"junge Welt", 13.03.2020
Jahrelang berichteten Medien immer wieder über
»geraubte« Kinder in der DDR. Eine neue Studie kann den Vorwurf nicht belegen
Von Susan Bonath
Feindbild
DDR
Das Böse in Deutschland hat Namen.
»Unrechtsregime«, »kommunistische Gewaltdiktatur« – mit kaum etwas anderem
beschäftigte sich das bundesdeutsche Kapitalregime in den letzten 30 Jahren
intensiver: Die DDR muss herhalten als Abschreckung vor der bloßen Idee einer
sozialen Alternative. Vor den zahllosen einseitigen, aufgebauschten oder gar
erfundenen Schlagzeilen verblassen heutige Opfer des Kapitalismus.
Dreißig Jahre nach ihrem Anschluss an die
Bundesrepublik arbeiten sich viele ihrer Feinde noch immer an der DDR ab, um
ihr aktuelles System der Ausbeutung zu rechtfertigen. Viele Medien schlachten
dafür jedes greifbare Gerücht aus. Selbst die größten Schauermärchen werden
selten tatsächlich journalistisch hinterfragt. Ein Beispiel dafür ist diese
Story: Angeblich wurden in der DDR Hunderte Babys nach
der Geburt fälschlich für tot erklärt und zur Adoption gegeben. Eine umfassende
Studie hat das Gerücht nun widerlegt. Doch nicht alle Medien, welche über die
Jahre die eine oder andere Variante dieser Gruselstory publizierten, haben das
jetzt klargestellt.
Von vorne: »DDR-Behörden sollen Eltern neugeborene
Babys gestohlen haben«, titelte die Springer-Zeitung Die Welt im April
2018. Angeblich habe die DDR »Tausende Kinder« nach der Entbindung für tot
erklären lassen und an »systemkonforme« Familien weggegeben. Das Blatt zitierte
einen vermeintlich Betroffenen. Der Mann erläuterte, eine Klinik habe ihm
damals mitgeteilt, das Neugeborene sei bei der Geburt verstorben. Gezeigt habe
man ihm das Kind nicht. Sogar internationale Medien legten nach. So bereitete
der Schweizer Rundfunk (SRF) das Gerücht wie eine bewiesene
Tatsache auf. Ein Interview mit einem »Betroffenen« überschrieb er mit dem
Titel: »Die gestohlenen Kinder der DDR«.
Die in diversen Medien Zitierten haben eins gemeinsam:
Sie gehören der »Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR« an. Nach
eigener Auskunft haben sich in ihr 1.500 Mütter und Väter zusammengeschlossen,
denen vor 1989 entweder das Sorgerecht entzogen worden war oder die nach einer
Totgeburt glaubten, die DDR habe sie belogen und ihr Kind »geraubt«. Der
Verband spricht von »300 bis 400 Fällen«. Im Frühjahr 2018 hatte er dem
Bundestag, begleitet durch einen aufsehenerregenden Autokonvoi, eine Petition
überreicht. Dies war der Auslöser für die neue Welle der Berichterstattung über
diese Verschwörungstheorie.
Doch die daraufhin konsultierten Sachverständigen
konnten den Vorwurf des »vorgetäuschten Säuglingstods« mit anschließender
Adoptionsfreigabe nicht bestätigen. »Dieses Phänomen, über das insbesondere in
den vergangenen zehn Jahren konstant in den Medien berichtet wurde, konnte nach
dem aktuellen Kenntnisstand bislang nicht nachgewiesen werden«, erläuterten die
zunächst zu Rate gezogenen Forscher in ihrer vom Bundestag veröffentlichten
Stellungnahme. Die Personen, die sich als Opfer solcher Praktiken sahen, hätten
keine stichhaltigen Nachweise für ihre Vermutungen beigebracht.
Ferner gingen die Sachverständigen auf zahlreiche
Studien und Forschungsberichte zum Thema »Zwangsadoptionen in der DDR« im allgemeinen ein, wie es in der Petition ebenfalls
angesprochen worden war. Eine Untersuchung etwa habe sich mit neun konkreten
Vorwürfen von Zwangsadoptionen befasst. In fünf Fällen bestätigten die Forscher
tatsächlichen Zwang, in einem weiteren Fall sei solcher ausgeübt, von einem
Gericht aber abgewiesen worden. Alle Fälle habe die DDR-Justiz in einem
ordentlichen Verfahren mit einer Kindeswohlgefährdung begründet. Darunter habe
das Gesetz damals allerdings nicht nur Gewalt und Vernachlässigung subsumiert,
sondern auch eine »Missachtung des sozialistischen Erziehungsziels«.
Auch die Behauptung sogenannter »geräuschloser
Adoptionen«, wie sie immer wieder der DDR zugeschrieben werden, wiesen die
Forscher als unbewiesen zurück. Gemeint sind angeblich erpresste Einwilligungen
zur Adoptionsfreigabe ohne Gerichtsverfahren. Eine Fallanalyse habe ergeben, so
heißt es in der Stellungnahme, dass dies nach DDR-Recht zwar möglich gewesen
wäre, aber nie praktiziert worden sei. Es gebe keinen bekannten Fall dieser
Art, so die Sachverständigen. Und: »Wenn die Trennung von Eltern und Kind
überhaupt in eine Adoption mündete, was nicht für alle Fälle gesagt werden
kann, dann erfolgte dies stets auf dem Weg einer gerichtlichen Ersetzung der
elterlichen Einwilligung.«
Für marktkonforme Staats- und Rundfunkpropaganda taugt
diese Erkenntnis freilich nicht. So ging sie weitgehend unter. Und der Verband
behauptete weiter, die DDR habe lebende Babys für tot erklärt und heimlich
weggegeben, und die Medien berichteten. Die Magdeburger Volksstimme
freute sich im September 2019 über »große Resonanz zu gestohlenen DDR-Babys«,
nachdem sie kurz vorher einen entsprechenden Beitrag gebracht hatte.
Nun hat der Medizinhistoriker Florian Steger im
Auftrag der »Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur«, Birgit Neumann-Becker, 200 vermeintliche Fälle akribisch aufgearbeitet.
Er fand aber weder Beweise noch Indizien für eine solche Praxis. Der Vorwurf
sei nicht aufrechtzuerhalten, sagte er vergangene Woche dem MDR.
»Vielmehr konnte ich in meiner Forschung zeigen, dass diese Kinder während oder
kurz nach der Geburt gestorben sind«, so Steger.
Neumann-Becker sprach von einer »traurigen Gewissheit,
die dann entsteht, weil das Kind wirklich verstorben ist«. Die Eltern müssten
jetzt die Hoffnung aufgeben, dass es noch am Leben sein könne. Für Steger ist
das Problem die fehlende Trauerbewältigung. Weil Mediziner ihnen den Anblick
ihres toten Kindes offenbar ersparen wollten, hätten sie keine Gelegenheit dazu
bekommen. Zudem seien viele Babys mit einem Gewicht von unter 1.000 Gramm zur
Welt gekommen und nicht bestattet worden. Er plädierte dafür, den Frauen und
Männern mit Beratungsangeboten zu helfen. »Es braucht keine weiteren Studien,
die belegen, dass es keinen systematischen Kindesraub in der DDR gegeben hat«,
sagte er der Volksstimme.