Neues Deutschland vom 9. Februar 2008, Seite 22 (Geschichte)
Das Jahr 1978 in der DDR - debattiert von Wissenschaftlern und Zeitzeugen
Nix mit Paradigmenwechsel
Von Karlen Vesper
Gewiss trifft die Rosa Luxemburg Stiftung Brandenburg keinerlei Schuld, dass am vergangenen Dienstag das Aus für Aust schlug, der langjährige Chefredakteur des »Spiegels« seinen Hut nehmen musste; mit dem sogenannten Spiegel-Manifest von Januar 1978, dem die just an jenem Tag eröffnete Konferenz im Alten Rathaus in Potsdam gewidmet war, hatte er wohl nix zu tun. Die Brandenburger »Luxemburgianer« dürften allerdings nicht frei von Schuld sein, wenn der alte Staufer im Kyffhäuser unsanft um seinen Jahrhunderte-Schlaf gebracht worden wäre. Hatten sie doch als Kronzeugen Hermann von Berg geladen, der mit donnernder Stimme »unser Heiliges Römisches Reich«, Friedrich l. »Barbarossa«, beschwor und von »Großdeutschland« schwärmte. Die Linke habe in der nationalen Frage stets versagt, erklärte er mehrfach und bekräftigte, was er dereinst als Professor an der Humboldt-Universität Berlin dem Korrespondenten des »Spiegels« Ulrich Schwarz u. a. in den Block diktiert hatte: »Marx ist Murx. Marx war kein Wissenschaftler. Und Lenin hat mit seiner Neuen Ökonomischen Politik versagt, weil es die alte war.«
Marx ist nicht Murx
Solch kühne Behauptungen und schräge Visionen wollte und konnte die Moderatorin der Podiumsdiskussion, Ingrid Zwerenz, nicht unwidersprochen lassen »Also bitte, so nicht! Wir wollen Marx doch historische Gerechtigkeit widerfahren lassen.« Nicht von ungefähr würden die Chinesen den Philosophen aus Trier »Gedankenvater« nennen. Und der Philosophieprofessor H.-C. Rauh warf ein: »Marx war einer der bedeutendsten Sozialkritiker des 19. Jahrhunderts«; dessen Geisteswelt sei nicht mit dem ML-Lehrbuch zu identifizieren. Zuvor hatte Cay Hehner aus New York Marx neben Henry George (1839-1897, »Progress and Poverty«) als einen der wenigen großen Volkswirtschaftler gewürdigt, die soziale Not im Blick und soziale Gerechtigkeit gefordert hatten. Festgehalten sei hier: Weder Bergs Anti-Marx-Polemik auf der Konferenz noch die Forderung von Erich Loest in einem Offenen Brief, das Karl-Marx-Relief der Alma Mater Lipsiensis nicht wiederaufzustellen, wird die international wie auch hierzulande zu registrierende Marx-Renaissance aufhalten!
Widerspruch erfuhr Berg in Potsdam auch von einer
Obermedizinalrätin. Edith Ockel stritt gegen die im »Spiegek-Manifest erhobenen Vorwürfe gegen die Sozial-, insbesondere
Gesundheitspolitik der DDR. »An ihrem Gesundheitswesen ist die DDR nicht zugrunde gegangen«, betonte sie und rühmte vor allem die Betreuung von
Schwangeren, jungen Müttern und Kleinkindern. Es sei kein Zufall, dass man sich daran
wieder erinnere; der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte forderte erst kürzlich Reform und Verbindlichkeit der
Vorsorge für a//e Kinder
in Deutschland. Ockels Replik, vorgetragen am zweiten
Konferenztag, kam dem bereits entschwundenen Berg nicht mehr zu Ohren. »Der versäumte Paradigmenwechsel« war die Konferenz überschrieben. Untertitel: »Spiegek-Manifest und >Erster Deutscher im Alk - die DDR
im Jahr 1978«. Kosmonaut
Sigmund Jähn
war leider verhindert. Auch konnten in Potsdam die letzten Geheimnisse um das
ominöse Dokument,
das der »Spiegel« als »Manifest der ersten organisierten
Opposition in der DDR« veröffentlicht hatte, nicht gelüftet werden. Wer waren jene
Intellektuellen, die, wie das Hamburger Magazin behauptete, einen »Bund Demokratischer Kommunisten
Deutschlands« gegründet hatten? Berg beharrte: »Wir haben damals abgesprochen, es werden
keine Namen genannt, weder im Verhör noch gegenüber der Presse oder sonstwo.
Und dabei bleiben wir.«
Was auf die Gesichter einiger Konferenzteilnehmer ein ahnendes Lächeln zauberte. »Wir«?
»Der KG B war's.«
Diesen Bund hat es nie gegeben, das »Manifest«, das zwei heftig-kontoverse Debatten im Bundestag und eine breite Diskussion in den westdeutschen Medien auslöste, war keineswegs die Inauguraladresse einer Plattform innerhalb der SED. Der Text ist ein Konglomerat von unter DDR-Wissenschaftlern und Parteimitgliedern kritisch diskutierten Fragen; es strotzt indes vor Eklektizismus und Widersprüchen, die jeden intelligenten Menschen beschämen müssen. Stefan Heym, der damals eine Provokation der SED-Spitze selbst vermutete, erinnerte sich später: »Das Ding las sich, wie der kleine Moritz sich den Seelenerguss einer innerparteilichen Fraktion vorstellt, die um die Gefolgschaft im Lande wirbt.«
Der Versionen, wer hinter dem Spiegel-Manifest steckt, gibt
es viele; einige unterbreitete Dominik Geppert in
seinem Buch »Störmanöver« (Ch. Links, 1996). In Potsdam äußerte während eines Pausengespräches einer der anwesenden Spiegel-Redakteure:
»Der KGB war's.«
Durchaus möglich. Hatte sich doch seinerzeit auch Erich Honecker, wie zuvor
Walter Ulbricht, gewisse Freiheiten und »Unverschämtheiten« gegenüber Moskau
erlaubt, auf die u. a. Siegfried Prokop im Einleitungsreferat hinwies. Warum
also sollte nicht der Kreml auf diesem Wege den aufmüpfigen Brüdern Am
Werderschen Markt in Ostberlin signalisiert haben: »Ehe ihr eine kecke Lippe
riskiert, kümmert euch um eure eigenen Probleme, um eure innerparteiliche
Opposition.« Berg selbst zu fragen, ob er damals nicht
eventuell fremdgesteuert gewesen sei, wagte sich
freilich keiner der Konferenzteilnehmer; aus Respekt vor dessen Temperament.
Und so konnte sich der Kronzeuge frohgelaunt mit dem Bekenntnis verabschieden: »Ich
hätte Lust, ein drittes Manifest zu verfassen.« Wie
auch immer, mit oder ohne Manifest, das Jahr 1978 brachte jedenfalls keinen
Paradigmenwechsel in der DDR, nicht in der SED (Wilfriede Otto, Matthias
Wagner), nicht in der Industrie (Jörg Roesler), nicht
in der Landwirtschaft (Siegfried Kuntsche),
allenfalls im kulturellen Bereich. Peter Arlt nannte
Wolfgang Mattheuers »Sisyphus« und die »Ausgezeichnete«
sowie Bernhard Heisigs »Ikarus« für die Galerie im
Palast der Republik (»Dürfen Kommunisten träumen?«)
als beispielgebende Werke für stilistische und inhaltliche Zäsuren. Die
DDR-Literatur sichtete daraufhin Leonore Krenzlin.
Die internationale Dimension blieb nicht ausgeblendet. Prokop skizzierte den
tatsächlichen Paradigmenwechsel ab 1978 in China. Jean Mortier aus Paris begründete,
warum Frankreich bis 1989/90 an zwei deutsche Staaten interessiert und wieso
der französische Botschafter nicht »in der DDR, sondern in Berlin bei der DDR«
akkreditiert war. Konservatismusforscher Ludwig Elm erinnerte an Vorgänge in
der Bundesrepublik: die Anti-Terror-Gesetze des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt und
dessen Vorreiterrolle beim NATO-Doppelbeschluss sowie Rolf Hochhuths Stück »Der
Stellvertreter«, mit dem 1978 die Filbinger-Affäre ausgelöst war und die
konservativen Parteien gezwungen wurden, sich ihrer NS-Vergangenheit zu
stellen. Besonders interessant, weil kaum bekannt, waren die Ausführungen von
Eckhart Mehls über ein sich am Vorabend der großen Krise in Polen
konstituierendes Komitee zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter (SKOR),
dessen Gründungsaufruf in Paris, in der Exil-Zeitschrift »Kultura«,
erschienen war, das aber weitreichende Bedeutung in
der Volksrepublik gewinnen sollte: Es umschloss erstmals alle
gesellschaftlichen Schichten, vereinte Arbeiter und Intellektuelle,
demonstrierte breite gesellschaftliche Solidarität.
Die emsigen Ärzte
Last but not least wagten sich die Konferenzteilnehmer auch an eine Diagnose des gegenwärtigen Kapitalismus. Von Agonie und Koma war die Rede, von Zuständen, die nach Revolution schreien. Den Einwand, dass eine solche kaum denkbar sei in Deutschland, wo es doch nach wie vor eine Sozialdemokratie gebe, die Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spiele, ergänzte der als Zeuge für die Beachtung bzw. Nichtbeachtung des »Spiegel«-Manifests in der westdeutschen Linken geladene Schriftsteller Gerhard Zwerenz: »Ja, und solange es auch eine Linke gibt, die sich als Arzt am Krankenbett der Sozialdemokratie versteht.«