„Leipzigs Neue“ Nr.
01/05 vom 14.Januar 2005
Wurde das MfS in Berlin gestürmt?
Am 15.01.2005 jährt sich zum fünfzehnten Mal der „Sturm auf
die Stasi-Zentrale“.
„Stasi-Festung zertrümmert!“ hatte eine berüchtigte Boulevardzeitung am 16. Januar 1990
triumphierend in großen Lettern verkündet. Was war das für eine „Festung“, die
am Vortage angeblich zertrümmert wurde?
Das Ministerium für Staatssicherheit, so der historisch korrekte Name, befand sich bereits seit Wochen in Auflösung. Die Entlassung der Mitarbeiter war in vollem Gange, die Waffen der VP übergeben, die Archive versiegelt und die Aktenvernichtung (außer HVA ) gestoppt. Vertreter des Bürgerkomitees sollten in Sicherheitspartnerschaft mit der VP und der Staatsanwaltschaft die Aufsicht über die Behörde übernehmen. Auch die Hoffnung leitender Mitarbeiter auf die Bildung einer Nachfolgebehörde, eines Amtes für Verfassungsschutz der DDR, hatte sich zerschlagen. Runder Tisch und Ministerrat entschieden, diese Frage erst nach der Volkskammerwahl neu zu behandeln. Frust herrschte unter den Mitarbeitern über die erlebte Unfähigkeit der gestürzten Staats- und Parteiführung auf die politischen Veränderungen rechtzeitig und konstruktiv zu reagieren und über das unsolidarische Verhalten einiger Mitglieder der neu gebildeten Modrow-Regierung. Bei manchem Mitarbeiter hatte aufgrund der Massenproteste ein Prozess des selbstkritischen Nachdenkens über die Rolle des MfS als „Schwert der Partei“ eingesetzt.
Trotzdem
hatte das Neue Forum für den 15.Januar 17.00 Uhr zu einer Aktionskundgebung vor
der MfS-Zentrale aufgerufen. Ziel der Veranstaltung sollte es sein, durch
öffentlichen Protest die in den Augen der
Bürgerrechtler zu schleppende
Auflösung des MfS zu beschleunigen und gegen die Bildung von neuen
Geheimdiensten zu protestieren. Das Motto der Aktion, auf zahlreichen
Flugzetteln gedruckt, lautete: „Mit Fantasie gegen Stasi und Nasi“ (abgeleitet
von Amt für Nationale Sicherheit). Die Teilnehmer wurden aufgefordert, für eine symbolische
Einmauerung der Tore Kalk und Mauersteine (!) mitzubringen und außerdem Farbe
und Spraydosen, um Losungen an die Mauern der Normannenstr. schreiben zu können. Doch so lustig, wie der
Protest scheinbar geplant war, wurde er nicht.
Dem Aufruf des Neuen Forums waren an diesem Tag mindestens 20 000 Menschen gefolgt und die Lage war aufgrund des großen Zulaufs gegen 18.00 Uhr unübersichtlich geworden. Ein besonders aggressiver Teil der Menge drängte gegen das Haupttor. Einzelne junge Männer begannen über die Tore zu klettern, indem sie sich gegenseitig halfen. Plötzlich wurden diese von innen (!) geöffnet und die Demonstranten strömten in das Areal. Sie liefen aber nicht geradeaus zum Ministergebäude, sondern scharf links in Richtung des Versorgungs- und Küchentraktes, einem politisch eigentlich uninteressanten Bereich des MfS. Dort wurden die Türen eingetreten, Fenster zerschmissen, Mobilar zerstört und die Kühltruhen und Kühlschränke geplündert. Bücher und Akten flogen aus den Fenstern, Wände wurden beschmiert. Gleichzeitig begab sich eine Gruppe zielgerichtet in das Obergeschoß und lief über eine eigentlich nur Insider bekannte Verbindungsbrücke in das Gebäude der Hauptabteilung Spionageabwehr, einer Mielke direkt unterstellten Diensteinheit, deren Arbeitsfeld für die innere DDR-Opposition kaum, für Geheimdienste dagegen von höchstem Interesse sein mußte. Dort wurden gewaltsam Schränke geöffnet und operative Unterlagen gestohlen. Gleichzeitig erfolgten Verwüstungen, die scheinbar das Ziel verfolgten, den Aktendiebstahl mit „Volkszorn“ zu verschleiern. Ein Mittäter, der aus München stammte, wurde später mit Akten aus der genannten Diensteinheit durch die VP gestellt.
Vor
den Toren des MfS-Areals war inzwischen Ministerpräsident Hans Modrow, von
einer Sitzung des Runden Tisches kommend, in einer Limousine eingetroffen. Sein
Sekretariat war telefonisch von der VP, die das MfS sichern, aber nicht
einschreiten sollte, benachrichtigt worden. Spiegelreporter Cordt
Schnibben, der in seiner Berichterstattung
interessanterweise den Begriff „plündernde
Menge“ verwendet, berichtete darüber im Spiegel 9/1990, S.100: „Rote Sau“ brüllte die Meute und trommelte
Beulen in das Autodach, solange er (Modrow) im Wagen saß. Kaum war er dem
schützenden Käfig entstiegen, teilte
sich die Menge ehrfürchtig vor ihm und ließ den entschlossen Blickenden durch
sie hindurchstürmen. Rechts und links hatten sich die beiden Oppositionshoffnungen
Ibrahim Böhme und Konrad Weiß eingehakt, doch nicht sie schützten ihn, er zog
sie mit. Hinter seinem Rücken klammerten sich die Zukünftigen des Landes
aneinander, Böhme, Meckel, Weiß und Eppelmann, heulend und zitternd darauf
wartend, daß die ersten Steine flogen.“ Modrow ,
von einem kleinen Rednerpult auf einem LKW-Anhänger sprechend, gelang es, die
Menge in ungewohnt drastischen Worten zu beruhigen: „Was können die Stühle dieses Hauses, vor dem wir stehen, dafür, daß
Ärsche darauf gesessen haben, die vielen nicht gefallen?“ War das schon der
Ärger darüber, sich viel zu lange vor
das MfS gestellt zu haben ?
Heute
entzünden sich manche Debatten über den 15. Januar 1990 daran, ob man diese Aktionen
als „Sturm“ oder „Erstürmung“ bezeichnen kann. Mitglieder des „Insiderkomitees
zur Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS“ geben zu
bedenken, daß mit diesem Begriff falsche Assoziationen zu historischen
Ereignissen, wie dem Sturm auf die Bastille, das Winterpalais oder den
Reichstag geweckt werden könnten. Der Zusammenhang erscheint weit her geholt,
aber was auch heute noch als Sturm oder Erstürmung bezeichnet wird, war
tatsächlich nichts anderes, als die vandalistische Folge einer wenig
durchdachten und aufgrund der aktuellen Lage ungerechtfertigten Aktion. Für die
historische Wahrheit ist es in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß damalige
Initiatoren vom Neuen Forum, wie Reinhardt Schult, heute erklären, daß eine
Erstürmung der MfS-Zentrale an diesem „Aktionstag“ nicht geplant war.
Die überflüssige Aktion am 15. Januar
1990 machte den grundlegenden Fehler der Bürgerbewegungen in der Wendezeit
deutlich – die einseitige Konzentration auf die Bekämpfung der sogenannten
repressiven Institutionen der DDR, insbesondere das MfS. Die politischen Entscheidungszentren der BRD
kümmerten sich inzwischen um die Übernahme der Macht auch im Osten. Die
Bürgerrechtler sind heute die Sieger, die verloren haben und die Stasi ist das
einzige Thema geblieben, wofür sie noch gebraucht werden. Vom 3. bis 5.
Dezember 2004 hielten sie in Leipzig sogar eine wissenschaftliche Konferenz ab,
bei der sie Erfahrungen über die Besetzung der MfS-Dienststellen vor 15 Jahren
austauschten. Man könnte den neuen Wissenschaftszweig Stasinistik nennen. Doch
in Wirklichkeit wird nur deutlich, daß viele Bürgerrechtler, wie die „taz“ am
3.12.04 treffend schrieb, zu „Gefangenen“ dieses Themas geworden sind. Es
bildet inzwischen die Grundlage ihrer sozialen Existenz und sie müssen sich
immer wieder spektakulär Neues einfallen lassen, um Presse zu machen und ihre
politische Profitabilität nachzuweisen.
Realitätssinn und Wahrheit bleiben dabei immer mehr auf der Strecke, während
Steuermittel im wachsenden Maße vergeudet werden.