschaft, »könnte sie sogar sympathisch finden: Sie sind
Bürger wie wir auch, sie haben ihre Pflicht getan, räumen sogar Fehler ein,
sind ohne einen Schuss abgetreten, mit ihnen wurde auch nicht sehr sanft
umgegangen...« Der Film müsse unbedingt ergänzt werden, wenn er nicht eine
»Fehlwirkung« erzielen solle.
Das was hier teilweise vehement kritisiert wird, hat Regisseur Jan Lorenzen
offenbar ziemlich genau beabsichtigt. Natürlich nicht Verharmlosung, aber eine
Verallgemeinerung über die Stasi-Problematik hinaus, die Thomas Klein,
Historiker am Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam, in die Worte
fasst: »Die Korsettstangen eines solchen Systems sind Bürokraten mit ganz
bestimmten Fähigkeiten und Bereitschaften.« Die seien durchaus noch weit
verbreitet, Wiederholung mithin nie ausgeschlossen. Und einige Zuschauer
sprachen sogar von solchen »Wiederholungen« in der Gegenwart: Wenn man nach
einer Passkontrolle plötzlich nicht mehr über die Grenze käme, um nach Genua zu
fahren. Wenn die Haftanstalt im Westen auch nicht viel anders aussähe als der
Stasi-Knast.
Im Film werden die Aussagen der MfS-Offiziere mit Dokumenten ihrer Tätigkeit –
Beobachtungen, Verhöre, Haftbedingungen, Anwerbetechniken – konfrontiert, die
einen seltsamen Wiedererkennungseffekt haben. Ein Observationsstreifen entlockt
eben heute, wo man dauernd von Beobachtungskameras erfasst wird, nur noch ein
Gähnen. Verhöre werden in jedem Kriminalfilm viel brutaler dargestellt. Die
Werbemethoden sind bei keinem Geheimdienst von Offenheit und Fairness
gekennzeichnet. Neubert meinte gar, für Mielkes im Original dokumentierte Forderung,
mit einem »Schuft« kurzen Prozess zu machen, wenn man damit Millionen Menschen
rette, könnte mancher Verständnis aufbringen – ohne allerdings hinzuzufügen,
dass derartige Unmenschlichkeit nicht zuletzt zum Beispiel durch staatlich
angeordnete Liquidierungen in den israelisch besetzten Palästinensergebieten
»denkbar« wird.
Solche Zusammenhänge anzudeuten, die allgegenwärtige Gefahr des Einsatzes
repressiver Methoden aufzudecken – darin besteht die Stärke des 90-minütigen
Streifens, der demnächst in vier Berliner Kinos gezeigt werden soll. Seine
Schwäche liegt nicht im Verzicht auf die Opferperspektive, die – wie ein
Zuschauer klarstellte – auch nicht unvoreingenommen, wertfrei ist und damit
einer objektiven Darstellung wenig dienlich. Was tatsächlich fehlt, ist die
Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Konzept des Ministeriums für
Staatssicherheit. Was hier verfolgt und bestraft wurde, waren eben oft keine
Verbrechen, sondern selbstverständliche Bürgerbegehren – nach einer eigenen
Meinung, deren Austausch mit anderen, dem freien Zusammenschluss, dem
Demonstrationsrecht, der Freizügigkeit, also Rechten, die eine offene, demokratische
Gesellschaft auszeichnen. Dies bekämpft und so drakonisch geahndet zu haben –
darin liegt die Schuld der DDR und ihres wichtigsten Sicherheitsorgans.
In seinen Methoden – das demonstrierte der Film gewollt oder ungewollt –
unterscheidet sich hingegen das, was im MfS passierte, nur wenig vom
Funktionieren ähnlicher, auch heutiger »Behörden«, ob sie nun geheim oder ganz
offen agieren. Das zeigte sich schon beklemmend, als der Antifaschist Rataizick
über das auch von ihm zu verantwortende Haftregime im Stasi-Gefängnis
Hohenschönhausen spricht, die nur wenige Quadratmeter großen, oben vergitterten
Boxen beschreibt, in der die Häftlinge eine Stunde täglich an die frische Luft
kamen, auch klarstellt: Nein, mit ihrem Namen seien die Häftlinge nicht
angesprochen worden, nur mit ihrer Zellennummer. »Wie bei den Nazis«, fand der
Musikredakteur des Films, als er die erste Rohfassung sah.
In der Diskussion erinnert Thomas Klein aber auch daran, dass heute wieder
vermeintlich Gute zum Kampf gegen das Böse aufrufen und ihnen dafür offenbar
alle Mittel Recht sind. Er ist vorsichtig genug, nicht konkreter zu werden,
doch wer denkt dabei nicht auch an aktuelle Kriegsvorbereitungen – oder daran,
dass in den USA gerade eine Riesenbehörde für »Heimatsicherheit« geschaffen
worden ist und der Erzähler eines Witzes über Bush kürzlich wegen »Bedrohung
von Leib und Leben des Präsidenten« zu mehr als drei Jahren Gefängnis
verurteilt wurde?
(ND 12.02.03)