Junge
Welt
16.05.2013 / Schwerpunkt / Seite 3
Roulette-Rundumschlag
»Menschenversuche in DDR« lautet der neue Medienaufreger. Berliner Senat hatte in den 90er Jahren eine Untersuchungskommission eingesetzt. Ergebnisse werden wohlweislich ignoriert
Klaus Huhn
Nach der »Zwangsarbeit« haben die Medien in
Sachen DDR einen neuen Skandal ausgemacht. »Westliche Pharmakonzerne setzten in DDR-Kliniken
unerprobte Arzneien ein«,
gibt der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe den Takt vor. »Mehr als 50000 Patienten
dienten als Testpersonen, oft ohne es zu wissen. Aufgeklärt wurden die
Menschenversuche bis heute nicht.« Vom Boulevard - »Doping-Mittel an DDR-Babys
getestet«
titelte am Montag der Berliner Kurier - bis zum MLPD-Blatt Rote Fahne (»Westliche Pharmakonzerne
betrieben in der DDR systematisch Menschenversuche«) stiegen alle mit ein.
Am Dienstag nahm sich die Bundesregierung der Sache an. Die Aufarbeitung der
SED-Diktatur dürfe
nicht beim Stasi-Thema verharren, so ihr Kampfauftrag.
Neu ist
das Thema nicht. Gleichwohl geht der aktuelle Spiegel nicht auf seine Ausgabe
vom 4. Februar 1991 ein, denn dort kommen erstmals die Arzneimitteltests zur
Sprache: Damals hatte das Hamburger Magazin geschrieben: »Das ist russisches
Roulette. Schmutzige Geschäfte
mit westlichen Pharmakonzernen brachten dem SED-Regime Millionen.«
In der seitenlangen Horrorstory hieß es weiter: »Der SED-Staat kassierte für die Menschenversuche
Millionen in harter Währung.
(...) Allzugern griffen westliche Pharmakonzerne zu, als sich ihnen die Chance
bot, aggressive und oft noch nicht zugelassene Präparate in den Kliniken der DDR auf Wirksamkeit
und Nebenwirkung zu prüfen.«
Die Menschenversuche hätten
zu den »schmutzigsten
Geschäften« gehört, »mit denen sich das
SED-Regime die dringend benötigten
Devisen beschaffte«.
Den »für beide Seiten
vorteilhaften Deal«
habe die Firma Berliner Import & Export GmbH (BIEG) eingefädelt. »Deren oberster Boß
war einer, der die DDR stets mit D-Mark oder Dollar zu versorgen wußte
- Stasi-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski. (...) Gespritzt und geschluckt
wurde, was die Forschungslabors der Westkonzerne hergaben: Betablocker,
Antidepressiva, Zytostatika und schließlich auch Wirkstoffe aus den Genlabors. Die
Marburger Hoechst-Tochter Behringwerke erprobte an 21 DDR-Bürgern vom Juni 1987 bis
zum Oktober 1989 das Antikrebsmittel Pirarubicin. Die
Patienten kotzten und verloren ihre Haare.«
Gutachten für
den Senat
Danach tat
sich etwas, womit kaum jemand gerechnet hatte: Der Berliner Senat - inzwischen
von Pankow bis Zehlendorf regierend - schien ebenso schockiert wie viele
Spiegel-Leser und setzte eine Untersuchungskommission ein. Deren Auftrag war präzise formuliert: »In den Medien erhobene
Vorwürfe
gegen die Art und Weise, wie Arzneimittelprüfungen in der früheren DDR im Auftrag von Arzneimittelherstellern
vorwiegend aus der alten Bundesrepublik an Patienten in Ostberliner Krankenhäusern durchgeführt wurden, veranlaßten
die Senatsverwaltung, diese Vorwürfe überprüfen zu lassen.« Berufen wurden in die Kommission Frau Prof. Dr.
med. Mattheis, Vorsitzende der Ethik-Kommission der Ärztekammer Berlin; Dr.
med. Peters, Mitarbeiter der Senatsgesundheitsverwaltung; Prof. Dr. med. Dr. h.
c. mult. Prokop, ehemaliger Leiter des Instituts für gerichtliche Medizin
der Humboldt-Universität;
Prof. Dr. med. Coper, Leiter der Abteilung
Neuropsychopharmakologie der Psychiatrischen Klinik der FU, und der Chef des
Westberliner Instituts für
Arzneimittelinformation Ulrich Moebius. Letzterer
hatte im Spiegel (Heft 6/1991) konstatiert: »Die Patienten in der DDR wurden offenbar als
billige Versuchskaninchen mißbraucht.«
Nach
Beendigung ihrer Monate währenden
Tätigkeit
übergab
die Kommission ihren Bericht. Der wohl entscheidende Satz aus dem acht Seiten langen, eng beschriebenen
- und auch von Moebius unterschriebenen - Protokoll
lautet: »Das
Prüfdesign
der sogenannten Doppelblindstudie mit Placebo, bei der Arzt und Patient nicht
wissen, ob letzterer das Prüfmedikament
oder eine wirkstoffreie Zubereitung bekommt - in
einem Zeitschriftenartikel als »russisches
Roulette«
bezeichnet -, kam nach Aussage der befragten Ärzte nur dann zur Anwendung, wenn keine
anerkannte Standardtherapie zur Verfügung stand. Dies entspricht allgemein üblichem Vorgehen.«
Dem folgte ein behutsam formuliertes »Geständnis«: »Es ist zu begrüßen, wenn Massenmedien dem Problem der
Arzneimittelprüfung
Beachtung schenken, insbesondere, wenn das Interesse der Öffentlichkeit sich auf
tatsächliche
oder vermutete Verstöße
gegen diese Regeln richtet. Daß manche Publikationen - von naturgemäß fachlich weniger
Erfahrenen - über
das Ziel hinausschießen
und daß
aktuelle Zeitumstände
das Bild beeinflussen, ist erklärlich.
Deshalb wurde bei der Durchführung
der Untersuchung und der Auswertung der Materialien besonders sorgfältig vorgegangen, um die
Tatbestände
unter Berücksichtigung
der Rahmenbedingungen und Hintergründe vorurteilsfrei zu bewerten. (...) Die der
Kommission vermittelten Informationen bieten keinen Anhalt dafür, daß bei klinischen
Arzneimittelprüfungen
in der ehemaligen DDR grundlegend andere Maßstäbe oder Vorgehensweisen als in der alten
Bundesrepublik zur Anwendung kamen.« Deutlicher hatte man die Kritik an den Medien
nicht formulieren können.
Übrigens
hatte der Senat die Kommission aufgefordert, eine Presseerklärung zu formulieren.
Darin hieß es: »Ein gründliches Studium (...) ergibt, daß
diese (gemeint waren die Methoden der
Medikamentenprüfung
in der DDR, jW) nicht hinter den Regeln des
bundesdeutschen ^
Arzneimittelgesetzes
zurückblieben,
in einzelnen Punkten sogar darüber
hinausgingen. So bedurfte in der
ehemaligen DDR zum Beispiel jede klinische Arzneimittelprüfung des positiven
Votums eines (zentral organisierten)
Gutachterausschusses und der förmlichen
Genehmigung durch das
Gesundheitsministerium.«
Wenig Kritikwürdiges
Man konnte
aus dem Untersuchungsbericht der Kommission zudem erfahren, daß
in der DDR kein Pharmaproduzent direkt mit einem DDR-Krankenhaus Kontakt
aufnehmen konnte: »Am
Beginn einer klinischen Arzneimittelprüfung in der ehemaligen DDR stand in der Regel
nicht - wie in westlichen Ländern
üblich
- der direkte Kontakt zwischen Hersteller (Pharmaunternehmer) und ärztlichem Prüfleiter, sondern die
Hersteller gaben ihre Prüfabsichten
einer zentralen staatlichen Stelle, der Firma Berliner Import und Export GmbH
(BIEG) bekannt. Diese bot sie fachlich geeigneten Institutionen (Krankenhäusern und
Forschungsinstituten) zur Durchführung an. Der Prüfleiter konnte dann in direktem Kontakt mit dem
Hersteller gegebenenfalls auf den Prüfplan Einfluß nehmen. (...)
Zahlungen der Auftraggeber gingen - auch dies anders als im Westen - nicht an
den Prüfleiter,
sondern an die BIEG (Deviseneinnahmen). An die Institution, in der die Prüfung stattfand, wurden -
wenn überhaupt
- nur sehr geringe Geldbeträge
weitergeleitet. Über
die Höhe
der Zahlungen an die BIEG blieb sie uninformiert. (...) Ein Anreiz für die Prüfärzte lag darin, Zugang
zu bestimmten Medikamenten zu bekommen, die sonst nicht zur Verfügung standen, sowie in
der Möglichkeit
zu Reisen, auch Auslandsreisen, u.a. um über Ergebnisse zu berichten. (...) Die
Entkoppelung von Akquisition und Durchführung von Prüfaufträgen hat unter dem Gesichtspunkt des Patienten-
und Probandenschutzes Vorteile, weil zwischen Pharmaunternehmen und Prüfarzt
eine Instanz eingeschaltet ist, die z.B. fallzahlorientierte Prämien - eine nicht unübliche Motivation für die Erprobung neuer
Medikamente -wirkungslos macht und die sich außerdem ein Bild über finanzielle Leistungen an den Arzt machen
kann. (...) Der in den Medien erhobene Vorwurf angeblich >lascher DDR
Gesetzgebung«
kann angesichts der vorstehenden Ausführungen nicht bestätigt werden. (...) Im Gegensatz zu den
Bestimmungen des jetzt in der gesamten Bundesrepublik geltenden
Arzneimittelgesetzes, das für
klinische Prüfungen
lediglich eine Anzeigepflicht vorsieht, bedurften diese in der DDR einer
Genehmigung durch das Gesundheitsministerium.«
Die vom
Berliner Senat eingesetzte Kommission hatte aber auch Mängel der in der DDR geübten Praxis ausgemacht: »Umgekehrt war die
Tatsache, daß
die zentrale Vermittlungsstelle mit den akquirierten Arzneimittelprüfungen Deviseneinnahmen
erzielte, nicht unumstritten. Dies kam deutlich in einem Schreiben des
Vorsitzenden des Zentralen Gutachterausschusses für Arzneimittelverkehr (ZGA, d. Red.) vom 6.6.1986 an den Stellvertreter des
Ministers für
Gesundheitswesen zum Ausdruck, in dem es heißt: >Ein echtes Problem tritt (auch) dann auf,
wenn der erwartete Nutzen einer Prüfung am Menschen weder einen Erkenntnisgewinn
noch einen gesundheitspolitischen Fortschritt bringt, indessen aber einen rein ökonomischen Vorteil
(Valuta)... In solchem Fall wird jeweils das Vorhaben vom Vorstand des ZGA sorgfältig geprüft, im Zusammenwirken
mit dem Beratungsbüro.'
Das Zitat läßt
auf jeden Fall erkennen, daß Problembewußtsein vorhanden
war.«
Mithin:
Die Kommission fand in vier Monaten emsiger Untersuchungen nur wenig Kritikwürdiges, der Roulette-Rundumschlag
war im Grunde widerlegt. Vom Berliner Senat. Wohlweislich erwähnt der aktuelle Spiegel
das mit keiner Silbe.