„junge Welt“, 09.04.2016
Streit um Tod
Vor 35 Jahren starb
Matthias Domaschk in der U-Haftanstalt der
Bezirksverwaltung des MfS in Gera. Suizid sagten die DDR-Behörden, Mord heißt
es in Politik und Medien nach der Wende
Von Robert Allertz
Robert Allertz erinnerte auf diesen Seiten am
27.1.2015 an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote
Armee im Januar 1945. Eine umfassende Publikation zum Fall »Domaschk«
und dem heutigen Umgang damit ist in Vorbereitung.
Am 12. April 1981 starb in Gera ein junger Mann. Der Leichnam hing an einem
Heizungsrohr, um seinen Hals spannte sich eine Schlinge, die aus seinem Hemd
gewunden worden war. Die Strangulation hatte zum Tode geführt, befanden die
Gerichtsmediziner. Die Umstände deuteten auf einen Suizid.
Wie meist in solchen
tragischen Fällen, wenn Menschen unerwartet Hand an sich legen, zweifeln auch
hier Angehörige, Freunde und Bekannte an einer derartigen Feststellung. Sie
können sich nicht vorstellen, dass jene Person, die ihnen vertraut und lieb war,
sie einfach allein gelassen haben soll. Ohne Gruß und Abschied. Und sie wollen
es sich auch nicht vorstellen, denn Wahrheit schmerzt. Darum suchen sie nach
Fakten, die den eigenen Zweifel an der gegebenen Darstellung nähren, weil sie
nicht glauben wollen, dass sich alles genau so zugetragen haben könnte, wie es
ihnen mitgeteilt worden ist. Sie suchen »nach der Wahrheit«, weil unterstellt
wird, dass sie nur Lügen zu hören bekamen. »Die Wahrheit« ist also die
Widerlegung der Feststellung, dass der 23jährige Matthias Domaschk
an jenem Apriltag 1981 Selbstmord begangen hat.
Wer war Matthias Domaschk?
Domaschk wurde 1957 in Görlitz geboren. Der Vater gehörte der SED an und arbeitete
als Technischer Leiter in einem feinoptischen Betrieb, was auch der Grund war,
weshalb die vierköpfige Familie 1970 nach Jena zog. In der Forschungsabteilung
von Carl Zeiss fand der Vater eine neue Herausforderung, die Mutter als
Pförtnerin und Bibliothekshelferin an der Sektion Theologie der
Schiller-Universität einen Job. Es gab den üblichen Vater-Sohn-Konflikt,
weshalb der Filius bereits vor dem Abitur aus der
elterlichen Wohnung auszog.
Er stieß zur Jungen
Gemeinde. Das war insofern nichts Ungewöhnliches, weil überall auf der Welt
Menschen in diesem Alter auf der Suche sind und eine tiefe Aversion gegen die
ausgetretenen Pfade der Alten haben. Statt staatstreuer FDJ also unorthodoxe
Jugendarbeit unter dem Dach der Kirche, denn die Religion war es ganz gewiss
nicht, die die jungen Leute – man spricht von bis zu 30 – regelmäßig zusammenführte.
Die sogenannte
Kirchenlinie des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) interessierte sich ja
auch nicht für Religion und Religionsausübung, sondern nur dafür, ob solche
Zusammenkünfte außerhalb der etablierten Strukturen sicherheitspolitische Relevanz
hatten und ein politischer Missbrauch von Kirche und Religion im Sinne der
Verfassung auszuschließen war, wie es im DDR-Amtsdeutsch hieß. Ganz gewiss
wurde die Sicherheit des Staates nicht davon bedroht, ob ein paar Dutzend
junger Leute die Köpfe zusammensteckten, ketzerische Reden hielten und
Resolutionen verfassten. Doch nicht nur Lenin und Genossen wussten, dass aus
dem Funken Flammen werden könnten, weshalb sie programmatisch ihre seinerzeit
in Leipzig gedruckte Zeitung Iskra nannten,
was bekanntlich »Funke« heißt. Also gab es im MfS eine »Linie 4« in der
Hauptabteilung XX, die sich mit dem politischen Missbrauch von Kirche und
Religion beschäftigte. Denn auch aus oppositionellen Funken können
konterrevolutionäre Flammen schlagen. Darum schauten die MfSler
mit den üblichen Mitteln und Methoden auch in Jena nach dem Rechten.
Inoffizielle Mitarbeiter (IM) berichteten regelmäßig. Die Kreisdienststelle war
auf dem laufenden. So wusste man von Lesungen mit den
oppositionellen Schriftstellern Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs, auch von
Unmutsbekundungen nach der unsinnigen Ausbürgerung des Liedermachers Wolf
Biermann und Reisen nach Prag, die vermutlich nicht nur touristischen Zwecken
dienten. Aber das Ganze war harmlos. Domaschk, so
bestätigte später ein Mitarbeiter von der Hauptabteilung XX, fiel nicht auf, er
war blass, unauffällig. Man hatte ihn »nicht auf dem Schirm«, wie man heute
dazu sagt.
Nach Abitur und
Facharbeiterprüfung als Feinmechaniker wurde Domaschk
im November 1977 zur Nationalen Volksarmee einberufen. Zur »Fahne« musste
jeder, in der DDR herrschte Wehrpflicht – auch wenn man Vater einer kleinen
Tochter war. Ende 1976 hatte seine damalige Freundin Renate Groß ein Kind
bekommen. Nach der Armeezeit wechselte er vom Lehrbetrieb Carl Zeiss ans Zentralinstitut
für Mikrobiologie und experimentelle Therapie, eine Forschungseinrichtung der
Akademie der Wissenschaften der DDR. Dort wartete er Technik im Schichtdienst.
Am 10. April 1981, an
einem Freitagabend, fuhr er mit seinem Kollegen und Freund aus der Jungen
Gemeinde, Peter Rösch, und in Begleitung zweier junger Frauen nach Berlin.
Rösch war – im Unterschied zu Domaschk – kein
unbeschriebenes Blatt in der Kreisdienststelle des MfS in Jena. Röschs
Personalie war eine von einer überschaubaren Anzahl sogenannter operativer
Vorgänge in der Republik, kurz: »OV Qualle«. Den wenig schmeichelhaften Namen
»Qualle« verdankte er, nun ja, seiner beachtlichen Körperfülle und seiner
Frisur.
Die vier wurden in
Jüterbog von der Transportpolizei aus dem Zug geholt und anderntags, einem
Samstag, mit einem Fahrzeug der Geraer Bezirksverwaltung des MfS in die
thüringische Bezirksstadt befördert. Danach begann die Befragung der beiden
Männer, die Mädchen ließ man laufen. Am Sonntag
nachmittag sollten die Männer nach Jena überführt werden. Der »Barkas«, ein Kleintransporter, wartete im Hof der
Dienststelle, Rösch war bereits eingestiegen, als der Ruf durch die Korridore
hallte: »Einen Arzt, schnell einen Arzt!« Matthias Domaschk hing an seinem Hemd im Raum 121, einem Besucherzimmer
in der Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung des MfS. Trotz intensiver
Wiederbelegungsversuche stellte der Anstaltsarzt um 14.30 Uhr den Tod fest. Domaschks Leichnam wurde zur Obduktion an das Institut für
gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Friedrich-Schiller-Universität in
Jena überführt.
Warum kam Domaschk nach Gera?
In Berlin fand an jenem
Aprilwochenende der X. Parteitag der SED statt. Solche Veranstaltungen
bedeuteten stets Großkampftage für die Republik, insbesondere für die »bewaffneten
Organe«. Nichts durfte das Bild einer heilen DDR-Welt trüben, denn aus allen
Himmelsrichtungen waren dann Medienvertreter angereist, vor allem aus der
Bundesrepublik. Die interessierten sich vorrangig nicht dafür, was vor den
Kulissen geredet wurde, sondern dafür, was dahinter geschah. Weil dieses Spiel
bekannt war, entwickelten »die Organe« den verständlichen Ehrgeiz, nichts
hinter den Kulissen stattfinden zu lassen, was ein schlechtes Bild auf die DDR
werfen könnte. Es gab manchen in der Republik, der die Präsenz westlicher
Journalisten nutzen wollte, um mit deren Hilfe etwa sein privates
Ausreisesüppchen zu kochen. Und wie überall auf der Welt eiferten auch in der
DDR die staatsdienenden Sicherheitskräfte darum, besser zu sein, als von ihnen
verlangt. Auch bei diesem Parteitag schossen sie wieder übers Ziel hinaus:
Jeder, der im Lande sein Gesicht nicht in die gewünschten Falten legte und auch
sonst auffällig war – »feindlich-negativ« hieß das –, wurde für diese Tage mit
Berlin-Verbot belegt. Manchen nötigte man sogar zur temporären Abgabe seiner
Personalpapiere. »Kampfkurs X« lautete die Losung und der Befehl aus Berlin,
mit operativen Maßnahmen jegliche Störung zu verhindern.
So kam es, dass
Hauptmann Horst Köhler, ein Mitarbeiter der Kirchenlinie des MfS in der
Kreisdienststelle Jena, von seinem Vorgesetzten Walter Nowack schwer gerüffelt wurde. Insbesondere er habe nicht
verhindert, dass sich Rösch und Domaschk auf dem
Jenaer Bahnhof Fahrkarten für den Abendzug in die Hauptstadt hatten kaufen
können, lautete die Vorhaltung des zornbebenden Kreisdienststellenleiters, und
er forderte eine plausible Rechtfertigung.
Hatten Rösch und Domaschk vor, den Palast der Republik mit den
Parteitagsdelegierten in die Luft zu jagen? Dafür gab es so wenige Anhaltspunkte
wie für ihre Selbstbekundung, sie hätten die neue Wohnung einer Berliner
Freundin einweihen wollen. Dass Domaschk selbst vom
MfS als »Terrorist« nicht sonderlich ernst genommen wurde, offenbarte ein der
Dienststelle vorliegender Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters. Demzufolge
sollte Domaschk erklärt haben, man müsse in der DDR
nach italienischem Vorbild »Rote Brigaden« aufziehen. Bekanntlich trieben die Brigate Rosse seit 1970 ihr Unwesen. Doch trotz solcher
Bekundung läuteten in der Kreisdienststelle Jena keineswegs die Alarmglocken,
das Papier mit dem großmäuligen Gewäsch landete in der Ablage.
In Jüterbog holte die
Transportpolizei entsprechend der Aufforderung aus dem Bezirk Gera an jenem 10.
April die vier aus dem Zug. Gegen 21 Uhr wurden sie »zugeführt« und das MfS
über das Volkspolizeikreisamt Jena darüber informiert. Die beiden jungen Männer
verweigerten bei der Befragung die Aussage. Die Mädchen, mit denen sie angeblich
zufällig gereist waren, erklärten, sie wollten zu einer Freundin an der Ostsee.
Sie durften weiterreisen. Rösch und Domaschk aber
sollten nach Gera überführt werden. Das hatten verschiedene Dienststellen der
Ministerien des Innern und der Staatssicherheit auf unterschiedlichen Ebenen in
den Morgenstunden so entschieden. Ein Fahrzeug der Geraer Bezirksdirektion der
Volkspolizei sollte die beiden nach Thüringen holen. Dann aber blieb das Auto
mit einer Panne liegen. Man schickte Ersatz. Das ganze Hickhack kann man sich
schenken. Gegen 23 Uhr am Samstag trafen Domaschk und
Rösch in Gera ein. Dort wurden sie zunächst in der Untersuchungshaftanstalt der
Bezirksverwaltung des MfS im Amthordurchgang Nr. 5
festgehalten.
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Was geschah in der MfS-U-Haft? |
Nach Mitternacht – es
war also bereits Sonntag – wurden die beiden separat befragt. Das geschah durch
Geraer Mitarbeiter der Abteilung IX, dem Untersuchungsorgan des MfS. Die
Befragung zog sich, mit einer Pause zwischendurch, bis sechs Uhr hin. Gegen 23.30
Uhr am Samstagabend war in Gera der Hauptmann Horst Köhler aus Jena
eingetroffen. Den hatte sein Vorgesetzter Nowack mit
allen Unterlagen, die die Kreisdienststelle Jena über Rösch gesammelt hatte,
als Kurier in Marsch gesetzt. Köhler erinnerte sich, dass es darin lediglich
einen einzigen IM-Bericht über Domaschk gab, eben
jenen mit der Erwähnung der »Roten Brigaden«. Mehr gab es nicht über ihn.
Der Jenenser Bote wurde
im Gebäude der Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung schweigend in ein
Zimmer in der zweiten Etage gebracht. Dort hieß man ihn warten. Köhler hatte
gelernt, keine Fragen zu stellen. Und so las er Zeitung. Die ganze Nacht.
Niemand schaute vorbei, er hatte keine Ahnung, was vor der Zimmertür geschah.
Er wartete. Am Morgen öffnete sich die Tür. Man brachte Köhler zum amtierenden
Chef der Bezirksverwaltung und Stellvertreter Operativ Werner Weigelt. Der
eigentliche Leiter, Generalmajor Dieter Lehmann, weilte in Berlin auf dem
Parteitag.
Domaschk sei bei der Befragung gesprächsbereit gewesen, sagte der Oberst zu Köhler.
»Versuchen Sie mal, ob Sie ihn werben können.« Von
einer Werbung war bis dato nie die Rede gewesen. Köhler sah mit der Abgabe der
Unterlagen seine Mission eigentlich als erfüllt an. Doch Widerspruch gab es in
diesen Räumen nicht, und wenn Weigelt befahl, hatte man zu gehorchen. Köhler
hatte Domaschk noch nie in seinem Leben gesehen,
geschweige denn gesprochen, er kannte den schmallippigen 23jährigen mit den
langen Haaren nur von Fotos. »Er wartet auf Sie im Chefzimmer von der IX.« Köhler wurde in einen Raum geführt, wo Domaschk unter Aufsicht wartete. Den Vorschriften nach
durften Mitarbeiter der Hauptabteilung IX keine IM-Werbungen vornehmen, das war
das Privileg der operativen Einheiten, etwa der XX.
Das Gespräch mit Domaschk, so wird sich Köhler später erinnern, dauerte etwa
eine Stunde plus/minus 15 Minuten. Es verlief ruhig und sachlich, »fast
freundschaftlich«, wobei er sich nicht sicher war, ob Domaschk
damit nicht der eigenen Strategie folgte: Kooperation statt Konfrontation, wohl
wissend, wohin der Hase lief. Köhler ließ ihn reden, Domaschk
war gesprächig. War er auch übermüdet? Müde ja, aber geistig hellwach, sagte
Köhler später. Dann habe man gemeinsam den Text aufgesetzt. Domaschk
schrieb, und Köhler meinte, das und das müsse noch mit
hinein. Am Ende notierte Domaschk den Decknamen, den
er sich selbst gewählt hatte: »Peter Paul«, die Namen der beiden Kirchenväter.
Dann verabredeten beide ein Treffen am nächsten Tag. Gegen zwölf Uhr wollte man
sich im Volkspolizeikreisamt Jena treffen. Domaschk
und Köhler schieden per Handschlag voneinander.
Nach der Verabschiedung
brachte Unterleutnant Wolfgang Schaller, wachhabender Schichtleiter der für die
U-Haft zuständigen Abteilung XIV, Domaschk in das
Besucherzimmer 121, wo er bis zur Abfahrt des Fahrzeuges nach Jena warten
sollte. Köhler ging in den Raum, in welchem er die Nacht verbracht hatte. Dort
schrieb der Hauptmann seinen Bericht über die erfolgte Werbung, etwa dass der
IM erkannt habe, dass er sich im falschen Umfeld bewege und sich korrigieren
wolle. Köhler ging darin auch der Frage nach, ob sich Domaschk
etwa durch die Umstände eingeschüchtert gefühlt habe, ob psychischer Druck auf
ihn ausgeübt worden sei oder aufgrund der durchwachten Nacht er nicht ganz Herr
seiner Sinne gewesen sei. Das alles verneinte Köhler in seinem Report. Es
handelte sich um eine wissentliche und willentlich freie Entscheidung Domaschks, mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Danach gab er
Oberst Weigelt, dem amtierenden Chef der Dienststelle,
das Papier, für Köhler war die Sache in Gera damit erledigt.
Köhler ging auf den Hof
und wartete auf den »Barkas«, der Rösch und Domaschk nach Jena zurückbringen sollte. Als dieser kam,
holte er Rösch auftragsgemäß aus dem Haus. Und dann hörte er Schaller rufen: »Schnell
einen Arzt.« Es war kurz nach 14 Uhr. Köhlers Bericht,
ein Schlüsseldokument, ist bis heute verschwunden.
Wie ging Staatssicherheit damit um?
Der Tod von Matthias Domaschk wurde im MfS als »Besonderes Vorkommnis« gewertet.
Köhler hatte als letzter mit ihm gesprochen, er galt darum in den Augen
mancher, wenngleich unausgesprochen, als Verursacher des »Vorkommnisses«. Hatte
er ihn vielleicht zu hart »angefasst«, ihn unzulässig unter Druck gesetzt? Der
Hauptmann wurde in der Dienststelle von den Kollegen nicht gerade freundlich
behandelt. Das ging mehrere Wochen so und blieb auch in Berlin nicht verborgen.
Dann erklärte der Minister: »Wenn sich Feinde selber richten, haben Genossen
keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen.« Gut, Domaschk war kein Feind, aber hilfreich war die Botschaft
für Köhler durchaus.
Wieder und wieder fragte
er sich, ob er etwas falsch gemacht hatte, doch er war sich keiner Schuld
bewusst. Warum hatte Domaschk Hand an sich gelegt?
War es eine Kurzschlussreaktion? Fürchtete er die Folgen seiner Verpflichtung?
Oder wollte er gar nicht sterben, sondern nur seine Hilflosigkeit zeigen? Die
meisten Selbstmörder wollten lediglich auf ihre kritische Situation aufmerksam
machen, nicht unbedingt sterben.
Am 16. April fand
morgens um acht Uhr die Trauerfeier auf dem Nordfriedhof in Jena statt. Auf
Wunsch der Mutter sprach Klaus-Peter Hertzsch,
Theologe an der Schiller-Universität, lediglich ein Gebet. Es war nicht die
Furcht vor den anwesenden MfS-Mitarbeitern. Nahezu die gesamte Kreisdienststelle
war erschienen, um einschreiten zu können, sofern es zu einer politischen
Provokation kommen sollte. Sie blieb aus, die Vernunft behielt die Oberhand. Am
26. Juni erfolgte, auch auf Wunsch der Eltern, die Urnenbeisetzung in aller
Stille, »ohne öffentlichkeitswirksame Vorkommnisse«.
Am 12. April 1982, nach
Jahresfrist, installierte der Bildhauer Michael Blumhagen
auf dem Johannisfriedhof eine Plastik. Auf Weisung von Oberstleutnant Horst
Jürgen Seidel, Leiter der Abteilung IX in der Bezirksverwaltung Gera, wurde sie
entfernt. Diese Entscheidung war so dämlich wie deren Ausführung. Jemand lag
mit der Kamera auf der Lauer und dokumentierte die erwartete Denkmalschändung.
Publizistische Verklärung nach 1990
Der Spiegel berichtete
1982 im Heft 26 über das Abräumen der Friedhofsplastik und legte in Ausgabe
7/1983 nach. »Westdeutsche Behörden beschäftigen sich mit dem mysteriösen Tod
eines jungen DDR-Kritikers im Untersuchungsgefängnis von Gera«, hieß es dort.
»War der schmächtige Domaschk der körperlichen und seelischen
Belastung nicht mehr gewachsen und ist kollabiert? Oder vertuscht die
Staatssicherheit einen Unglücksfall mit Todesfolge (…)?«
Oberstaatsanwalt Carl Hermann Retemeyer, Leiter der
Erfassungsstelle in Salzgitter, »urteilt nach Auswertung verschiedener Aussagen
zwar vorsichtig«, so der Spiegel, und zitierte ihn dann mit dem
nicht unwichtigen Satz: »Es spricht alles dafür, dass Domaschk
Selbstmord begangen hat.« Man wolle aber »weitere Zeugen aufspüren«.
Einige dieser Zeugen
lebten inzwischen in Westberlin. In der Ausgabe 16/1983 des Westberliner
Stadtmagazins Zitty stand dazu:
»Rund 80 Ex-Jenaer« seien mittlerweile abgeschoben worden oder ausgereist, las
man, darunter auch Peter Rösch, Michael Blumhagen,
Roland Jahn – der spätere »Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen«. Die
»Neuberliner« könnten einem »schon leid
tun«, hieß es im Text. »Wie kaum jemand sonst werden sie von den Medien
durchgehechelt, um der DDR am Zeug zu flicken.« Das
nerve sie. »Sie leben jetzt in Westberlin und haben vollauf damit zu tun, ihren
Laufzettel für das Bundesnotaufnahmeverfahren abzuhaken, ihr neues Umfeld zu
sondieren.« Das schien sie derart auszufüllen, dass
der Name Matthias Domaschk auf den vier Magazinseiten
nicht ein einziges Mal stand, keiner der Interviewpartner erwähnte ihn. »Jena
ist auf alle Fälle noch wichtig für mich. Ich fühle mich den Leuten dort
verbunden, sorge mich um sie. Aber durch den ganzen Trubel hier verliert man
die Nähe«, wurde Roland Jahn zitiert. Er beobachte schon nach drei Wochen, wie
»Jena aus dem Kopf herausgedrängt wird«.
Erst nach dem Ende der
DDR und der einsetzenden »Stasi-Hysterie« drängte der Fall »Domaschk«
wieder ins Gedächtnis zurück. In der Berliner Ruschestraße,
am früheren Sitz des Ministeriums, pinselte jemand mit weißer Farbe in
meterhohen Lettern: Ihr habt Matthias Domaschk
ermordet. Keine Losung. Ein Programm. Fortan
erschienen regelmäßig Zeitungsbeiträge, Bücher und TV-Dokumentationen, die
diese These untermauerten.
Politische »Aufarbeitung«
Am 13. September 1990
erstattete die Mutter von Domaschks Tochter, die nun
verheiratete Renate Ellmenreich, in Erfurt
Strafanzeige wegen des Verdachts der Tötung. Das Ermittlungsverfahren wurde am
8. September 1994 mit der Begründung eingestellt, dass eine Fremdeinwirkung
nicht nachweisbar sei.
Bereits am 11. Januar
1994 hatte die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und
Vereinigungskriminalität (ZERV) in Berlin neben anderen Personen auch Horst
Köhler wegen des »Verdachts der Tötung zum Nachteil von Matthias Domaschk« vorgeladen. Zu seiner schriftlichen Erklärung
sagte der Zeuge auf Nachfrage, dass es in seinem ersten und einzigen Gespräch
mit Domaschk am 12. April 1981 darum gegangen sei,
»Vertrauen aufzubauen. Es war ja so, dass ich von Domaschk
späterhin Informationen haben wollte, es mir nichts genutzt hätte, wenn
zwischen uns kein Vertrauensverhältnis zustande gekommen wäre. Dies hätte für
mich den Wert möglicher Informationen beeinflusst.«
2001, nachdem die
Ermittlungen gegen Köhler wegen einer angeblich vorsätzlichen Tötung nach elf Jahren
eingestellt worden waren, wurde Anklage wegen Freiheitsberaubung und Anstiftung
zur selben erhoben, denn auch in der DDR durfte niemand länger als 24 Stunden
ohne Haftbefehl festgehalten werden. Diese Frist war im Falle von Domaschk und Rösch nachweislich überschritten. Die Exmitarbeiter der Abteilung IX, die dies ursächlich
verschuldet hatten, akzeptieren jedoch den angebotenen Deal und den
Strafbefehl, Köhler und sein Exchef Herbert Würbach, damals stellvertretender Leiter der
Kreisdienststelle Jena, widersprachen. In der öffentlichen Verhandlung wurde Würbach freigesprochen, er war an den fraglichen Tagen
nicht im Dienst. Übrig blieb allein Köhler.
Inzwischen versuchte der
nun als Journalist tätige Roland Jahn mit mehreren Beiträgen für das TV-Magazin
»Kontraste«, Köhler aus dessen Job bei einer Immobilienfirma am Berliner
Kurfürstendamm zu treiben. Und 2013 sorgte eine Kampagne hauptstädtischer
Medien dafür, dass Köhler auch seine Tätigkeit als Centermanager in der Marheineke-Markthalle in Kreuzberg verlor, die er ungestört
und erfolgreich über Jahre ausgeübt hatte. Inzwischen ist er Rentner.
Damit war die Sache jedoch nicht beendet. Wie die Thüringer Allgemeine am 27. Januar 2015 meldete, werde die »rot-rot-grüne« Landesregierung »zweifelhafte Todesfälle aus DDR-Zeiten wieder aufrollen«. Wie aus der Staatskanzlei von Bodo Ramelow (Die Linke) verlautete, gehe es »zunächst um den angeblichen Selbstmord des Bürgerrechtlers Matthias Domaschk 1981 in der Stasihaft in Gera«. Dafür richtete man eine Arbeitsgruppe in der Staatskanzlei ein. Und nach deren Konstituierung kam die »Medieninformation 37/2015« aus der Kanzlei: »Es ist schreiendes Unrecht geschehen«, erklärte Ramelow. »Als Ministerpräsident fühle ich mich in der Pflicht, zur umfassenden Aufklärung beizutragen.« Im Januar 2015 absolvierte, wie die Thüringer Allgemeine süffisant titelte, der Ministerpräsident einen »Antrittsbesuch« in der Erfurter Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde. Behördenchef Roland Jahn begrüßte Ramelow dort mit der Aufforderung: »Wir hoffen, dass aus dem Versprechen, neue Maßstäbe bei der Aufarbeitung zu setzen, bald Taten werden.« Man kann also gespannt sein.
Vgl.: Lex Jahn zum Zweiten