junge Welt vom 25.11.2004
Thema
Seriöse Aufklärung von Naziverbrechen
Die DDR-Staatssicherheit als Untersuchungsorgan: »Wessen ernstliche Profession die Aufklärung von Naziverbrechen ist, wer deren oft qualvoll geprüften Opfern im Verhandlungssaal oder Vernehmungszimmer begegnet, bleibt davon lebenslang geprägt«
Günther Wieland (*)
* Der Anfang des Jahres
verstorbene Günther Wieland (16. April 1931
bis 13. Januar 2004) hat als Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt der DDR seit
1963 Nazi- und Kriegsverbrecher gesucht, identifiziert und vor Gericht
gebracht, zweitens die juristische Verfolgung von Naziverbrecher innerhalb der DDR
koordiniert, einschließlich der internationalen
Rechtshilfe auf diesem Felde, und drittens nach seinem Ausscheiden aus dem
Beruf die Geschichte dieser Verfolgung wissenschaftlich erforscht. Das betrifft
auch die einschlägige Arbeit der
Staatssicherheit, die in der DDR ab 1968 für die
Untersuchung dieser Verbrechen zuständig war. Wir
drucken einen Auszug aus seiner Studie »Die Ahndung
von NS-Verbrechen in Ostdeutschland 1945-1990«, die Günther Wieland für die von
Christiaan Frederik Rüter herausgegebene elfbändige Reihe »DDR-Justiz und NS-Verbrechen.
Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen«, Amsterdam
University Press - K.G. Saur, 2002, geschrieben hat
(siehe jW vom 25.10.2002) und die auch in einem
Wieland-Gedächtnisband enthalten sein wird,
der im Dezember in der Edition Organon erscheint.
Mit dem Strafgesetzbuch der
DDR trat 1968 eine neue Strafprozeßordnung in Kraft. Hieß es bislang in Paragraph 96, die Untersuchungen führten staatliche Untersuchungsorgane, listete man sie nun
in Paragraph 88 auf: die des Ministeriums des Innern, des Ministeriums für Staatssicherheit und der Zollverwaltung.
Hatte das MfS seit den fünfziger Jahren zunehmend Einfluß auf die
Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
gewonnen, war es fortan insoweit einziges Untersuchungsorgan. Gleichwohl gab es
erhebliche Unterschiede zu den anfänglichen
Ermittlungen.
Mit »tschekistischen Mitteln«
Der letzte in der Berliner
Zentrale zuständige Abteilungsleiter Dieter Skiba hielt über erste Aktivitäten fest: 1950 blieb die Kriminalpolizei (K 5)
verantwortlich, dem MfS oblag »die Aufklärung und die Bekämpfung gegen
die DDR gerichteter staatsfeindlicher Tätigkeit«. Dabei stellte die »Aufspürung und Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechern ...
einen sicherheitspolitischen Schwerpunkt dar«, der
bedingte: 1. Fahndung nach Flüchtigen und Untergetauchten, wobei
das MfS mit »tschekistischen Mitteln und Methoden« die Polizei
unterstützte, 2. erfüllte es »spezifische Aufträge der Partei« zur »Entlarvung von ehemaligen Gestapo-Mitarbeitern,
Spitzeln und Verrätern« (am 28. Februar 1953 übergab das ZK
dazu dem MfS umfangreiche NS-Akten: u.a. 369 Ordner
der Gestapo, 695 Ordner des Reichsinnenministeriums, Tausende Prozeßakten
des Volksgerichtshofs) und 3. bearbeitete es Hinweise zu Verdächtigen.
In der Tat beruhten die
ersten von der Staatssicherheit ermittelten NS-Verfahren eher auf zufälligen Anlässen, nämlich Erkenntnissen, die man bei Recherchen zu tatsächlichen oder vermeintlichen Staatsschutzdelikten gewann.
Zweitens wurde sie tätig, wenn andere Instanzen bei
Einstellungen, Berufungen u.a. in Personalunterlagen auf
verdächtige Ungereimtheiten stießen. Drittens
gab es private Tips: NS-Verfolgte erkannten einstige
Peiniger, zuweilen stammten Hinweise selbst aus dem familiären Umfeld der Betroffenen.
Zumal die Funktion des MfS
im Staatsschutz bestand, fehlte bei der Aufklärung von
Naziverbrechen zunächst die Systematik, die der K 5
zumindest regional zu attestieren war, was schon der geringe Anteil der
Staatssicherheit an diesen Untersuchungen verrät. Skiba weist ihn bis 1955 (nach eigenen Angaben evtl. nicht
völlig vollständig) wie folgt aus:
Jahr/ Abgeurteilte/ davon MfS ermittelt/ Prozent
1951 / 331 / l / 0,1
1952 / 140 / 3 / 2,1
1953 / 85 / 9 / 10,5
1954 / 35 / 20 / 57,1
1955 / 23 / 16 / 69,5
Von
1956 bis 1960 verschob sich die Relation weiter: 14 der 18 rechtskräftigen Urteile beruhten auf Geheimdienstrecherchen. Von
1961 bis 1965 weist Skiba 29 der 30 Verurteilten als
so entdeckt und verfolgt aus.
Unter den frühesten vom MfS bearbeiteten Vorgängen befanden sich neben korrekt aufgeklärten solche, die gravierende Mängel aufwiesen, da sie nicht auf durch objektive Belege
gedeckten Geständnissen beruhten. Das gilt für das Verfahren gegen die als Erna Dorn Verurteilte, das
weder deren Identität noch deren Rolle im Nazistaat verläßlich
auswies. Mögen widersprüchliche Angaben der Beschuldigten und ihre ostpreußische Herkunft das Feststellen der Personalien erschwert
haben, gilt das nicht für die - sich zudem ausschließenden - Vorwürfe, sie wäre »Kommissarin« der Politischen Abteilung im KZ Ravensbrück gewesen und habe dort Häftlinge beim
Arbeitseinsatz bewacht.
Selbst in den sechziger
Jahren blieben zuweilen solche Mängel unübersehbar, die Ankläger und
Richter ungeprüft übernahmen, so im Prozeß gegen drei
Ravensbrück-Aufseherinnen: Das BG Rostock sprach sie 1966 neben
anderer Straftaten auch der Teilnahme an Vergasungen in einem Zeitraum
schuldig, zu dem dort die Gaskammer noch gar nicht existierte.
Begünstigt wurden solche Mängel wohl
dadurch, daß
die Staatssicherheit wie zuvor die Polizei zunächst durchweg
auf regionaler Ebene ermittelte und die für die Aufsicht
über die Ermittlungsverfahren verantwortliche
Staatsanwaltschaft es bei lokaler Anleitung beließ. Zwar hatten
die Bezirksverwaltungen des MfS Zugriff auf seit 1952 in der Berliner Zentrale
gesammelte, anderen Organen und der Wissenschaft unzugängliche Unterlagen aus der NS-Zeit. Zugleich konnten sie
sich bei Bedarf auf Hinweise stützten, die seit Ende der fünfziger Jahre das Referat 3 der MfS-Abteilung XX/2 zentral über in der DDR lebende NS-Verdächtige sammelte.
Zentrale Erfassung ab 1965
Ein grundlegender Wandel
bei der Aufdeckung und Aufklärung von Naziverbrechen trat
jedoch auch in der DDR erst nach dem Ulmer Einsatzkommandoprozeß und der Gründung der Zentralen Stelle Ludwigsburg in der BRD, der
Eichmann-Verhandlung in Israel sowie dem Globke-Verfahren
in der DDR ein. Jetzt bildete das MfS am 6.8.1965 in der Berliner Zentrale die
Abteilung IX/10, die gegen DDR-Bürger wegen des Verdachts der
Teilnahme an Naziverbrechen eingeleitete Ermittlungsverfahren zu bearbeiten
hatte. Die Generalstaatsanwaltschaft übertrug dazu
die Aufsicht einem Staatsanwalt ihrer zuständigen Strafabteilung.
Bereits am 28. Mai 1964
hatte - vom ZK der SED initiiert - der Ministerrat zur »zentralen Erfassung und einheitlichen Auswertung aller in
der DDR befindlichen Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1945« eine Dokumentationsstelle beschlossen. Sie (später: Dokumentationszentrum) entstand beim Ministerium des Innern
und hatte Millionen von Quellennachweisen zu verwahren, so daß man den nahezu lückenlosen Überblick über einschlägige Archivalien besaß, die naturgemäß Erkenntnisse
über hier lebende und über auswärtige NS-Verdächtige vermittelten.
Dualismus Geheimdienst-Justiz
Das alles führte zum Qualitätsgewinn, zu
dem zugleich die durch Ministerbefehl 39/67 am 1. Februar 1968 entstandene, als
»Struktureinheit« aber seit
Ende 1964 existierende MfS-Abteilung IX/11 beitrug. Deren Aufgabe war »die einheitliche, systematische Erfassung, Archivierung,
politisch-operative Auswertung und Nutzbarmachung aller im Bereich des MfS
vorhandenen und noch zu beschaffenden Materialien des Faschismus aus der Zeit
bis 1945«. Das diente vor allem drei Zielen: Erstens Entlarvung
belasteter Personen im Westen, zweitens Vorbereitung von Verfahren gegen
hiesige Verdächtige, drittens »Absicherung und Unterstützung des
Rechtshilfeverkehrs des Generalstaatsanwalts der DDR mit BRD-Justizbehörden«.
Die letzte Funktion
beendete einen Dualismus, der zwischen Geheimdienst und Justiz bestand. Als die
Staatsanwaltschaft eine zunächst verschieden benannte
Abteilung (»Dokumentation«, »V«) bildete, die
Beweismaterial gegen im Westen amtierende Angehörige der
NS-Ausnahmegerichtsbarkeit finden und dortigen Instanzen übergeben sollte, führte das bald
zur wechselseitigen Kooperation mit diesen: Die BRD-Justiz erstrebte zumeist in
gegen KZ-Wächter angestrengten Ermittlungen
ostdeutsche Förderung. Das wiederum bewirkte, daß
man vereinzelt auch auf hier lebende bislang nicht abgeurteilte SS-Chargen und schuldbeladene
Kapos stieß.
Da zugleich das MfS
bestrebt war, sowohl die NS-Vergangenheit bundesdeutscher Prominenz aufzudecken
als Kenntnisse über Verdächtige im Osten zu gewinnen, gab es Konflikte, die sich
zudem dadurch komplizierten, daß die Staatsanwaltschaft in zwei Fällen der Bundesjustiz Material zu Geschehen übermittelt hatte, an denen bislang nicht verfolgte hier
Wohnende beteiligt gewesen waren.
Schließlich artete die Ernennung des BRD-Generalbundesanwalts
Wolfgang Fränkel diesseits der Elbe zur Kraftprobe
aus, die das schwergewichtigere Organ zumindest zunächst gewann. MfS und Justiz hatten unabhängig voneinander über dessen
Rolle in der Nazizeit eruiert. Der Geheimdienst suchte wohl Personalakten. Die
aber hatte 1946 Leipzigs Landgerichtspräsident als
Verwalter des vormaligen Reichsgerichts nach Kiel geschickt, so daß
diese Recherchen keinen Erfolg zeitigten. Als das 1962 der ebenfalls neuernannte hiesige Chefankläger erfuhr,
untersagte er - nach seinen Worten auf Drängen der
MfS-Spitze - den Staatsanwälten weitere Nachforschungen.
Mehr noch: Die in Betracht kommende Abteilung wurde aufgelöst, die Mitarbeiter versetzt. Erst als deren damaliger
Leiter auf eigene Faust weiter forschte, über 30 von Fränkel initiierte Nichtigkeitsbeschwerden fand und sich der
Hilfe aus dem Umfeld des Politbüromitglieds Albert Norden
versicherte, hob man die Restriktionen wieder auf.
Mitte der sechziger Jahre
erwies sich schließlich jener Dualismus aus
mehreren Gründen als störend. Wegen der in der BRD drohenden Mordverjährung häuften sich deren
Rechtshilfeersuchen und Anfragen derart, daß sie von den vier
dafür zuständigen DDR-Staatsanwälten nicht mit gebotener Sachkunde zu erfüllen waren. Zudem zog die geringe Personalausstattung der
Behörde der Hilfe von Kollegen aus nachgeordneten
Dienststellen enge Grenzen. In den Kreisen arbeiteten oft allenfalls zwei
Staatsanwälte, die mit eigenen Obliegenheiten so ausgelastet waren, daß
ihnen Aufträge zur Aufklärung von Naziverbrechen nur in ganz dringenden Fällen zugemutet werden konnten.
Bevor die Behördenleitung befinden konnte, wie jene Ersuchen dennoch
korrekt zu erfüllen waren, bewirkten andere
Ereignisse eine Korrektur. Zum großen Frankfurter
Auschwitzprozeß
hatte die DDR-Justiz Zeugen vermittelt. Als dort ein inzwischen berenteter
DDR-Offizier gehört wurde, erstreckte sich dessen
Befragung durch einen Verteidiger - wie Westmedien genüßlich meldeten -
weniger auf seine KZ-Erlebnisse als auf die Funktion, die er am 13. August 1961
bekleidet hatte. Lasen DDR-Obere schon das konsterniert, brachte das Verhör eines weiteren Ostdeutschen das Faß zum Überlaufen: Ihn griff ein Advokat mit dem (zutreffenden)
Hinweis an, er sei weder aus politischen noch rassischen Gründen im KZ gewesen und daher unglaubwürdig. Zwar war das Heuchelei, da derartige Zeugen - oft auf
Antrag der Verteidiger - in dortigen Gerichtssälen zuhauf und
in aller Regel unbeanstandet vernommen wurden. Dennoch hatte der für das Erscheinen jenes KZ-Häftlings
verantwortliche Ostberliner Staatsanwalt in den Augen führender hiesiger Persönlichkeiten
eine unverzeihliche Sünde begangen: Für sie hatten DDR-Zeugen Repräsentanten des
antifaschistischen Widerstandes bzw. über jeden
Zweifel erhabene Naziverfolgte zu sein.
Jedenfalls wies der
Generalstaatsanwalt daraufhin an, künftig die
Rechtshilfe mit der Hauptabteilung Untersuchung des MfS zu koordinieren. Das
bot beiden Seiten Vorteile: Der Geheimdienst erlangte unmittelbaren Einfluß
auf die ihm bis dahin im Detail ungeläufigen Aktivitäten der Staatsanwälte. Und sie
profitierten davon, eine nachgeordnete Instanz zu
haben, die mit Recherchen zum Vorbereiten von Strafverfolgungsersuchen und zum
Erfüllen auswärtiger Rechtshilfewünsche betraut werden konnte. In der Tat gestaltete sich die
Kooperation nach anfänglichen Schwierigkeiten
effektiv. Erst später erwies sich, daß die unterschiedlichen Funktionen auch Probleme bereiteten,
auf die unten gesondert einzugehen ist.
NS-Fonds im MfS-Zentralarchiv
Unbeschadet dessen ist den
folgenden Aktivitäten zum Aufdecken und Aufklären von Naziverbrechen Zielstrebigkeit zu attestieren.
Vorrangig stützten sie sich auf vier Quellen:
Die Abteilung IX/11 übernahm den bis dahin im Zentralarchiv des MfS verwahrten
NS-Fonds. Zugleich wertete sie inzwischen von der UdSSR zurückgegebene, seit 1945 als Beutedokumente dorthin gelangte
NS-Unterlagen aus. Dabei gewann man Einblick in Aufbau, Einsatz und
Personalbestand von Einheiten, die an Verbrechen teilgenommen hatten, und
konnte prüfen, wer von deren Angehörigen schon in
bzw. von Tatortstaaten abgeurteilt worden war. Außerdem waren
dem MfS schon Anfang der sechziger Jahre verschiedene in Polen und der
Tschechoslowakei lagernde Bestände (in Prag vor allem vom MfS
verfilmte Originale des Kriegsarchivs der Waffen-SS sowie Justizakten) zugängig, zu denen sich später noch
Archivgut aus Ungarn und Jugoslawien gesellte.
Zweitens beschaffte die
seit langem mit der polnischen Hauptkommission fruchtbare
Kontakte pflegende Staatsanwaltschaft Kopien umfangreicher dort
lagernder deutschsprachiger Dokumente sowie Hunderte Zeugenvernehmungen
polnischer Bürger und wissenschaftliche
Expertisen über in deren Heimatland verübte Untaten.
Drittens wurden sämtliche aus dem Gegenstand westlicher Rechtshilfeersuchen
ersichtlichen Sachverhalte eingehend darauf untersucht, ob sie evtl. hier
Lebende tangierten.
Viertens vermittelten die
zunehmend in Staats-, Stadt- und Betriebsarchiven erfaßten und vom
Dokumentationszentrum des Mdl verwahrten Signaturen
der NS-Bestände sachdienliche Erkenntnisse.
Dazu gesellten sich bald
umfangreiche verfilmte Unterlagen, die die Staatliche Archivverwaltung der DDR
auf Anregung der Akademie der Wissenschaften - Zentralinstitut für Geschichte - auf kommerzieller Grundlage aus Westeuropa
und Übersee, insbesondere dem Nationalarchiv der USA in
Washington, erwarb.
Hinweise aus Osteuropa
Nahezu durchweg führten die hiesigen Recherchen aus objektiven Gründen nur zu Verfahren gegen einzelne, wobei freilich
manchmal die Verhaftung eines Verdächtigen half,
weitere Tatbeteiligte zu identifizieren. Prozesse gegen mehrere Angeklagte
bildeten die Ausnahme. Das könnte den Eindruck zufälliger Ermittlungserfolge erwecken. Daß es nicht zu
Hauptverhandlungen gegen zehn oder mehr Personen kam, ist darauf zurückzuführen, daß erstens die
sowjetische Besatzungsmacht wegen der jetzt oft den Gegenstand der Verfahren
bildenden in Osteuropa verübten Straftaten nach 1945
zahlreiche Beteiligte verfolgt hatte und zweitens das Gros der an den
Verbrechen Beteiligten sich im Westen aufhielt.
Hin und wieder halfen
freilich nach wie vor auch Zufälle den Ermittlern. Im Ergebnis
der Sicherheitsdoktrin der DDR (»Wer ist wer?«) führte zuweilen die berufliche
Karriere - teils die der Betroffenen, teils bereits die ihrer Kinder - zu
entsprechenden Erkenntnissen.
Verschiedentlich erbrachten
die Kontakte der Staatsanwälte auswärtige Hinweise von unterschiedlicher Konkretheit
auf hier lebende Verdächtige. Sie stammten meist aus
Osteuropa, vorwiegend aus Polen. 1966 hatte auch die Staatsanwaltschaft Hamburg
über den an der Deportation Warschauer Juden beteiligten
Josef Blösche
mit der Bitte informiert, ihn in die Hansestadt zu überstellen, wo bereits Haftbefehl erlassen worden war. Da
die DDR dem nicht entsprach, vielmehr das Bezirksgericht Erfurt gegen den
SS-Untersturmführer die - in der BRD
abgeschaffte - Todesstrafe verkündete, unterblieben in den
folgenden Jahren derartige bundesdeutsche Informationen.
Hürden für Rechtshilfeverfahren
Als der Autor dieser Studie
1968 zu Rechtshilfekontakten vor dem zweiten Kölner Sachsenhausenprozeß am Rhein war, bat ihn der dortige Oberstaatsanwalt Kepper, Generalstaatsanwalt Streit die Bereitschaft der
Bundesrepublik zu signalisieren, der DDR Erkenntnisse über hier lebende Tatverdächtige zu übermitteln, wenn gegen die Betroffenen die Todesstrafe
nicht beantragt bzw. nicht vollstreckt werde. Dazu konnte man sich in Ostberlin
nicht entschließen, zumal damals mehrere
Opferstaaten (neben den osteuropäischen Israel und Frankreich)
diese Strafe kannten. Es verging noch ein Jahrzehnt, bis die Anklagebehörde der DDR mit der Generalstaatsanwaltschaft Celle sowie
dem Landgericht Hannover eine fallbezogene Absprache traf: Die BRD übermittelte ihr Wissen, ein hiesiger Staatsanwalt gab die
Zusage. Obwohl das auch auf Vorbehalte stieß (beklagte man
hier die Preisgabe eines Souveränitätsrechtes, zweifelte man dort an der Verläßlichkeit des
Ostens), zeitigte es Pilotwirkung: Justizbehörden in
Westberlin und Nordrhein-Westfalen trafen analoge Vereinbarungen, die nur
einmal auf den Prüfstand gelangten: Zwei der
betagten Verdächtigen starben, bevor
strafprozessuale Maßnahmen getroffen wurden. Als es
im dritten Fall zum Prozeß kam, endete er mit einer zeitigen
Freiheitsstrafe.
Dagegen sah sich Hamburgs
Justiz - wohl Ergebnis des Falles Blösche - erst nach förmlicher Abschaffung der Höchststrafe in
der Lage, das Ermittlungsverfahren gegen einen hier Lebenden zu übergeben, dessen Aufenthaltsort ihr seit 15 Jahren bekannt
war, was sie dessen Verwandten im Westen längst
mitgeteilt hatte, die jenen so warnen konnten. Auch das symbolisiert regionale
und temporäre Unterschiede, die die deutsch-deutschen
Kontakte zur Ahndung von Naziverbrechen begleiteten. Dennoch haben sie das Aufklären
der Kriminalität gefördert. Zwar gelangten Beweismittel vorwiegend von Ost nach
West, doch stützten sich auch hiesige Urteile zuweilen auf aus der
Bundesrepublik stammende Belege oder auf die Bekundungen von dort angereister Zeugen.
Die überhöhte Position im Staat
Daß hier beim Einleiten von Ermittlungen auch Erwägungen der
Opportunität Pate standen, zeigen die erforderlichen Plazets des MfS-Chefs und
des obersten Anklägers. Während dieser dabei oft erstmals von dem Verdacht
erfuhr (es sei denn, er beruhte auf Erkenntnissen seiner Mitarbeiter), gab es
im Geheimdienst schon lange zuvor Aktivitäten. Zuständig war ein Referat der für
die Justiz nicht wahrnehmbaren und ihrer Aufsicht entzogenen Abteilung XX/2,
dem »operativen Partner« der Abteilung IX/11 bei der Verdachtsprüfung. Kam es
später zur Anklage, erfuhr der Minister selbst von den Anklägern erwogene
Strafanträge, von denen diese nach der Beweisaufnahme zuweilen abwichen.
Die überhöhte Position, die
das MfS im Staat einnahm, schlug sich erst recht im Verhältnis zur
SED-Chefetage nieder. Mielke saß in Honeckers Politbüro und genoß
unter dessen Vollmitgliedern herausgehobenen Zugang zum Parteichef. Der
Generalstaatsanwalt zählte zum vielköpfigen, aber relativ einflußlosen
Zentralkomitee, und die Chefsessel im Obersten Gericht und im Ministerium der
Justiz überließ man viele Jahre Mitgliedern der Blockparteien NDPD, CDU und
LDPD.
So aussagekräftig das den
gesellschaftlichen Stellenwert von Justiz (und Rechtslehre) charakterisiert,
tangiert es doch nicht die Exaktheit der in den letzten beiden Jahrzehnten der
DDR gegen NS-Verdächtige anhängigen Ermittlungs- und Strafverfahren. Schließlich
galt hier wie anderswo: Wessen ernstliche Profession die Aufklärung von
Naziverbrechen ist, wer deren oft so qualvoll geprüften Opfern im Verhandlungssaal
oder Vernehmungszimmer begegnet, bleibt davon lebenslang geprägt. Er empfindet
es nicht nur als berufliche, sondern zudem als ethische Pflicht, zur gerechten
Ahndung dieser Kriminalität beizutragen. Das galt auch für die Untersuchungsführer
des MfS, die der Autor in mehr als einem Vierteljahrhundert Tätigkeit auf
diesem Gebiet kennengelernt hat. Gewissenhafte
Recherchen attestieren denen heute selbst ausgesprochen kritische Betrachter.
Soweit es auf diesem Gebiet
zutiefst berechtigte Kritik am MfS gibt, erstreckt sie sich neben dem geheimniskrämerischen
Umgang mit aussagekräftigen NS-Dokumenten, die Forschung und Justiz oft
vorenthalten blieben, auf das Vorfeld von Ermittlungsverfahren. Das betrifft
die Fälle, in denen man aus vermeintlich höherrangigen politisch motivierten
Interessen von strafprozessualen Maßnahmen Abstand nahm. Das gilt unbeschadet,
ob der Verdacht letztlich - was auch heute partiell zweifelhaft sein mag -zum Schuldspruch geführt hätte.
* Aus: Günther Wieland:
Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz. Beiheft 3 des Bulletins für Faschismus-und Weltkriegsforschung. Edition Organon, Berlin 2004, zirka 480 S, 29 Euro, ISBN
3-931034-03-8