Kein Ende der Hexenjagd
Am 26.9.2019 beschloss der Deutsche Bundestag gegen die
Stimmen der Partei DIE LINKE, die im Stasi-Unterlagengesetz festgelegte
Regelüberprüfung auf „Stasi-Mitarbeit“ um weitere 10 Jahre auf dann insgesamt
40 Jahre zu verlängern.
Verdeckt durch parlamentarisches Geschwätz über
Akteneinsicht als Errungenschaft der friedlichen Revolution und über den Mut
der sog. Bürgerrechtler wurde damit beschlossen, die Stigmatisierung,
Ausgrenzung und Diskriminierung der ehemaligen hauptamtlichen und inoffiziellen
Mitarbeiter des MfS auch nach 30 Jahren nicht zu beenden und vermutlich bis in
alle Ewigkeit fortzuführen.
Selbst Schwerstkriminelle (außer bei lebenslänglichen
Haftstrafen und Sicherungsverwahrung) können darauf vertrauen, dass ihre
Vorstrafen nach spätestens 20 Jahren aus dem zentralen Strafregister gelöscht
werden. Das entspricht dem humanistischen Anliegen, auch solchen Menschen die
Chance der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, auf Resozialisierung,
einzuräumen.
Für „MfS-Täter“ gilt das nicht, obwohl sie sich fast
ausnahmslos keinerlei Verbrechen schuldig gemacht, gesetzestreu verhalten,
anstatt Leichenbergen nur Aktenberge hinterlassen und durch ihr besonnenes
Verhalten den friedlichen Verlauf des gesellschaftlichen Umbruches in der DDR
überhaupt erst ermöglicht haben. Nach
Erkenntnissen der GRH sind nach 1990 nur 2 (in Worten: zwei) ehemalige
MfS-Angehörige wegen ihrer Tätigkeit im MfS zu Strafen mit Freiheitsentzug
verurteilt worden. Noch nicht einmal Erich Mielke wurde für seine Tätigkeit als
Minister für Staatssicherheit angeklagt und verurteilt, sondern nach
Gestapo-Akten aus dem Jahr 1931. (Einer gesonderten Betrachtung bedarf die
gnadenlose Verfolgung und Verurteilung mehrerer hundert DDR-Kundschafter im
Westen – ein Schandmal im Prozess der Herstellung der deutschen Einheit). Nahezu
alle Anschuldigungen gegen das MfS und seine Mitarbeiter sind moralisierender
Art. Ihnen werden heuchlerisch Praktiken
vorgeworfen, die allesamt auch zum Arsenal der „freiheitlich-demokratischen“
Geheimdienste des Westens gehören. (Bespitzelung, Überwachung und natürlich
immer wieder „Zersetzung“). Während aber
Zersetzungsmaßnahmen des MfS auf einen überschaubar kleinen Personenkreis,
vorwiegend führende Köpfe und Strukturen der sog. politischen Opposition (noch
im Juni 1989 zählten die unter dem Dach der evangelischen Kirchen in der DDR
etablierten Gruppen nur ca. 2.500 Personen) beschränkt blieben, betrieben und
betreiben westliche Geheimdienste Zersetzung und Desinformation in weit größerem Stil. So wurden durch die Geheimdienste
in den 60er Jahren ganze maoistische Parteien gegründet und gesteuert, um die
kommunistische Bewegung zu zersetzen, in den 80er Jahren wurde die
Friedensbewegung unterwandert, um den Einfluss der „moskautreuen“ Weltfriedensbewegung
zu eliminieren. Heute muss sich die Bewegung „Fridays
for Future“ gegen Zersetzungsversuche wappnen. Erst
kürzlich kam es in Berlin zu Anschlägen auf Bahnanlagen, deren Verursacher sich
zu Sympathisanten von F4F erklärten, möglicherweise eine zur Diskreditierung
angelegte geheimdienstliche Inszenierung. Der Dauerstreit unter Linken hat
sicherlich vielfältige Ursachen. Dass Geheimdienste mit ihren V-Leuten dabei
engagiert und aktiv mitmischen, kann aber mit Sicherheit vorausgesetzt werden. Zersetzung
wird im heutigen System nicht nur von Geheimdiensten - mitunter aber von diesen
assistiert - in erheblichem Maße auch im Bereich der Politik und Medien
betrieben. Davon zeugen z.B. die Schlammschlachten im US-amerikanischen
Wahlkampf oder beim Brexit, die Rufmordkampagnen der BILD-Zeitung oder
Desinformationen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. („Der Spiegel“ soll
übrigens 1947 mit maßgeblicher Unterstützung der erfahrenen und starken
Desinformationsabteilung des britischen Geheimdienstes MI 6 gegründet worden
sein.)
Die angeblich totale Überwachung der Bevölkerung der DDR,
die seitens des MfS weder vorgesehen noch überhaupt möglich war, wird
konterkariert durch die heutigen Möglichkeiten der Geheimdienste, die unter
Nutzung der Ergebnisse der digitalen Revolution die Überwachung der Bevölkerung
tatsächlich total gestalten können. Kein Computer, kein Telefon, kein Handy, keine
Web-Kamera, kein GPS-System, ist vor dem geheimdienstlichen Zugriff sicher. Wem
das noch nicht reicht, der kann sich eine „Alexa“ anschaffen oder seine
Haushaltsgeräte digital vernetzen. Das Internet und soziale Netzwerke liefern
den Geheimdiensten selbst intimste private Informationen.
Eingeleitet wurde die betreffende Bundestagsdebatte am
26.9. durch eine auf Antrag der AfD anberaumte aktuelle Stunde. Sie gestaltete
sich zu einem Schmierentheater, bei dem sich die AfD mit der Forderung der
Erhaltung der Gauck-Behörde in ihrer jetzigen Form als Vollender der
friedlichen Revolution und Anwalt der „Opfer“ zu profilieren suchte. Die Vertreter
der anderen Parteien wiesen diesen Versuch empört zurück und betonten, dass die
für 2021 (zum Ende der Amtszeit von Roland Jahn) geplante Überführung der
MfS-Akten als separater eigenständiger Teil in das Bundesarchiv das Ziel
verfolge, den Aktenbestand dauerhaft zu sichern und den Zugang zu ihm,
insbesondere durch die Digitalisierung, noch schneller und besser zu
ermöglichen. An der Möglichkeit der Akteneinsicht werde sich nichts ändern. Auch
die Konzentration der Akten auf Länderebene diene lediglich der besseren
Aufbewahrung in neu zu errichtenden oder baulich verbesserten Archiven.
Auskunftsstellen in den ehemaligen Bezirken der DDR würden bürgernah erhalten
und selbst das Zusammensetzen zerrissener Akten oder die Praxis der Schwärzung
bei Auskunftserteilung werde fortgeführt. Die Funktion des Bundesbeauftragten
solle zur Funktion eines Beauftragten für „DDR-Opfer“ und die Forschung noch
stärker mit der Nutzung der Archive der Parteien und Massenorganisationen und
der Staatsorgane der DDR koordiniert werden, um „einen breiteren Blick auf den
Unrechtsstaat DDR“ zu erhalten.
Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner verstieg sich in
dieser Debatte zu der ungeheuerlichen Aussage, dass der Sozialismus in all
seinen Schattierungen - ob brauner roter oder grüner Sozialismus – eine
verbrecherische und menschenverachtende Ideologie sei. Zuvor hatte ein anderer
AfD-Abgeordneter die Partei DIE LINKE „als geistige und moralische Erbin der
Mauerschützenpartei SED“ diffamiert. Bei der Nähe seiner Partei zur faschistischen
Ideologie hätte Brandner wissen können, dass Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“
die Vernichtung des „Bolschewismus“ noch vor die Vernichtung des Judentums
gestellt hatte. Der sozialdemokratische Abgeordnete Helge Lindh distanzierte
sich scharf von diesem Beitrag und verwies u.a. auf die kommunistischen und
sozialdemokratischen Opfer des Nazi-Regimes. Da Brandner auch Vorsitzender des
Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages ist,
verwundert es nicht, dass diesem Ausschuss die rechtsstaatlich völlig
unhaltbare Behandlung der MfS-Angehörigen nicht aufgefallen ist. Die von ISOR
e.V. in dieser Sache angeschriebene Antidiskriminierungsstelle des Bundes hatte
es noch nicht einmal nötig, den Eingang des Schreibens zu bestätigen.
Nachdem sich die AfD bisher beim MfS-Thema erstaunlich
zurückgehalten hat, dürfte nun deutlich geworden sein, wofür sie wirklich
steht. Ein Antrag der AfD zur Ächtung der Antifa ist glücklicherweise nicht
angenommen worden.
Der kulturpolitischen Sprecherin der Partei DIE LINKE,
Simone Barrientos, kommt das Verdienst zu, allein auf
weiter Flur, eine notwendige Versachlichung und Normalisierung bei diesem
Themas angemahnt und auf die gegenseitige Wechselwirkung in der Geschichte
beider deutscher Staaten hingewiesen zu haben. Die Beibehaltung der
Regelanfragte stelle alle Ostdeutschen unter einen Generalverdacht, sei
Ausdruck eines latenten Misstrauens gegen Ostdeutsche und der Arroganz der
Westdeutschen ihnen gegenüber.
Wenn die Vorsitzende des Kulturausschusses im Deutschen
Bundestag, Katrin Budde, vorrechnete, dass die Regelüberprüfung nötig sei, da
auch 1989 25-Jährige mit dem MfS „verstrickt“ sein und sich als 55-Jährige im
öffentlichen Dienst oder für eine höhere Position bewerben könnten, ist das
fern jeder Realität. Wer bewirbt sich noch mit 55 Jahren? Wer befördert werden will, ist bereits
mindestens einmal, oft sogar schon mehrmals überprüft worden. Das auch noch
Ältere für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen werden könnten stimmt zwar,
doch sollten dabei nicht messbare Verdienste um die BRD den Ausschlag geben? Offenbar
geht es also doch hauptsächlich um die Pflege eines lieb gewordenen Feinbildes.
Und noch etwas ist zu beachten: Wenn argumentiert wird,
dass es notwendig sei, Grundvertrauen in staatliches Handeln zu garantieren und
höchstmögliche Transparenz herzustellen, so soll damit vergessen gemacht
werden, wer denn in der Vergangenheit schon alles dem bundesdeutschen Staat
gedient und ihn vertreten hat. Das Braunbuch der DDR gibt konkrete Auskunft, in
welchem Umfang belastete Nazis, ehemalige Angehörige verbrecherischer
Organisationen und selbst international gesuchte Kriegsverbrecher keineswegs
nur in untergeordneten Positionen im bundesdeutschen Staatsdienst standen.
Besser als Matthias Krauß in
seinem Buch „Die große Freiheit ist es nicht geworden“ (Verlag „Das Neue
Berlin“, Berlin 2019) kann man es nicht beschreiben:
Leseprobe
aus dem Kapitel „Hexe, Jude, Stasi-IM“ Drei deutsche
Verfolgungsphänomene im Vergleich – zehn essentielle Gemeinsamkeiten. (Seiten
233,234)
„… Die westdeutsche
Gesellschaft hat mit diesen Stasi-IMs die große Chance der Reinigung. Sie
reinigt sich so vor Gott und der Welt von der Schuld, die Abrechnung mit den
Nazi-Tätern zielbewusst hintertrieben zu haben. Jeder im politischen und
publizistischen Bereich Tätige weiß um diese Schande, die die westdeutsche
Demokratie – und nicht die ostdeutsche Diktatur – über das deutsche Volk
gebracht hat, als sie nach 1945 die uferlosen Verbrechen der Nazizeit mit dem
nachträglichen Schutz der Täter noch ergänzt und erweitert hat. An dieser
Stelle besteht ein äußerst dringendes Reinigungsbedürfnis. Und am IM der Stasi
kann es exekutiert werden. Zu lange musste Westdeutschland darauf warten, sich
als gereinigt und damit erhöht präsentieren zu können. Was diese Gesellschaft
zielbewusst und in vollem Einverständnis mit sich selbst an den Nazi-Tätern
unterlassen hatte, das exekutierte sie nach 1990 am DDR-Geheimdienst und seinen
Helfern. Auf diese Weise büßen die IMs der Staatssicherheit für Auschwitz, so
absurd das klingt. Hier büßt der Eierdieb, was am
Massenmörder bewusst versäumt wurde. Dieses befreiende Gefühl ist so
übermächtig, so herrlich, so berauschend für die westdeutsche Gesellschaft,
dass sie nicht davon lassen kann, wie der Säufer nicht
vom Schnaps. Und auch für ostdeutsche Neubekehrte besitzt der Vorgang einen
unvergleichlichen Wert: Er gibt die unbezahlbare Möglichkeit, sich abzusetzen
und damit den ersten Schritt zur neuen Taufe zu gehen.“
W.S., 30.9.2019
Vgl. auch die von der GRH 2019 herausgegebene Broschüre
Wahrheit und Versöhnung? Zum Umgang mit der DDR-Geschichte - 21 Fragen an den
Bundesbeauftragten für die "Stasi-Unterlagen". Politiker, Medien und die sog. Aufarbeitungsindustrie haben es
vorgezogen, diese Fragen nicht zu beantworten und totzuschweigen. (Ausnahme: „junge
Welt“). Eine ehrliche Beantwortung würde einer Selbstentlarvung gleichkommen.
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