© Tageszeitung »neues deutschland« 07.06.2013
Hysterie statt Fakten
Krebsmediziner
kritisiert ignorante Debatte über Arzneimittelprüfungen in der DDR
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In der letzten Zeit berichteten Medien über Medikamententests westlicher Pharmafirmen in
der DDR . . .
Tests ist der falsche Begriff, wir reden hier über klinische Arzneimittelprüfung, einen notwendigen Bestandteil jeder Arzneimittelentwicklung. Die hat es gegeben, auch für Präparate ausländischer Hersteller. Aufwandsvergütungen von Prüfungen waren und sind bis heute in der ganzen Welt üblich.
• Welchen Umfang hatten diese Prüfungen?
Der Bericht der Untersuchungskommission der Ärztekammer Berlin-West von 1991 weist aus, dass sich für unverhältnismäßig viele Prüfungen, wie von einigen Medien behauptet, keine Bestätigung fand. Diese Kommission hat mit 68 an den Arzneimittelprüfungen beteiligten Ärzten gesprochen, schriftliche Unterlagen von 120 Prüfungen eingesehen und neun Krankenhäuser und Forschungsinstitute besucht.
• Nach welchen Standards wurden die Arzneimittelprüfungen durchgeführt?
Die Standards waren durch das Arzneimittelgesetz festgelegt und die Ärztekammer kam zu dem Ergebnis, dass die gesetzlichen Bestimmungen der DDR nicht hinter den Regelungen des bundesdeutschen Arzneimittelgesetzes zurückblieben, in einzelnen Punkten sogar darüber hinausgingen.
• Wo gingen sie darüber hinaus?
Ich könnte mir vorstellen, dass sich das auf die stärkere staatliche Kontrolle bezog. In diesem Fall kann sie positiv sein.
• Wussten die Probanden, was da passiert?
Vor jeder Erprobung eines Medikamentes ist eine Einschätzung der Risiken und die vorherige schriftliche Zustimmung des Probanden nötig. Das war auch in der DDR so. Man kann das in der Zeitschrift für klinische Medizin der DDR aus dem Jahre 1988 nachlesen.
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Halten Sie es für
möglich,
dass dies bei dem einen oder anderen Patienten damals nicht passiert ist?
Das ist eine komplizierte Frage. Man müsste sie dem jeweiligen Studienleiter stellen, und die Dokumente einsehen. Die Meinung von Patienten verdient immer unseren Respekt, aber vereinzelte Aussagen zu Jahrzehnte zurückliegenden Ereignissen oder Aufzeichnungen von Angestellten oder Zuträgern irgendwelcher DDR-Behörden ohne quellenkritische Bewertung zu benutzen, das ist unwissenschaftlich.
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Können
Sie für
Ihr Verantwortungsgebiet ausschließen, dass es Todesfälle gegeben hat?
Studienbedingte Todesfälle sind mir nicht bekannt. Im Zusammenhang mit den vielfach behaupteten Todesfällen als Folge von Arzneimitteltests in DDR-Kliniken ist anzumerken, dass keineswegs geklärt ist, ob diese Todesfälle überhaupt auf die Einnahme eines Arzneimittels zurückzuführen sind.
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Welche Firmen waren in der DDR aktiv?
Ich kann
ihnen nur etwas
zur Onkologie sagen,
denn die einzelnen Forschungsbereiche waren in der
DDR dezentralisiert. 1986 haben
wir am Zentralinstitut für
Krebsforschung eine Studie zum Tumomekrosefaktor
(TNF) mit der japanischen Firma ASAHI durchgeführt.
• Was ist daraus geworden?
Es ist kein Medikament
geworden, das heute angewendet wird. Damals war man jedoch in der ganzen Welt
voller Erwartung eines großen
Durchbruchs in der Krebstherapie. Die Firma ASAHI war die erste, die das
Medikament gentechnisch herstellte. Es war eine Anerkennung, dass wir an der
internationalen TNF Forschung mitwirken konnten.
• Sie können mit Sicherheit sagen, dass das alles
ordentlich gelaufen ist?
Jeder Patient ist aufgeklärt worden. Die
Ergebnisse kann man in einem weltweit beachteten Buch nachlesen, das 1988 im
Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg vorgestellt worden ist. Damals
hat der spätere
Nobelpreisträger
Harald zur Hausen mit dabei gesessen und Beifall geklatscht, als wir die Studie
vorgetragen haben.
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Umso mehr fragt man sich, warum immer so getan wird, als ob damals ganz
Ungeheuerliches vor sich ging.
Darauf habe ich eigentlich
auch keine Antwort. Ich kann nur sagen, ich bin sehr erschrocken über eine solche
Hysterie, zumal die Dinge 30 oder 40 Jahre zurückliegen. Damals hat man Vieles in der Forschung
auch noch anders beurteilt. Vielleicht gefällt es der Politik derzeit gerade, gegen die »böse Pharmaindustrie« Stimmung zu machen? Ich
schließe
auch nicht aus, dass die guten Ergebnisse vergessen gemacht werden sollen,
welche die DDR in der Krebsbekämpfung
hatte, das populationsbezogene Krebsregister beispielsweise. Was jetzt in
vielen Medien zu lesen war, ist Sensationsjournalismus und Ignoranz gegenüber der
wissenschaftlichen Aufarbeitung des Gebietes, die bereits stattgefunden hat.
• An der Universität Greifswald?
Hier hat der Lehrstuhl für Geschichte der Medizin
im Jahre 2010 ein großes
Meeting mit Wissenschaftlern aus Ost und West unter dem Titel »Medizinische Ethik in
der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?« durchgeführt. Die Ergebnisse sind 2010 von Hartmut Bettin
und Mariacarla Gadebusch Bondio veröffentlicht
worden. Jeder kann sich dieses Buch bestellen und die sauber mit Dokumenten belegten
Fakten nachlesen.
• Stattdessen immer wieder ein neuer medialer
Aufschrei. . ..
Das ging 1991 schon los,
sicher auch mit dem traurigen Hintergrund, keine Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen der DDR übernehmen zu wollen. Dabei täten diese auch der
Onkologie des Jahres 2013 manchmal noch gut.
• Welche zum Beispiel?
Die sehr pragmatische Früherkennung und die
Zentralisierung der Therapie sind solche Beispiele. In der DDR galt, wenn wir für eine Million Menschen
ein Behandlungszentrum haben, dann ist die
Erfolgsquote höher.
Ein Operateur, der die gleiche Sache hundert Mal im Jahr macht, kann das
besser. Zahlen stützen
diese Strategie. In der DDR starben gemessen an der Gesamtbevölkerung zehn Prozent
weniger Menschen an Krebs als in der Bundesrepublik. Das belegt eine internationale
Studie über
die Jahrgänge
1978 bis 1982, veröffentlicht
vom Bundesgesundheitsamt. Dort hatte bestimmt niemand Interesse daran, irgendetwas
in der DDR zu beschönigen.
• Wo sehen Sie die Gründe für die bessere Überlebensrate?
Ein
zentralistischer Staat wie die DDR hat es manchmal leichter, unpopuläre aber vernünftige Dinge für die Gesundheit der
Menschen, durchzusetzen Darüber
lohnt es sich vielleicht nachzudenken und nicht stattdessen das redliche und seriöse Wirken von Medizinern in der DDR und darüber hinaus die weltweit
bis heute nie ganz risikofreien Arzneimittelerprobungen in eine dunkle Ecke zu stellen.
Dies schadet dem Vertrauen zur Medizin, dem medizinischen Fortschritt und damit
nachhaltig den Patienten.
Stephan Tanneberger,
geboren 1935 in Chemnitz, gehört zu den bekanntesten Krebsspezialisten der DDR.
Er ist Professor für klinische und experimentelle Tumorbiologie und leitete bis
1990 das Zentralinstitut für
Krebsforschung (ZIK) der Akademie der Wissenschaften
der DDR sowie das nationale Krebsforschungs- und Krebsbekämpfungsprogramm.
Danach arbeitete er als Onkologe in Entwicklungsländern, lehrte an der
Universität Bologna und gründete ein Friedenszentrum in Anklam. Zusammen mit Hartmut
Bettin vom Institut für Geschichte der Medizin am Universitätsklinikum
Greifswald hatte er sich kürzlich an die Öffentlichkeit gewandt, um gegen die
Verurteilung von DDR-Medizinern wegen ihrer Beteiligung an
Arzneimittelprüfungen zu protestieren. Mit ihm sprach Silvia Ottow.