Was man in
Hohenschönhausen lernt (Eckart Spoo), erschienen
in: OSSIETZKY 22/06.
In der Genslerstraße in
Berlin-Hohenschönhausen fährt ein Omnibus nach dem anderen vor. Im vergangenen
Jahr wurden 150.000 Besucher gezählt, und es werden immer noch mehr. Schulklassen
aus dem ganzen Bundesgebiet. Von Bundestagsabgeordneten eingeladene Gruppen.
Aber auch viele Einzelbesucher. Wer zum Beispiel in letzter Zeit einen der
großzügig geförderten Spielfilme zum Thema Stasi gesehen hat, möchte
Authentisches erfahren. Also auf nach Hohenschönhausen, wo nach dem Zweiten
Weltkrieg ein sowjetisches Internierungslager, dann das zentrale sowjetische
Untersuchungsgefängnis für Ostdeutschland und von Anfang der 50er Jahre bis
1990 die zentrale Untersuchungshaftanstalt des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit
bestand.
Durch vorherigen Anruf oder einen
Prospekt erfährt man, »dass eine Besichtigung des ehemaligen Gefängnisses nur
im Rahmen einer Führung möglich ist«. Findet man sich zur festgesetzten Stunde
dort ein und entrichtet drei Euro, bekommt man zunächst einen halbstündigen
Film zu sehen, den der Leiter der Gedenkstätte, Hubertus Knabe, mitverfasst
hat. Die Geschichte, die uns im abgedunkelten Vorführraum vermittelt wird,
beginnt damit, dass 1945 die Sowjetarmee Berlin »besetzt«. Von Befreiung möchte
Knabe nicht sprechen; er hat das in einem Buch ausgeführt, das man an der Kasse
erwerben kann. Warum und wieso die Rote Armee Berlin besetzte, bleibt im Film
unerwähnt. Wir hören nur, auf dem Gelände habe sich eine Großküche befunden.
Keine näheren Angaben. In zwei Sätzen des Films kommt schließlich doch noch das
Regime vor, das bis 1945 in Deutschland bestanden hatte. Wir erfahren nämlich,
dass nach dem Einmarsch der Sowjetarmee »ehemalige KZ's einfach weitergenutzt«
worden seien – als wären die Art der Nutzung und der Zweck die gleichen
geblieben. Und dass später das Ministerium für Staatssicherheit 91.000
Hauptamtliche beschäftigt habe, vorher die Gestapo dagegen nur 7.000 – ein
schräger, unseriöser Vergleich, der aber seine Wirkung tut.
Was sich einprägt, ist die
Botschaft, die diese Gedenkstätte insgesamt suggeriert: Das Schlimmste in der
Geschichte war der Kommunismus, dagegen verblasst alles andere. Von
»Zehntausenden unschuldiger Opfer der kommunistischen Diktatur« spricht der
Film. Die Möglichkeit, dass Schuldige hier eingesessen haben, bleibt außerhalb
der Vorstellung. Die Führung übernimmt ein Beschäftigter der Gedenkstätte
namens Ehlert, der von sich sagt, dass er selber in der DDR leicht ein
Verfolgter hätte werden können. »Die Sowjets«, weiß er, »waren ja für ihre
Brutalität bekannt. « Ganz so schlimm war es nach seiner Darstellung in der DDR
nicht. Er nennt sie einen »Saftladen«. Im Freigelände vor dem Kinoraum kommen
wir an einer Tafel vorbei, die uns mitteilt, an dieser Stelle habe sich das »Männerarbeitslager«
befunden, wo 25 Männer unter anderem Fahrzeuge repariert und Möbel gebaut
hätten; sie seien »jeden Abend eingeschlossen« worden. Soll ich mich darüber
empören? Kommt es nicht vielleicht auch in anderen Haftanstalten vor, dass
Gefangene tagsüber handwerklich arbeiten und abends eingeschlossen werden?
Ehlert führt uns zu einem
Gefangenentransportauto und weist auf die kleinen Zellen hin; für artgerechte
Hundehaltung dagegen, vergleicht er, sei eine Käfiggröße von sechs
Quadratmetern vorgeschrieben. Ich erinnere mich, einmal ein westdeutsches
Gefangenentransportauto besichtigt zu haben: Die Zellen waren nicht größer als
hier, kaum mehr als einen Quadratmeter groß. Im Gefängnisgebäude zeigt Ehlert
drei Zellen, in denen Häftlinge mit Wasser gefoltert worden seien. Man habe die
Zellen nach Angaben eines an ihrem Bau beteiligten Gefangenen rekonstruiert.
Ich frage, ob es ehemalige Häftlinge gebe, die über diese Folter berichtet
hätten. Ehlert antwortet, man müsse noch viele Akten durcharbeiten.
Dann spricht er von dem verstorbenen
Ex-Häftling Jürgen Fuchs, der überzeugt gewesen sei, dass »die Stasi« ihm
Radioaktivität zugefügt und dadurch seinen Blutkrebs verursacht habe. Zwei
andere zeitweilige Häftlinge, Rudolf Bahro und Gundolf Pannach, seien ebenfalls
an Blutkrebs gestorben. Bahros Doktorarbeit sei »radioaktiv markiert« worden.
Ich frage: Wer hat Bahros Doktorarbeit radioaktiv markiert und wann, vor oder
nach der Abgabe? Ehlert: »Lothar Bisky hat die Arbeit ans Ministerium für
Staatssicherheit weitergegeben. Es gibt eine Broschüre von Professor Sebastian
Pflugbeil mit dem letzten Forschungsstand. Wir können das hier nicht vertiefen.
Mit einem Freund von mir ist man noch ganz anders umgegangen. « Der
Professorentitel, den er Sebastian Pflugbeil, dem letzten DDR-Umweltminister,
verleiht, macht die schwabbelige Aussage nach meinem Verständnis nicht stärker.
Auf einem Hof ein Stück Schiene. Darauf ein Eisenbahnwaggon. Soll man
Transporte nach Auschwitz, Rampe, Selektion assoziieren? Ehlert nennt den
Waggon »Grotewohl-Expreß«, räumt aber gleich ein, daß er nicht wisse, was es
mit der Benennung nach dem ersten DDR-Ministerpräsidenten auf sich habe, und
dass der Waggon historisch nicht hierher gehöre.
Die Schriftstellerin Daniela Dahn,
die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke und eine Studentin aus New York, mit
denen ich mich zu diesem Besuch verabredet hatte, hätten wie ich noch manche
Fragen, aber von unserem Führer kommen nur Antworten wie »Das ist ein weites
Thema«, »Es hat sich immer geändert«, »Das pfeifen die Spatzen von den
Dächern«. Als Ulla Jelpke anmerkt, dass sie viele Jahre Gefangene in
westdeutschen Haftanstalten betreut hat und daher ähnliche Baulichkeiten kennt
– auch schlimmere, wenn sie sich etwa an die Zuchthäuser erinnere, die bis in
die 70er Jahre bestanden – und dass man auch mal die Verhältnisse in heutigen
Flüchtlingsheimen mit den hier gezeigten vergleichen müsse, reagieren zwei
Jüngere in der Gruppe ungehalten. Unsere Nachfragen hindern sie daran, das Grauen
zu genießen, das sie hier finden wollen. Nachher erzählt Daniela Dahn, dass ihr
Vater, Karl-Heinz Gerstner, der im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen
war, 1945 aufgrund einer Denunziation einige Monate hier gesessen hat – mit
hochrangigen Funktionären des Nazi-Regimes, die keinerlei Einsicht zeigten. In
seinen Lebenserinnerungen hat er diese Erlebnisse ausführlich geschildert und
auch über Vernehmungsmethoden sowjetischer Offiziere berichtet, die ihn
empörten. Aber gefoltert wurde niemand. Ein wichtiger Zeitzeugenbericht – der
aber schwerlich in das Bild passt, das Direktor Knabe hier vermitteln will. Von
den schwerstkriminellen Nazis als ersten Insassen dieses Gefängnisses nach der
Befreiung Berlins erfahren die Besucher dieser Gedenkstätte, für die der Bund
und das Land Berlin jährlich Millionenbeträge aufwenden, nichts. Stattdessen
viel dümmliche antikommunistische Propaganda.
Aber gab es nicht wirklich schlimme
Willkür in Erich Mielkes Machtbereich? Die Entführung militanter Gegner des
sozialistischen Aufbaus in den 50er und frühen 60er Jahren, beispielsweise,
gehört zu den Methoden, die man sich nicht zurückwünscht. Sinnvoll, realistisch
könnten sie nur in einem Museum des Kalten Krieges dargestellt werden, das auch
den westlichen Terror gegen die DDR, die vielfältigen Methoden zur Bekämpfung
sozialistischer Ansätze thematisiert. So aber, wie Geschichte hier zugerichtet
wird, dient sie nur der Desinformation. Der Blick wird dermaßen suggestiv
verengt, dass ich jetzt beim Nachdenken darüber merke, wie mir selber
Relationen und Zusammenhänge zeitweilig verloren gingen, über die ich
gewöhnlich verfüge – bis ich darauf komme, dass 50 Jahre nach der hier
geschilderten Entführung des Dr. Walter Linse aus Westberlin der
US-Geheimdienst das Recht für sich beansprucht, vermeintliche Militante aus
vielen Ländern zu entführen, auch Deutsche, ohne dass die deutsche Regierung
wenigstens öffentlich protestiert.
Historische Aufklärung müsste gerade
umgekehrt den Blick weiten und uns für heutige Bedrohungen der Menschenrechte
sensibilisieren. Also schließen! Schleunigst! Schulklassen fernhalten! Oder
könnte man aus diesem Gelände vielleicht doch etwas Nützliches machen? Als
erstes müsste man – wie allgemein üblich – die Gedenkstätte Hohenschönhausen
nach wissenschaftlichen Kriterien evaluieren. Und klären, welche Befähigungen jemand
braucht, der hier künftig Direktor sein könnte.