Neues Deutschland
nd vom 20. 11. 04
Jetzt neu: politisch korrekt lügen
Pawlows Reflex oder - »Focus« deckt auf, was die Stasi deckte: 20000 Kriegsverbrecher
München. In der DDR blieben Tausende mutmaßliche Nazi- und Kriegsverbrecher unbehelligt. Dies geht dem Nachrichtenmagazin FOCUS zufolge aus bisher unbekannten Dokumenten der Berliner Stasi-Aktenbehörde hervor. Laut einer Auflistung der MfS-Hauptabteilung XX/2 vom Februar 1972 legt »eine Reihe unausgewerteter operativer Materialien und Dokumente« den Schluss nahe, dass sich auf dem Territorium der DDR 11000 Angehörige von Polizei- und Sonderverbänden, 8000 Gestapo-Leute und 3000 Sicherheitsdienstler der SS aufhielten. Das MfS unternahm daraufhin zahlreiche Versuche, hochrangige NS-Geheimdienstler als Inoffizielle Mitarbeiter zu gewinnen. Unter ihnen befanden sich auch Kandidaten, von denen die Stasi wusste, dass sie »maßgeblich an der Unterdrückung der Bevölkerung in Polen beteiligt« waren und »umfangreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begangen hatten.
Diese Meldung ging vor einer Woche durch die Medien, Zeitungen druckten sie, in Fernseh- und Rundfunksendern wurde sie verlesen. Am Mittwoch kam die Bestätigung von der Stasi-Unterlagenbehörde Marianne Birthlers.
Schock! Also auch das noch! Diese Bande! Und das nannte sich antifaschistische DDR... Geschockt war auch Dieter Skiba. Sehr sogar, denn da sollte auch sein Lebenswerk zerstört werden. Als junger Mann hatte er in der Stasi-Kreisdienststelle Oranienburg begonnen, Kriegsverbrechern nachzuspüren. Später holte man ihn nach Berlin in die dafür zuständige Hauptabteilung IX/11. Zuletzt hat er sie geleitet. Skiba rief Wolfgang Schmidt an. Der war sein Partner in der XX/2. Schmidt war zunächst sprachlos, dann dachte er: So etwas kann nur funktionieren wie Pawlows Reflex. Kaum liegt ein Knochen namens Stasi da, schon beginnt der Speichel zu laufen.
Man muss kein Freund der DDR-Staatssicherheit sein, man muss nur ein wenig objektiv sein, um zu sehen: Die Top-Story des »Focus« folgt jenem Motto, mit dem Chefredakteur Helmut Markwort sein in derselben Ausgabe veröffentlichtes Tagebuch überschrieben hat: »Jetzt neu: politisch korrekt lügen«.
Ein Dokument aus dem Jahre 1972
Streiten kann man über »Jetzt neu...«. Nicht bestreiten kann man, dass es die erwähnte »Arbeitskonzeption« der Hauptabteilung XX/2 vom 15. Februar 1972 gibt. Darin wird erklärt, dass »die Aufklärung und Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die von Personen in der Zeit der faschistischen Gewaltherrschaft begangen wurden, heute noch in der DDR leben und sich einer strafrechtlichen Verantwortung entziehen konnten, in der Perspektive immer komplizierter wird«. Und dann tauchen in der Tat die Zahlen auf, die in der Addition »ca. 20000 Personen« ergeben, die - und das zitiert »Focus« nicht -»aufenthaltsmäßig in der DDR noch nicht ermittelt sind«.
»Das«, so sagt Skiba, »waren also Leute, die wir bis zu jenem Zeitpunkt in verschiedensten Dokumenten der SS-Einsatzgruppen, der Gestapo, des SD, aus KZ, von Polizeieinheiten... entdeckt und aufgelistet hatten: Name, Vorname, Geburtsdatum.« Manchmal Dienstgrad oder SS-Nummer. »Aber wir hatten keine Ahnung, ob diese Leute noch lebten und wenn, wo sie lebten, vielleicht waren sie - wie die Masse der Nazi Verbrecher - in die Westzonen gegangen. Vielleicht jedoch lebten einige auch noch unerkannt in der DDR.«
Und gerade
mit diesem »Vielleicht« wollte man sich nicht zufrieden geben. Da
war zum einen der weltweit immer wieder verkündete »Schwur von Buchenwald«. Kein Peiniger darf je entkommen! Doch
auch wenn man sich ganz pragmatisch mit dem Thema befasste, so war klar: Die
SED-Führung konnte
nicht auf der einen Seite »Braunbücher« über den
Nazi-Tummelplatz BRD präsentieren und auf der anderen Seite nicht sicher sein, welche »Zeitbombe« womöglich im eigenen Lande tickt.
Zugegeben, beim oberflächlichen Lesen könnte man die Formulierung »die aufenthaltsmäßig in der DDR noch nicht ermittelt sind«, falsch deuten. Doch nicht so »Focus«, für den der »Schluss« einfach nahe liegt, 20000 Nazi-Verbrecher seien in der DDR verschont, versteckt und angeworben worden. Als das Magazin aus München vor einigen Monaten Günter Wallraff als »Stasi-Agenten« zur Strecke bringen wollte, haben die zuständigen Redakteure auch Skiba die zitierte Arbeitskonzeption vorgelegt. Das war, so erinnert sich der einstige MfS-Oberstleutnant, am 10. Februar 2004. Und da hat er ihnen haarklein erklärt, wie sich alles verhält. Offenbar umsonst.
Das MfS hat systematisch diese »20000er Liste« abgearbeitet. In 50er Blöcken - das war das tägliche »Plan-Limit«, das der HA XX insgesamt für Personenfeststellungen zustand - sandte man die Daten an das DDR-Innenministerium. Das schickte sie weiter an jedes Volkspolizei-Kreisamt, dort wurden die Listen an jede Meldestelle verteilt. Man verglich die vorhandenen Namen, Vornamen, Geburtsdaten mit den Eintragungen in aktuellen Karteien. »Trefferquote 1:500, später noch 1:1000«, merkt Wolfgang Schmidt an, über dessen Schreibtisch diese Anfragen gingen. Oft wurde man fündig in »Verzugskarteien«. Zumeist war der Betreffende »in Richtung BRD« gezogen.
Was heute per Computer in Minuten geschafft werden kann, dauerte Jahre, zumal die IX/11 dank weiterer Dokumentenstudien unter anderem in Polen, der CSSR und der Sowjetunion mit immer neuen Namen aufwarten musste. »Letztlich galt es, rund 50000 Leute zu suchen, die in Einheiten oder Dienststellen gedient hatten, von denen wir wussten oder annehmen konnten, dass sie an Verbrechen beteiligt gewesen sind«, bestätigen Schmidt und Skiba.
Gab es »einen Treffer«, dann setzten die in jedem Kriminalfall üblichen, komplexen Ermittlungen ein. Die in einem Fall einen Unschuldigen dennoch nicht davor schützten, für einen Namensvetter in U-Haft zu sitzen. Die Nachforschungen betrafen Schuldirektoren ebenso wie Sekretärinnen, SED-Mitglieder und »neutrale« Bürger. Einzelne Ermittlungsgeschichten sind so spannend, dass die Birthler-Behörde gewiss einen reißenden Absatz erzielen könnte, sollte ein wissenschaftlicher Mitarbeiter solche bislang uninteressanten Themen zu einem Buch verdichten.
Fazit: Zwischen 1972 und 1989 wurden vor allem dank dieser akribischen Ermittlungen in der DDR 49 Ermittlungsverfahren zu Nazi- und Kriegsverbrechen eingeleitet, die mit der Verurteilung vor einem DDR-Gericht endeten.
Doch wie viele ließ die Stasi laufen? Wie viele spannte sie ein für ihre Zwecke? Der »Focus« nennt vier Fälle. Da ist SS-Sturmbannführer Franz Irra, »inzwischen SED-Mitglied in Berlin«, schreibt das Magazin. Irra, geboren 1912, war in Berlin-Lichtenberg Facharzt für Gerichtsmedizin und Psychiatrie. Tatsächlich steht im Arbeitsplan des dritten Referats der HA XX, dass Irras Vergangenheit vor 1945 und die Entwicklung, Rolle sowie Verbindungen nach 1945 festzustellen sind. »Dabei ist die Möglichkeit und Wertigkeit einer operativen Nutzung des Dr. Irra zu prüfen und zu entscheiden.« Zu diesem Zeitpunkt, so Wolfgang Schmidt, war noch nicht einmal bekannt, dass Irra strafrechtlich zu belangen ist. »Wir wussten nur, er war Truppenarzt in einer SS-Polizeieinheit.«
»Auch Harry Singer, ehedem im SS-Polizeibataillon l, war interessant«, schreibt der »Focus« und zitiert: »Er war maßgeblich an der Unterdrückung der Bevölkerung in Polen beteiligt und beging umfangreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« Trotzdem, so das Magazin, »zeigte sich die Stasi kulant: >Ziel der operativen Bearbeitung des S. ist eine Anwerbung.<« Der »Focus« lässt einen vorangestellten Satz aus: »Durch intensive Aufklärung ist die Tätigkeit des Dr. S. beim Pol.-Btl. l vor 1945, seine Entwicklung und Verbindungen nach 1945 mit Herausarbeitung von Faustpfändern festzustellen, um eine Einschätzung für eine operative Nutzung des S. vornehmen zu können.«
»Hätten sich Anzeichen ergeben, dass Singer Verbrechen begangen hat - und das war als Bataillonsarzt auch in einer SS-Polizeieinheit nicht unbedingt vorauszusetzen - wäre eine Anklage natürlich nicht abzuwenden gewesen«, sagt Wolfgang Schmidt und erinnert sich an »die Idee innerhalb der XX«, einzelne Nazis anzuwerben, damit sie andere, an deren Händen Blut klebte, »auffliegen lassen«. Doch die Idee habe nichts getaugt. Die, die sich in der DDR versteckt gehalten haben, waren ängstlich bemüht, keine Kontakte zu ehemaligen Kameraden zu pflegen. »Schließlich gab es hier zu Lande aus nahe liegenden Gründen keine HIAG-Organisation und keine Traditionstreffen, auf denen man sich der alten Zeiten erinnerte.« Man sollte nicht vergessen, während in Westdeutschland unzählige Seilschaften aus alten Nazis Einfluss hatten, bestand in der DDR noch bis 1981 die Todesstrafe für schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
»Focus«-Fall drei: »Rolf«. Ein Klarname fehlt in dem MfS-Akt. Klar ist nur, »Rolf« war Gl, also Geheimer Informant
vermutlich der Bezirksverwaltung Magdeburg. Im Kriege, so wurde offenbar erst
nach der Anwerbung festgestellt, war er SS-Hauptsturmführer und SD-Dienststellenleiter. »Focus« zitiert, der Mann sei »einer intensiven und zielgerichteten
operativen Nutzung« zuzuführen. Leider fehlte »Focus« offenbar der Raum, um auch den folgenden
Halbsatz abzudrucken, der da lautet: »...bzw. Entscheidung einer eventuellen
strafrechtlichen Verfolgung«. Es wäre interessant zu hören, was aus dem »Fall Gl Rolf« geworden ist.
So wie die
Frage interessant ist, ob jemand, der bereits IM war, bessere Chancen hatte,
nach der
Entdeckung eines zu aktiven Nazi-Vorlebens geschützt zu werden. Es gibt Beispiele, die das
in Abrede stellen. In Stralsund soll ein Fachschullehrer ein sehr
sozialistisches und IM-verpflichtetes Leben geführt haben - bis man beim »Check« seines NVA-Fliegersohnes entdeckte, dass
es eigenartige Übereinstimmungen
gab mit einem Mann, der in Polen Kriegsverbrechen begangenen hatte. Ergebnis:
zehn Jahre Haft. Auch einen Volkspolizisten im Thüringischen, der im Kriege Juden,
Partisanen und Kriegsgefangene erschoss, ereilte »lebenslänglich«
Kompromittierendes Material gesucht
Und was ist mit dem Ex-Hauptsturmführer des SD Georg Heuchert, den »Focus« auch aus Akten des MfS vorstellt? Wir wissen nur: Der Rechtsanwalt war »Führer eines Teilkommandos« des Einsatzkommandos 12. Das MfS wollte »ausnutzbares kompromittierendes Material« beschaffen, zitiert der »Focus« richtig. Und dann lesen wir: »Weitere Akten zu dem Fall sind offenbar vernichtet. Lediglich der MfS-Deckname >Spezialist< ist überliefert.« Ist das so? Im Stasi-Birthler-Archiv könnte es Aufklärung geben. Sicher ist jedoch, »Spezialist« ist kein Deckname für einen IM oder Ähnliches, sondern ein, wie ein handschriftlicher Vermerk bestätigt, »Vorgang« zur Ausforschung einer Person, die »Verbindungen ins Operationsgebiet« - also das heutige Hauptverbreitungsgebiet des »Focus« - hätte schaffen können. Man unterließ es aber, denn eine weitere Randnotiz besagt: »wurde nicht in Angriff genommen«. Möglicherweise nur nicht von der Hauptabteilung XX?
Hat die HVA sich Nazis geleistet?
Skiba und Schmidt wollen ausschließen, dass andere »Kundschafter« aus ihrem weit verzweigten Geheimdienst-Ministerium enttarnte, also erpressbare Nazi- und Kriegsverbrecher ausgenutzt haben. Beispielsweise liegt der Gedanke nahe, dass Markus Wolfs und Werner Großmanns Aufklärung großes Interesse an solchen Leuten hatte. Denn wer sich die Sicherheitsdienste der Bundesrepublik in jener Zeit anschaut, der findet in BND, Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt an den Schaltstellen fast nur »alte Kameraden«. Es wäre also logisch, denen statt eines Antifaschisten gleichsam einen alten Kameraden »ins Nest« zu legen. KGB, polnische und tschechische Dienste nutzten solche Chancen.
»Wir nicht!« Das sagt Markus Wolf, der Aufklärungschef des MfS, mit Bestimmtheit. So einen Typen wie »den Felfe«, der als einstiger SS-Offizier für den KGB in Pullach saß und eine Art »Wiedergutmachung« ableistete, habe man »leider nicht gehabt«. Er ist froh, dass ihm nie so eine Möglichkeit auf den Tisch gekommen ist, denn die Abwägung zwischen Recht, Moral und Erfolgsaussichten wäre nicht einfach geworden.
Wolf kann auf einen konkreten und, wie er meint, beispielhaften Fall verweisen. Lothar Weirauch, ein FDP-Mann im innerdeutschen Ministerium in Bonn, war eine Top-Quelle des MfS. »Er hatte sich uns Kommunisten selbst angedient«, sagt der einstige HVA-Chef. Weirauch lieferte unter anderem wesentliche Teile der »Pariser Verträge« quasi vorab. Doch dann gab es Gründe, so Wolf, ihn zeitweise »abzuschalten«. Kurz bevor man ihn reaktivieren wollte, kamen aus Polen Dokumente ins MfS, die belegten: Der Spion war zu Okkupationszeiten an der Vorbereitung des Massenmords an 40000 Menschen in den Kreisen Lublin und Zamocz beteiligt. Wolf wies Weirauchs Führungsoffizier an, die Zusammenarbeit endgültig zu beenden. Was der getan hat. »Diese Quelle, mochte sie noch so sprudeln, wurde verstopft. Denn es gibt Dinge, die man nicht wieder gutmachen kann!«
Sollte das alles in einer weiteren Story des am Wochenende erscheinenden »Focus« dargestellt sein, so würden das nicht nur Skiba und Schmidt begrüßen.
Recherchen, Gespräche und Texte: Rene Heilig
Seit 1949 wurden in der DDR annähernd 13000 große und kleine Nazis verurteilt. Den letzten Prozess gab es im Herbst 1989 in Rostock. Angeklagt war Jakob Holz. Als Werksschutzmann in einer Waffenfabrik im besetzten Polen hat er Zwangsarbeiter misshandelt und getötet. Das Urteil lautete lebenslänglich. Es wurde später in 15 Jahre Haft umgewandelt. Zum Ende der DDR sollen noch 23 NS-Täter in ostdeutschen Gefängnissen gesessen haben. Zu den bedeutendsten Strafsachen gehörten die Prozesse gegen den als Zugführer am Massaker von Oradour sur Glane beteiligten SS-Obersturmführer Heinz Barth, den Judensachbearbeiter der Gestapo Dresden, Henry Schmidt, den Auschwitzer KZ-Arzt Horst Fischer und den wegen verbrecherischer pseudomedizinischer Versuche an jüdischen Kindern angeklagten Kurt Heißmeyer.
* Anfang Dezember 1958 wurde im baden-württembergischen Ludwigsburg die »Zentrale Stelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen« gebildet. Nachdem sich im Verlauf des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses 1958 herausgestellt hat, dass es für zahlreiche Verbrechen, die außerhalb der Kriegshandlungen begangen wurden, bisher keine juristische Erfassung gab, soll diese Vorermittlungsinstanz insbesondere solche Gewalttaten an Juden und anderen Zivilpersonen aufspüren.
Über 100000 Fälle wurden in Ludwigsburg bearbeitet. Etwas mehr als 7000 Strafverfahren gegen NS-Täter sind daraus entstanden. In den siebziger Jahren arbeiteten in der Zentralen Stelle 49 Richter und Staatsanwälte, heute ist es nicht einmal mehr eine Hand voll.
* Insbesondere in den Sicherheitsbereichen der alten Bundesrepublik - Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, Bundeskriminalamt bzw. vergleichbaren Ebenen in den Ländern - kamen viele Fachleute der Nazis unter. 12900 Bundeswehroffiziere stammten 1958 aus der Wehrmacht. Noch 1979 waren 25 bis 30 Prozent der Beschäftigten des Bundesnachrichtendienstes ehemalige Angehörige von SS, Gestapo oder SD. 1968 beschäftigte der Auswärtige Dienst noch 520 Nazi-Diplomaten.