"junge Welt", 04.04.2016
Die Methoden der Aufarbeiter
Vorabdruck. Die
Verfahren staatlich geförderter Einrichtungen zur Fälschung der DDR-Geschichte
Von Matthias Krauß
Die staatlich subventionierte »Aufarbeitung der SED-Diktatur« prägt die öffentliche Meinung über die DDR und den Umgang mit ihren ehemaligen Bürgern. Dabei ist das vermittelte Geschichtsbild höchst einseitig und die Lebensleistung zahlloser Menschen wird denunziert. Matthias Krauß, früherer Redakteur derMärkischen Volksstimme, stellt sich in seiner am 11. April erscheinenden »Streitschrift« unter anderem die Frage »Welcher Methoden bedienen sich die Aufarbeiter?« Aus dem dazu von ihm verfassten Kapitel veröffentlicht jW einen Auszug.
Was heutzutage unter dem Label
»Aufarbeitung der DDR-Geschichte« stattfindet, ist seinem Wesen nach
SED-Propaganda mit umgekehrtem Vorzeichen. Da gibt es mal bessere und mal
schlechtere Beiträge, das aber traf auf die SED-Propaganda auch zu. Mit dieser
Einschätzung ist übrigens nicht gemeint, dass im Zuge der Aufarbeitung in
bedeutendem Umfang billig gelogen oder gefälscht würde. Für die Art und Weise, mit
der das Publikum nachdrücklich belästigt wird, ist typisch, dass die
vorgebrachten Einzelheiten stimmen. Dennoch wurde bzw. wird getäuscht,
getrickst und manipuliert, was das Zeug hält.
Bei diesem Vorgang handelt es sich
um das Verbreiten der Unwahrheit sozusagen in höherem Sinne. Denn am besten
lügt es sich immer noch mit der Wahrheit. Der Vorgang ist so simpel und
durchschaubar, wie er wirkungsvoll ist. Sein Grundschema: Angenommen, für einen
Sachverhalt sprechen 500 Aspekte, und drei sprechen gegen ihn. Jetzt gebe man
den 500 Aspekten einfach das Gewicht der drei und den dreien das Gewicht der
500. Gelogen wird dabei nicht im engeren Sinne, sondern im weiteren. Hierbei
handelt es sich um eines der beliebtesten Verfahren der Aufarbeitungsindustrie.
Wer hier mental eingerastet ist, für den ist das daraus Folgende einfach nur
folgerichtig.
Der wirkmächtigste deutsche Dichter
des 20. Jahrhunderts, Bertolt Brecht, war ein leidenschaftlicher Anhänger der
DDR, er entschied sich bewusst für diesen Staat und sein politisches System.
Dafür gibt es nicht 500, dafür gibt es 1.000 Belege. Es gibt aber auch eine
Handvoll Belege dafür, dass Brecht sich nachdenklich-kritisch gegenüber der DDR
äußerte. Was geschieht nun heute? Thema ist Brechts »gespaltenes Verhältnis«
zur DDR (Wochenmagazin Epoch Times
Deutschland), dass DDR-Funktionäre ihm »Steine in den Weg gelegt« hätten
und dann auch noch, »wo immer sie konnten«, dass er natürlich »missbraucht«
worden sei (Kulturmagazin Globkult), dass
der FDJ-Zentralrat ihn »am Arsch lecken« könne (Berliner Zeitung), dass
er sich dem Kommunismus gegenüber »taktisch verhalten« und eine »innere
Distanz« bewahrt hätte (Die Welt). Fast ausschließlich die kritischen
Äußerungen Brechts werden vorgetragen, das Entscheidende bleibt gleichsam
»unter Verschluss«, denn es passt nicht in das gewünschte Bild. Aber Bertolt
Brecht hielt – bei aller gebotenen Nachdenklichkeit – mit allen Fasern seines
Wesens zur DDR. Er war sogar bereit, nach den Ereignissen vom 17. Juni 1953 in
die SED einzutreten.
Natürlich darf sich der Kritiker
dieser Zustände auf ein solches Niveau nicht begeben, und es darf ihm nicht
darum gehen, den einseitigen Verteufelungen der DDR ihre einseitige
Idealisierung entgegenzusetzen. Vielmehr gilt bloßzulegen, welche unredlichen
Verfahren von der Aufarbeitungsindustrie in Anschlag gebracht werden. Dieser
Vorgang entzieht sich keineswegs der Analyse, obwohl das den Aufarbeitern nun wirklich am allerwenigsten schmeckt.
In dem offenen Brief vom November
2013 an Vertreter der Bundesregierung und weitere Spitzenpolitiker mit der
Forderung nach Fortsetzung der Millionenzahlungen (für ihre Arbeit, jW) verkündeten die Institutionen der Aufarbeitung,
dass sie »mit ihrer wichtigen Arbeit einen unverzichtbaren Beitrag bei der
Aufklärung über die kommunistische Diktatur leisten« würden. Aber vollbringen
sie wirklich Aufklärung? Handelt es sich um Aufarbeitung im eigentlichen Sinne?
Welche Methoden werden in Anschlag gebracht? Das Grundschema fällt auf den
ersten Blick ins Auge: Der Westen wird auf seine positiven Seiten reduziert,
die DDR auf ihre negativen Gesichtspunkte, und diese Melange wird der
Bevölkerung als Welt- und Geschichtsbild aufgedrängt. Doch lohnt auch das
genauere Hinsehen. Es ist nicht schwer, diesen Vorgang zu analysieren, die
Methoden aufzudecken, das Ganze zu durchdringen.
Nur
Negatives
Auf die sinnentstellende,
verzerrende inhaltliche Gewichtsverschiebung als ein erstrangiges
Grundverfahren der Aufarbeitung sind wir am Beispiel Bertolt Brechts schon
eingegangen. Tatsächlich lässt sich – zweitens – der deutschen Aufarbeitung
vorwerfen: Das Problem liegt weniger in dem, was sie sagt, als vielmehr in dem,
was sie bewusst verschweigt. Ein grundlegendes Verfahren ist die zielbewusste
Vorauswahl der überhaupt zur Erörterung zugelassenen Aspekte. Wie an den
Schwerpunkten der Stiftung Aufarbeitung (Bundesstiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur, jW) ablesbar ist, führt
diese Vorauswahl dazu, den negativen Gesichtspunkten das entscheidende Gewicht
beizumessen und so zu tun, als sei dies alles, was zu dem Gegenstand der
Erörterung wert wäre.
Dies ist eben ein weiterer Trick:
Beim geschichtlichen Rückblick deutscher Medien und Politiker werden konsequent
die für den DDR-Staat ungünstigsten Erscheinungen gewählt. Andere werden
ausgeblendet oder, wenn das beim besten oder vielmehr schlechtesten Willen
nicht möglich ist, zu Nebensächlichkeiten herabgestuft.
Defizite der DDR werden bis in die
kleinsten Verästelungen ausgeleuchtet, zivilisatorische Fortschritte
beachtlichen Ausmaßes dagegen bewusst außer acht gelassen. Dass in der DDR das Schlagen von
Kindern in der Schule verboten war, während in der BRD noch jahrzehntelang
munter auf Schüler eingedroschen werden konnte, passt nicht ins Bild. Also
bleibt diese Gegenüberstellung ausgeblendet. Dass Frauen im Westen bis 1977
ihren Ehemann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie arbeiten wollten oder sich
ein Bankkonto einrichten, während schon in den Gründungsdokumenten der DDR die
Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe postuliert
worden ist, desgleichen. Dass die Bundesrepublik den verbrecherischen Vietnamkrieg
unterstützte, während die DDR auf der Seite der um ihre nationale Freiheit
kämpfenden Menschen stand, findet keinen Eingang in die Bewertung. Dass die
DDR-Programme der Wiedereingliederung einstiger Strafgefangener so aufwendig
wie vorbildlich gewesen sind und allem überlegen, was sich uns an dieser Stelle
in der Gegenwart bietet, werden die Aufarbeiter nicht
einmal aus Versehen in den Mittelpunkt rücken. Und so weiter.
Grundtugend
geistige Armut
Diese Aufarbeitung ist vor allem
eins: arm. Ihre ganze Daseinsweise ist von einer schockierenden
Mangelhaftigkeit; es ist, als hätte die deutsche Aufarbeitungsindustrie ein
Gelübde zur geistigen Armut abgelegt; es herrscht ausgesprochene Einseitigkeit
als Grundtugend. Und das hat sie wieder mit der SED-Propaganda gemeinsam. Für
die existierte seinerzeit der kapitalistische Westen unter den Aspekten
Hochrüstung, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Neofaschismus, Drogenabhängigkeit
und Sozialabbau. Für die heutige Aufarbeitungspropaganda existiert die
sozialistische DDR unter den Aspekten Mauer, Schießbefehl, Mangelangebot,
Staatsbürgerkunde und Bespitzelung durch die Stasi. Beide Seiten hatten bzw.
haben zunächst damit nicht unrecht, sowohl als auch
handelt es sich um Züge, die bei der Gesamtschau nicht übergangen werden
dürfen. Problematisch wird es, wenn es sich darauf reduziert.
In beiden Fällen ist der Tunnelblick
Konvention. Aber: Weil das heute von den Aufarbeitern
gezeichnete Bild von der DDR allein die Annahme transportiert, dass sie
keinerlei Werte verkörpert hat, nichts von Wert anstrebte und schon gar nichts
von Wert schuf, ist es falsch. Genauso einseitig und falsch, wie das Bild des
Westens war, das in der DDR gezeichnet wurde.
Historische und beweisbare Tatsache ist vielmehr, dass die DDR sich wertvolle
Dinge vornahm und – auf bestimmten Feldern jedenfalls – dabei erstaunlich weit
vorangekommen ist. Die Aufarbeitung in Deutschland abstrahiert davon
wissentlich und willentlich, ist also nicht auf die Beseitigung von Defiziten
aus, sondern darauf, diese Defizite überhaupt erst zu produzieren und zu
verstetigen.
Frei von
Zusammenhängen
Ein weiteres Verfahren, wie es für
die Aufarbeitungsindustrie typisch ist, ist das notorische Ausblenden von
Zusammenhängen. Aber die Darstellung von Zusammenhängen scheuen die Aufarbeiter wie der Teufel das Weihwasser. Als hätte Adorno
(in Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung des Hitlerfaschismus durch die
westlichen Siegermächte; Krauß verallgemeinert Adornos Erkenntnisse, jW) das geahnt, schrieb er in seinem Aufsatz »Was
bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«: »Zuweilen werden die Sieger zu
Urhebern dessen gemacht, was die Besiegten taten, als sie selber noch obenauf
waren, und für die Untaten des Hitler sollen diejenigen verantwortlich sein,
die duldeten, dass er die Macht ergriff, und nicht jene, die ihm zujubelten.«
Versöhnung mit Kommunisten gibt es
nicht. Unter dieser Maßgabe der Aufarbeitung wird die DDR ständig isoliert
betrachtet. Dabei kann niemand die Verbrechen der DDR sinnvoll einordnen, ohne
sich vor Augen zu halten, was um sie herum geschah, und vor allem: welche
Verbrechen in der gleichen Zeit die westlichen Demokratien begingen. 136
Mauertote, Tausende im Stasi-Knast und Restriktionen bei Auslandsreisen sind
Tatsachen, die hier den Millionen und Abermillionen Opfern entgegenstehen, die
mit Leid und Tod für westliche Macht- und Aneignungsinteressen bezahlt haben.
Was unterscheidet die Opfer der DDR von denen, die der freie und demokratische
Westen gefordert hat? Die Antwort ist denkbar leicht: Die zu Opfern der DDR
Stilisierten haben in der Regel überlebt und sind heute dazu imstande, sich
ihre einstigen Gegner vorzuknöpfen.
Man mag einwenden, dass es
unstatthaft ist, das Verbrechensvolumen eines Landes gegen das einer ganzen
Staatengruppe aufrechnen zu wollen. Doch im Einzelvergleich kommen die
westlichen Staaten auch nicht besser weg. Nehmen wir als Beispiel Frankreich in
den Blick, seit 1949 Traditionsfreund, Herzensbruder, mit dem Westdeutschland
wie selbstverständlich eine Wertegemeinschaft bildet. Bei dem verbrecherischen
Versuch, seine Kolonie in Indochina wiedereinzurichten, hat Frankreich bis 1956
1,7 Millionen um ihre nationale Unabhängigkeit kämpfende Menschen umgebracht.
In Algerien fand dieser grauenhafte Vorgang bis 1962 statt und kostete zwischen
800.000 und 1,1 Millionen Menschen das Leben. Madagaskar hatte »Glück«, da
waren es nur 80.000 Opfer, welche die europäische Kolonialmacht forderte, bevor
sie abzog. Massenermordung von Gefangenen, Massenfolterungen, Vergewaltigungen
– kein Verbrechen hat bei diesen Kriegen gefehlt. Strafrechtlich aufgearbeitet
wurde diese Zeit jedoch nie. Dass Zehntausende Deutsche in den Uniformen der
Fremdenlegion einen Großteil dieser Kolonialmassaker verübten, sei hier nur am
Rande vermerkt.
Will im Ernst jemand behaupten, die
DDR habe auch nur den Bruchteil einer solchen Schuld auf sich geladen? Wer hat
also Grund zur kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte?
Starres
Geschichtsbild
Eines denkenden Menschen unwürdig
ist die peinliche ahistorische Statik in der geschichtlichen Wahrnehmung der Aufarbeiter. Sie offenbart eine Beschränkung, für die es
schon in der vierten Schulklasse eine schlechte Note geben müsste. Während es
sich von selbst versteht, dass die Bundesrepublik der 50er Jahre nicht die der
80er Jahre war, ignorieren sie standhaft, dass auch in der DDR die Dinge im
Fluss waren. Dass sich die führende Partei vielfach korrigierte, dass sie neue Wege beschritt, fällt konsequent unter den
Tisch. Der Einfachheit halber – aber eben unsachgemäß – werden DDR-Merkmale der
Frühzeit für die späteren Jahre geltend gemacht.
Dafür wiederum ein schillerndes
Beispiel: Walter Ulbrichts kindische Verhöhnung der Beatmusik ist anscheinend
alles, was zum Thema DDR und Rockmusik zu sagen wäre. Oder doch nicht? Mal
abgesehen davon, dass Rockmusik seinerzeit in der alten BRD auf ähnliche
Vorbehalte und Widerstände gestoßen ist: Dass in der DDR kurz nach Ulbrichts
unqualifizierter Einlassung wichtige Korrekturen stattfanden, ist genauso wahr.
Im Schullesebuch (!) der 80er Jahre findet sich der Text »Give
Peace a Chance«, in dem John Lennon ausdrücklich
gewürdigt und bewundert wird und in dem ein Junge schreibt: »Ich fand John,
seine Kollegen und ihren Schlachtruf ›Yeah, Yeah, Yeah!‹
unheimlich stark.« Es gibt Grund zu der Annahme, dass in der DDR der
Deutschrock erfunden worden ist, zumindest aber in einem Maße an Breite
gewinnen konnte, wie das für die ehemalige Bundesrepublik undenkbar gewesen
wäre. Die DDR richtete den weltweit ersten Lehrstuhl für Rockmusik an einer
Universität ein. Um nur ein paar Details zu erwähnen, die eine sinnvolle
Einordnung gestatten würden.
Das gleiche
– nicht dasselbe
Nicht zuletzt hat die Aufarbeitung
sich selbst in die Pflicht genommen, niemals etwas anderes anzulegen als
zweierlei Maß. Die – alles in allem – äußerst zurückhaltend angewandte
Todesstrafe in der DDR gilt als Beleg für ihre Unmenschlichkeit. Die
praktizierte Todesstrafe in den USA, in Frankreich (bis 1981) und in
Großbritannien (immerhin noch bis 1965) konnte und kann die westliche
Wertegemeinschaft aber trotz vereinzelter Proteste nicht erschüttern.
Häftlingsarbeit zu DDR-Zeiten ist »Zwangsarbeit«, besser noch: »Sklavenarbeit«.
Häftlingsarbeit in den USA? Siehe Wertegemeinschaft. Hier wird das Streben
offenbar, an seinen Gegner Maßstäbe anzulegen, vor denen man die eigene Seite
verschont. Das ist sittenlos, schamlos, der geistigen Arbeit nicht würdig.
Scheinheilige
Unterscheidung
Ein weiterer übler Trick bei der
Aufarbeitung besteht darin, theoretisch die Gleichwertigkeit von Naziverbrechen
und SED-Untaten zu verneinen, sie aber in der Praxis immer wieder
zusammenzuspannen. Am weitesten geht dabei die Gedenkstätte Hohenschönhausen.
Ungeniert werden dort Ausstellungen gemacht wie »Ich habe meine Pflicht getan –
Täter im Dritten Reich und in der DDR«. Oder: »Deutsche Diktaturen vor Gericht
– Die strafrechtliche Aufarbeitung von NS- und SED-Verbrechen«. Das ist eine
Groteske vor allem deshalb, weil ja nicht die diktatorische DDR, sondern die
demokratische Bundesrepublik Deutschland der sichere Hort für die Nazitäter
gewesen ist. Im Westen Deutschlands sind Hitlers willige Vollstrecker in
Machtpositionen gelangt oder geblieben, konnten ihre Seilschaften ausbilden und
ihre Nachkommenschaft auf lukrative Posten hieven. Die BRD war kein
faschistischer Staat, nein. Aber sie war ein Staat der Faschisten. Sie war ein
Staat, in dem Faschisten sich geborgen und vor Strafverfolgung geschützt fühlen
konnten. Die DDR hat das heute zu büßen.
Absichtsvolles
Verleumden
Die Aufarbeiter
lassen es sich zudem angelegen sein, unbewiesene und sogar widerlegte
Behauptungen aufzustellen und sie so lange zu wiederholen, bis daraus eine
»Wahrheit« wird. Studieren lässt sich das wiederum am Gebrauch des
Unrechtsstaatsbegriffs. Keine dazu befugte Institution hat die DDR als
»Unrechtsstaat« eingestuft, sie erfüllt auch kein Kriterium dafür. Dass sie als
Unrechtsstaat bewertet werden könnte, ist juristisch vom brandenburgischen
Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg widerlegt.
In den Berichten von Amnesty International, die von 1972 bis 1990 auch über die
DDR erschienen, findet sich kein einziger Beleg, der die DDR als »Unrechtsstaat«
einstufen würde. Wenn sie kein Rechtsstaat im Sinne des deutschen Grundgesetzes
war, so teilte sie diese Eigenschaft mit 80 bis 90 Prozent aller auf der Erde
damals existierenden Staaten. Wenn die alle »Unrechtsstaaten« wären, ja, dann
war natürlich auch die DDR einer.
Lohnt sich angesichts dieses
Übermaßes an geistigem Unfug überhaupt noch ein Wort? Wenn nun führende Aufarbeiter angesichts ihrer argumentativen Schwächen sich
dagegen verwehren, »auf Augenhöhe« mit ihren intellektuellen Kontrahenten zu debattieren,
dann ist ihnen zuzustimmen – allerdings in einem völlig anderen Sinne. Denn es
sind Deutschlands Aufarbeiter, welche die nötige
Augenhöhe nicht erreichen.
Ständiges
Lärmen
Wenn ein Ideologiekombinat wie die
deutsche Aufarbeitungsindustrie seine Existenzberechtigung unter Beweis stellen
will, muss es trommeln, was das Zeug hält. Denn es geht in der heutigen Welt
weniger darum, recht zu haben, als vielmehr recht zu
behalten. Und schließlich will es Millionen aus dem Steuertopf, die man nicht
einfach so bekommt, zumal auch bei den Spendern inzwischen Fragen auftauchen.
Dieser Trick der Aufarbeiter besteht also im
ständigen Lärmen. In der Nutzung ihrer ausgezeichneten Kontakte in die
wichtigsten Medien hinein überbietet sie niemand. Es gilt, sich permanent als
Rächer im Dienste der Wahrheit zu inszenieren, der dunklen Mächten
gegenübersteht, denen die Maske vom Gesicht zu reißen ist.
Inzwischen fechten Historiker, die
sich ihre sachliche Herangehensweise bewahren wollen, mit jenen einen Streit
aus, die ihre ideologisch motivierten Thesen verbindlich machen wollen und
dabei breite Unterstützung in den Medien finden. Tatsache ist jedoch: Die DDR
wurde seit 1949 von ihren Feinden umfassend durchleuchtet, ihre
Herrschaftsmechanismen waren schon 1990 genügend erforscht, die Zugänglichkeit
der DDR-Archive hat den Beispielreichtum erhöht, nicht aber die Aussagen
geändert. Umso geschickter muss der Virtuose die Klaviatur bedienen. Wo nicht der
Inhalt eine Rechtfertigung darstellt, da schaffen es sicher Rhythmus und Klang.
Ohne
Selbstreflexion
Der Block der Aufarbeiter
ist sich in einem entscheidenden Punkt weitgehend einig: Über die juristischen,
ethischen oder auch rechtsstaatlichen Grundlagen ihres Anliegens reflektieren
sie nicht. Das ist ein wichtiges Merkmal, eine wesentliche Voraussetzung ihrer
Tätigkeit. Es ist aber gleichzeitig, gerade weil diese Aufarbeitung eng mit der
Verfolgung ehemaliger Angehöriger der DDR-Staatssicherheit zusammenhängt, also
mit dem unmittelbaren Demütigen und Entrechten von Menschen, mit Berufsverboten
und vielem mehr, ein unzulässiges, ein empörendes Versäumnis. Man halte sich
vor Augen: Diese seit zweieinhalb Jahrzehnten andauernde Verfolgung gilt
Menschen, die keine Straftäter sind. Oder hat irgend jemand schon einmal vernommen, dass es einen
Straftatbestand darstellt, den Geheimdienst seines Vaterlandes zu unterstützen?
Natürlich werden die Aufarbeiter wissen, dass jeder
Mensch der Welt das Recht besitzt, mit seinem nationalen Geheimdienst
zusammenzuarbeiten.
Ist die DDR der einzige Staat der
Weltgeschichte, bei dem das nicht gegolten hat? Wenn dem so wäre – warum sagen
es die Aufarbeiter nicht einfach? Wenn ein Russe den
russischen Geheimdienst unterstützt, ein US-Amerikaner den CIA, ein Franzose,
ein Brite, ein Pole die Geheimdienste ihrer jeweiligen Länder, so ist das
etwas, womit man im nachhinein sogar prahlen kann,
wohinter möglicherweise eine moralische Verpflichtung steht. Eine Handlung, die
im Westen bewundert wird, ist jedoch ein Verfolgungsgrund, wenn ein DDR-Bürger
sie beging. Das ist ein offenkundiges Bekenntnis zum Grundsatz »Wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe«.
Fehlende
Sachlichkeit
Das führt zum letzten Punkt: Weil
auf der Hand liegt, dass die alles beherrschende einseitige Sicht auf die DDR
ahistorisch und unangemessen ist, in ihren Auswirkungen ethisch und
rechtsstaatlich extrem bedenklich, und weil es geradezu kinderleicht ist, sie
zu widerlegen, ist noch ein entscheidendes, vielleicht das wichtigste Mittel
der Aufarbeiter zu beleuchten: Sie arbeiten einer
sachlichen Auseinandersetzung gezielt entgegen. Weil die Aufarbeiter
in besser informierten Kreisen argumentativ nicht bestehen, werden Machtmittel
gegen Andersdenkende eingesetzt. Denn Macht hat der deutsche Staat ihnen
gegeben, und in die Medien hinein sind sie hervorragend vernetzt.
Veranstaltungen, die immerhin vom Steuerzahler finanziert werden, werden in
schamloser Einseitigkeit besetzt. Publikationen finanziert, wenn sie die
genehme ideologische Ausrichtung versprechen. Dieses Gehabe wird als
Wissenschaft oder Forschung ausgegeben.
Ein auf wundersame Weise dressierter
Mainstream-Journalismus steht den Aufarbeitern zur
Seite, verordnete sich in diesem Punkt Selbst-Gleichschaltung und sorgt dafür,
dass kaum jemand öffentlich die »falschen Fragen« stellen kann. Inzwischen
werden sogar Menschen wie Friedrich Schorlemmer, Daniela Dahn, Matthias
Platzeck oder Lothar de Maizière, die sich der unverfrorenen Einseitigkeit
nicht beugen, ins Zwielicht gerückt. Sie werden geschnitten, ausgegrenzt,
verleumdet. Menschen, die anderer Meinung sind, werden nicht an die Mikrofone
gelassen. Weil die Aufarbeiter in sachlichen
Auseinandersetzungen nicht bestehen, wählen sie als Kampffeld die Unsachlichkeit.
Sie schämen sich nicht, wissenschaftliche Fragestellungen politisch und mit
institutionellen Machtmitteln entscheiden zu wollen.
Diese Aufarbeitung erfüllt nicht die
Kriterien einer sachlichen Geschichtsbetrachtung, sie erfüllt die der Bauernfängerei.
Es handelt sich um die Wiederauferstehung der Propaganda. Ihre traurigen
Triumphe beruhen auf vorschriftsmäßig erworbener Erkenntnis, vor allem aber auf
Unkenntnis.
Matthias Krauß: Wem nützt die »Aufarbeitung«? Die institutionalisierte Abrechnung. Eine Streitschrift. Berlin 2016, Edition Ost, 204 Seiten, 12,99 Euro – auch im jW-Shop erhältlich