I. Kontinuität oder Diskontinuität in der Geschichte des ersten realen Sozialismus
Soll aus dem Zusammenbruch des ersten sozialistischen Weltsystems das Scheitern der marxistisch-leninistischen Theorie und des entsprechenden "Sozialismusmodells" abzuleiten sein, dann muß von einer Kontinuität in der Geschichte des vergangenen Sozialismus ausgegangen werden. Nur unter dieser Prämisse hätten die Ereignisse der Jahre 1989/90 auch die Leninsche Lehre (die Kommunistische Parteitheorie, Revolutionstheorie etc.) widerlegt. Die "Stalinismus"-These zielt bekanntlich auf eine solche Kontinuität und leitet daraus die Notwendigkeit einer ideologischen1 Umorientierung auf sozialdemokratische ("moderne" genannt) Denkmuster ab. Diese Folgerung ist logisch schlüssig, sofern die genannte Prämisse sich nicht widerlegen läßt. Dann hätte Kautsky in der Tat post festum über Lenin gesiegt; die Bernstein- Linie erwiese sich gegenüber der kommunistischen als die Überlegene.
Mißtrauisch gegen eine solche Annahme stimmt es, daß sämtliche Gegenentwürfe zur Leninschen Konzeption sich eigentlich bereits in den Jahren 1917 bis 1920 als nicht besonders zweckdienlich erwiesen hatten. Die Bernsteinschen Ideen wurden praktiziert - und widerlegt - in der Politik des 4. August und in der Politik der Scheidemann und Noske während und nach der Novemberevolution. (Diese Widerlegung betraf die Grundsätze Kautskys und seiner Anhängerschaft gleich mit: denn sie unterschieden sich ja nur in der Terminologie, nicht aber in der Tat von denen der Rechtsopportunisten, wie die Jahre 1918-1920 und die gesamte weitere Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie beweisen.) Auch über den Streit zwischen der bolschewistischen und der menschewistischen Partei - in programmatischen und taktischen, ebenso in organisatorischen Fragen - hat die Geschichte ein Urteil gesprochen. Vor allem die Ereignisse zwischen Februar und Herbst 1917 zeigten sehr deutlich, auf wessen Seite Konsequenz, Zielstrebigkeit und letztlich Erfolg zu finden waren und wer nach der erbärmlichsten Politik des Schwankens und Zurückweichens bis hin zum offenen Verrat - letztlich ruhmlos die politische Bühne verlassen mußte. Die Geschehnisse jenes Zeitabschnitts gaben Lenin und den Bolschewiki das unzweifelhafte historische Recht ihr politisches Konzept als das einzig gangbare zu betrachten. Heute nun sollten ihre damaligen Gegner Recht erhalten?
Nicht zu leugnen ist, daß Stalins Politik - in ihrer Ausrichtung, ihren Zielen und wohl auch in ihrer Herangehensweise - als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann. (Der "stalinistische" Staatsaufbau existierte in seinen Grundzügen ohnehin bereits vor Stalins Machtantritt.) Welche Handlungsspielräume die Situation im damaligen Rußland bot, muß angesichts der konkret historischen Bedingungen untersucht werden. Eine solche Analyse wird vermutlich zu dem Schluß gelangen, daß weder in Bucharins Lösungsansatz noch in dem Trotzkis (um nur zwei prägnante Beispiele zu nennen) eine realisierbare Alternative zur Stalinschen Linie vorlag.
Und was immer man - berechtigt oder unberechtigt - gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartigen Zeitraums; damit die Überwindung von Elend, Hunger, Analphabetismus, halbfeudalen Abhängigkeiten und schärfster kapitalistischer Ausbeutung; schließlich der über Hitlers Heere, die Zerschlagung des deutschen und europäischen Faschismus sowie die Ausweitung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse über den halben europäischen Kontinent. Dagegen entstellt keines von jenen Krisensymptomen, an denen der Sozialismus in seiner Endphase krankte, bereits in den zwanziger bis fünfziger Jahren das Bild der sowjetischen Gesellschaft. Wir finden keine wirtschaftliche Stagnation, keine zunehmende Differenz gegenüber dem vom Kapitalismus erreichten technischen Stand, keine produktionshemmenden Leitungsstrukturen, keine Außerkraftsetzung des Leistungsprinzips, keine Vernachlässigung der Wissenschaften und der Kultur; erst recht keine Konzeptions- und Ziellosigkeit des Handelns, kein hilfloses Schwanken und auf allernächste Zwecke beschränktes Lavieren. Auch ein Verschwinden sozialistischer Ziele und Ideen aus dem öffentlichen Bewußtsein oder eine zunehmende Entfremdung der Bevölkerung gegenüber ihrem Staat sind nicht wahrnehmbar. Eher das Gegenteil. Die beeindruckenden Leistungen bei der Industrialisierung des Landes wären ohne Stützung und Bejahung dieser Politik seitens größerer Teile des Volkes nie erreichbar gewesen. (Es ist lächerlich und dumm, diese im Nachhinein als bloße Auswirkungen der Diktatur, der Angst und der Arbeitslager darstellen zu wollen.)
Ähnliches gilt von der DDR-Geschichte, die ebenfalls bereits auf der Erscheinungsebene in zwei deutlich unterscheidbare Phasen zerfällt. Die sozialistische Planwirtschaft erwies sich zunächst als außerordentlich produktiv. Vergleichen wir die entsetzlichen Anfangsbedingungen (Kriegsfolgen, Reparationen, Teilung des deutschen Wirtschaftsraumes und westliche Blockade, offene westliche Einwirkungsmöglichkeiten usw.) mit dem bis zum Ende der sechziger Jahre Erreichten, dann ist die Legende von der ineffizienten, unbeholfenen und unbeweglichen Gesellschaft nicht zu halten.
Die DDR der sechziger Jahre bot das Bild eines hoffnungsvollen Staates von enormer Produktivität und Stabilität, von wachsender Ausstrahlungskraft, ungebrochener Zukunftsgewißheit und scheinbar grenzenloser Entwicklungsmöglichkeit. Es läßt sich nicht leugnen, daß die DDR der späten achtziger Jahre einen minder ermutigenden Anblick bot. Zur Erklärung dieses Widerspruchs ist unter anderem folgende Argumentation im Schwange: der stalinistische Gesellschaftstyp - wird ausgeführt - sei zwar fähig, die rein extensive Ausweitung der Produktion voranzutreiben, also in den Aufbaujahren gewisse Erfolge zu sichern. Beim Übergang zur intensiven Wachstumsphase, und erst recht mit dem Anrollen der wissenschaftlich-technischen Revolution, müsse er indes notwendig versagen und sich, weil prinzipiell reformunfähig, hemmend der weiteren Entwicklung entgegenstellen.
Richtig ist: Das in der Sowjetunion während der Stalinzeit entstandene und später von den osteuropäischen Ländern in den Grundzügen übernommene Gesellschaftsmodell ist die auf Grundlage unterentwickelter beziehungsweise zerstörter Produktivkräfte, allgemeiner Not und existentieller Gefährdung der Grundfesten des neuen Systems historisch notwendige und - soll eine bürgerliche Gegenrevolution wirksam verhindert werden - einzig mögliche Form eines realisierten Sozialismus. Richtig ist auch: Mit der Verringerung der Gefährdung - durch wirtschaftliches Vorankommen, innere Konsolidierung und wachsende Stützung des Systems im öffentlichen Bewußtsein - schwindet allmählich die Notwendigkeit allbeherrschender ausgefeilter Sicherungsmechanismen, ja können sie in ein Hemmnis der weiteren Entwicklung umschlagen. Vor allem ein Umbau des alten Wirtschaftsmechanismus steht mit dem Einsatz der wissenschaftlich-technischen Revolution auf der Tagesordnung. (An dieser Einsicht ist nichts Neues; sie findet sich in allen Schriften Ulbrichts seit Anfang der sechziger Jahre.)
Falsch und unbeweisbar ist hingegen die Behauptung der "Reformunfähigkeit". Was war das Neue Ökonomische System (NÖS) anderes, als die Anpassung des Wirtschaftsorganismus an die Ansprüche moderner Produktivkräfte? Die Entwicklung der DDR-Wirtschaft in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zeigt den Erfolg dieser Bemühungen, obgleich das NÖS (später ÖSS) noch keineswegs vollständig eingerichtet war. (Die Einführung bestimmter Momente eines Funktionsmechanismus wurde erst für den Planungszeitraum 1971-1975 vorgesehen.) Es darf sogar angenommen werden, daß mit dem Neuen Ökonomischen System in der DDR die zukunftsträchtige Form gefunden wurde, wie Volkseigentum und gesamtgesellschaftliche Planung mit flexibler Entscheidungsfindung und dem Eigeninteresse der Leiter und der Kollektive zu verbinden sind. Die SED hatte folglich nicht unrecht, als sie ihren damaligen Bemühungen Modellfunktion für die Gestaltung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse in hochentwickelten Industriestaaten zuschrieb. (Eine wesentliche Ergänzung zur ursprünglichen NÖS-Kozeption war die Einführung der strukturkonkreten Planung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Weitere Modifikationen, die sich aus der inzwischen fortgeschrittenen Produktivkraftentwicklung ergeben, vorausgesetzt, werden die Grundgedanken und Erfahrungen des NÖS die Erbauer des künftigen Sozialismus zu interessieren haben.) Mit "Reformunfähigkeit" läßt sich demnach der Niedergang des vergangenen Sozialismus nicht erklären.
Der Begriff "Reform" ist allerdings mißverständlich. Denn andererseits ist klar, daß die Veränderungen der sechziger Jahre nicht als inhaltlicher Wendepunkt der SED-Politik - im Sinne der Abkehr von bisher gepflegten Traditionen - bestimmt werden dürfen. Genau besehen war der Reformkurs die einzig konsequente Fortsetzung der alten Linie unter neuen Bedingungen. Die maßgebende politische Zielsetzung der SED - Aufbau einer dem westdeutschen Kapitalismus in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht sichtbar überlegenen Gesellschaftsordnung erfuhr im Umfeld der Jahrzehntwende keine Veränderung; geändert hatten sich nur die historischen Bedingungen ihrer Realisierung. So wurde es nötig, andere gesellschaftliche und politische Hebel anzusetzen. (Bekannt ist spätestens seit Hegel, daß nicht die abstrakte Analyse einzelner Erscheinungen einzelner Richtlinien, Maßnahmen, Entscheidungen - das Wesen gesellschaftlicher Sachverhalte erfaßt; entscheidend ist die Berücksichtigung der konkret historischen Umstände ihres Auftretens.)
Auch bedeutete der Ulbrichtsche Reformkurs kein Zugeständnis an das - seit Gorbatschow und dem konterrevolutionären Herbst 89 sattsam bekannte - "Sozialismus"-Bild des modernen Revisionismus. Ökonomisch etwa sollte die Wirksamkeit des Plans mitnichten zu gunsten freigelassener Marktmechanismen eingeschränkt werden. Der Sinn der Maßnahmen bestand im Gegenteil darin, vermittels jener eine erhöhte Planmäßigkeit (die von einer überzentralisierten Wirtschaft gar nicht erreicht werden kann) zu realisieren. Der Befreiung der Wirtschaft vom direkten Zugriff der zentralisierten Apparate stand die Befestigung der politisch führenden Rolle der Partei gegenüber. Die enorme Förderung und erhöhte Selbständigkeit der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz wurde begleitet vor einem verstärkten Kampf gegen sämtliche Spielarten des Revisionismus und der bürgerlichen Ideologie in den Geisteswissenschaften und den Künsten. Diese Entwicklung zeigte sich insbesondere in der zweite, Hälfte der sechziger Jahre, parallel zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Umbaus und der ökonomischen Wachstumsraten. Dieser zweiten, der politischen Seite der NÖS wurde nicht selten vorgeworfen, sie stehe im Widerspruch zu den ökonomischen Veränderungen. Genau besehen waren diese Maßnahmen jedoch vorerst unumgänglich, um das gesellschaftliche Gleichgewicht zu halten. Und ohne Sicherung dessen hätte die Politik einer Reformierung des Sozialismus sehr schnell zur Politik einer Untergrabung werden können. Wie 1968 in der CSSR und ab 1986 in der Sowjetunion.
Bis in die sechziger Jahre stellt sich also die Geschichte des DDR-Sozialismus als einheitlicher, folgerichtiger Prozeß dar. Die wesentlichen Fragen, die beantwortet werden müssen, um den Gründen seines letztlichen Unterganges auf die Spur zu kommen lauten demnach: Wann erfolgte der Abbruch dieser Kontinuität? Was veranlaßte die SED jene hoffnungsvolle, erfolgreiche und viel versprechende Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzugeben? Und worin besteht das Wesen dieses neuen Kurses?
II. Die opportunistische Wende und der Neue Kurs des VIII. Parteitages
Relativ leicht festzulegen ist der Zeitpunkt des Wandels: die gründlichste Umkrempelung der politischen Linie in der gesamten DDR-Geschichte folgte Ulbrichts Sturz im Jahre 1971. Sämtliche späteren Niedergangserscheinungen lassen sich unschwer auf die in jenem Zeitraum eingeleiteten Veränderungen zurückführen.
Minder offenkundig sind Wesen und Gründe des Wandels. Die zuweilen vorgetragene Annahme, mit Beginn der siebziger Jahre hätten sich die Kräfte des "Alten", die "ewigen Reformgegner", wieder durchgesetzt, entfällt. Denn die SED-Politik der fünfziger Jahre fand, wie dargelegt wurde, eben in den Reformen der sechziger ihre Aufhebung und konsequente Fortsetzung. Wer letztere anfeindete (und das tat eine sich im Politbüro herausbildende Fraktion - mit Unterstützung Moskaus möglicherweise bereits seit 1965), hatte demnach auch mit ersterer nichts zu schaffen, sondern verfolgte ein grundsätzlich anderes und vom bisherigen abweichendes Prinzip.
Wesentliche Änderungen konnten bereits vor dem VIII. Parteitag eingeleitet werden, nachdem der Druck aus Moskau und das Überlaufen Mittags und anderer Politbüromitglieder die Mehrheitsverhältnisse im höchsten Gremium zuungunsten Ulbrichts verändert hatten. Aber erst mit den Beschlüssen des VIII. Parteitages wurde der Neue Kurs zur offiziellen Linie. Er manifestierte sich einerseits auf innenpolitischem, insbesondere ökonomischem Gebiet. Schon vor dem Jahreswechsel 1970/71 erfolgten Neuerungen, die eine Abkehr von den Zielen (Erreichen und Mitbestimmen des Welthöchststandes, Überholen Westdeutschlands) und dem Inhalt (erhöhte Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der sozialistischen Warenproduzenten, Regulierung des Wirtschaftsgeschehens durch ein System ökonomischer Hebel) des NÖS erkennen ließen. Zu nennen wäre hier der, in Ulbrichts Abwesenheit gefaßte, Politbürobeschluß vom September 1970 sowie das im folgenden veröffentlichte Kommuniqué des Ministerrates "Für höhere Effektivität in der Volkswirtschaft". Auf der 14. Tagung wurde die Kritik an Ulbrichts Wirtschaftskurs erstmals öffentlich ausgesprochen. Der Angriff richtete sich gegen die hochgesteckten Ziele seiner Wirtschaftspolitik, aber auch schon gegen den neuen ökonomischen Mechanismus selbst. Die Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der Konsumtion - bei unverantwortlicher Minderung der Akkumulationsrate deutete sich hier bereits an. Ebenso die Verschiebung in der Klassenbasis der SED auf die untersten Schichten der Arbeiterklasse. Zur Folge hatte das die Abkehr vom Leistungsprinzip und eine Politik der Gleichmacherei, die sich nach dem VIII. Parteitag in fast allen gesellschaftlichen Bereichen durchsetzen konnte. Die perspektivorientierte Seite Ulbrichtschen Wirtschaftsplanens verfiel nicht minder der Kritik. Die neue Führungsgruppe löste schon vor dem VIII. Parteitag verschiedene zentrale Projektgruppen zur Ausarbeitung von Prognosen für die siebziger und achtziger Jahren auf; die übrigen wurden in der Folgezeit auf die eine oder andere Art auseinandergejagt. An die Stelle langfristiger wissenschaftlicher Planung und zielbestimmter Arbeit trat entsprechend seit den siebziger Jahren eine Politik des Sichdurchwindens. Die Probleme des Wirtschaftsmechanismus wurden kaum noch als solche reflektiert; davon zeugte unter anderem die Einstellung der wirtschaftstheoretischen Zeitschrift "Effekt". Auch in der öffentlichen Diskussion spielten sie keine Rolle mehr. Tatsächlich jedoch wurde mit dem VIII. Parteitag ein grundlegender wirtschaftlicher Umbau eingeleitet. Er äußerte sich unter anderem in einer beachtlichen Erhöhung der zentral festgelegten Plankennziffern und einer deutlichen Kompetenzerweiterung der Staatlichen Plankommission. Seine Folgen waren: steigender Verwaltungsaufwand, überzentralisierte Entscheidungsfindung, völlige Verzerrung der Preisstruktur. (Letztere hatte das NÖS eben erst durch eine Industriepreisreform und weitere Maßnahmen zu ordnen begonnen.) Die vormals zentrale Größe Gewinn verlor spätestens seit 1973 jede Bedeutung im wirtschaftlichen Regelwerk. Auch an den politischen Zielen des NÖS wurde nicht länger festgehalten; anders sind die bescheidenen Planvorgaben für den Zeitraum 1971 bis 1975ff. nicht zu verstehen. Interessant unter diesem Gesichtspunkt ist ein Vergleich zwischen dem im Frühjahr 1971 (als Ulbricht im Umfeld der 15. Tagung ein letztes Mal die Zügel in die Hand bekam) vorgelegten Planentwurf zum Zeitraum 1971 -1975 mit dessen schließlicher und auf dem VIII. Parteitag bestätigter Fassung. Während ersterer in seinen Grundlinien dem Konzept der Jahre 1969/70 folgte - so sollte ein wachsender Anteil des Nationaleinkommens für die Akkumulation eingesetzt werden, und Hauptziel des Plans war eine deutliche Verringerung des ökonomischen Rückstandes gegenüber der BRD - zeigt letzterer die erfolgte Umwendung in der Politik: die Ziele wurden in jeder Hinsicht drastisch reduziert, eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums und der Produktivitätsentwicklung wurden vorhergesehen und festgeschrieben. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft erfolgte also geradezu planmäßig.
Die in der SED-Geschichtsschreibung übliche Erklärung dieser Entwicklung läuft darauf hinaus, daß die im Jahre I970 aufgetretenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und "Disproportionen", so besonders die angespannte Lage im Energie- und Brennstoffbereich, ein Abgehen von nichtrealisierbaren "Wunschvorstellungen" und die Beachtung der "realen Möglichkeiten" der DDR gefordert hätten. Entsprechende Folge sei die Rücknahme der Ulbrichtschen Zielsetzungen gewesen. Dieses Erklärungsmuster hält allerdings einer historischen Prüfung nicht stand. Zum einen, weil das "Entspannen" des Plans nicht die Notwendigkeit eines grundlegenden Umbaus des gesamten Wirtschaftsmechanismus und dessen administrativ-bürokratische Entstellung begründen kann. Zum zweiten, da man sich ohnehin hüten sollte, der "Krise" von I970 Übermäßige Bedeutung beizulegen. Tatsächlich war der außerordentlich anspruchsvolle Perspektivplan 1966-1970 nicht allein erfüllt, sondern in wesentlichen Positionen übererfüllt worden; die "Disproportionen" im Verhältnis der Energie- und Brennstoffindustrie zu den übrigen Zweigen, die insbesondere durch den sehr langen und harten Winter 1969/70 verschärft worden waren, hätten sich durch geringfügige Umstellungen in der Investitionsverteilung ausräumen lassen. Schwierigkeiten in der Bilanzierung ergaben sich lediglich bei einigen der vielen außerplanmäßig in Angriff genommenen Investitionsprojekte. So war der Wachstumspfad der DDR-Wirtschaft im Jahr 1970 keineswegs erschüttert. (Überdies äußern kompetente Zeitzeugen die Vermutung, daß die provokant überzogene Zahl sogenannter strukturbestimmender Objekte, die Mittag zusätzlich zum sehr hohen Plan 1969/70 durchgedrückt hatte, bereits dem Ziel diente, das NÖS zu diskreditieren und die Abschaffung des neuen Wirtschaftsmechanismus vorzubereiten. Denn es war vorhersehbar, daß sie in dieser Anzahl trotz der damals bedeutenden DDR-Wirtschaftskraft nicht gleichzeitig realisiert werden konnten.)
Zu den Folgen des VIII. Parteitags gehörten ökonomisch weiterhin die Auflösung der von Ulbricht konzipierten und teilweise bereits errichteten Großforschungszentren und das Ende seiner Intelligenzpolitik. Automatisierung und Mikroelektronik verloren ihre zentrale Stellung. Zeitweilig wurde sogar die Tatsache einer wissenschaftlich-technischen Revolution geleugnet. Weitere innenpolitische Änderungen lassen sich, wie erwähnt, in der Sozialpolitik feststellen; ferner in der Ideologie und in der Kulturpolitik (in beiden Bereichen zugunsten bürgerlicher Einflüsse). Auch die Gestaltung der Außenwirtschaftsbeziehungen ging man neu an. Hatte Ulbricht - unter der Losung der "Störfreimachung" - die Wirtschaft der DDR bis zum Ende der sechziger Jahre weitgehend von den unmittelbarsten Einflußmöglichkeiten des westlichen, vor allem westdeutschen, Monopolkapitals befreit, wurde nach 1971 die Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Ausland - deutlich intensiviert. Und dies in einer Form, deren Resultat die fortschreitende Abhängigkeit der DDR von westlichen Kapitalflüssen sein mußte. Beispielsweise wurden hohe Kredite aufgenommen, die zum Teil lediglich der Einführung bestimmter Konsumgüter, nicht etwa der produktiven Akkumulation dienten. Technik-Tranfer war auf Grund der westlichen Embargolisten ohnehin ausgeschlossen.
Diese Vorgänge sind nicht aus inneren Ursachen der DDR erklärbar. Denn eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in allen anderen sozialistischen Ländern. Zudem beinhaltete der Neue Kurs eben nicht allein innen-, sondern auch und insbesondere außenpolitische Veränderungen. Den direkten Anlaß für Ulbrichts Sturz bildeten außenpolitische Differenzen zwischen Moskau und Berlin. (Nämlich Ulbrichts Weigerung, Breshnews Kapitulationskurs im Rahmen der Vier-Mächte-Verhandlungen über den Status von West-Berlin mitzutragen.) Es ging aber in der Auseinandersetzung zwischen Ulbricht und Breshnew nicht nur um Berlin. Es ging nicht einmal nur um die neue Deutschlandpolitik, auf die Moskau sich seit der Brandt-Scheel-Regierung verstand und die Ulbricht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unterlief. Nein, es ging um die grundlegenden Prinzipien der Taktik, die es dem Weltimperialismus gegenüber zu verfolgen galt, seit dieser eine neue außenpolitische Strategie - die Entspannungspolitik - entwickelt hatte.
III. Die Entspannungspolitik als imperialistische Strategie
Über Weg und Ziel der Entspannungspolitik handelt mit lobenswerter Offenheit Brzezinskis "Alternative zur Teilung". Das Buch, 1965 in den USA erschienen, endet unter anderem mit der Empfehlung, eine regelmäßig zusammentretende gesamteuropäische Konferenz mit amerikanischer Beteiligung einzurichten. Zu dem Zweck, über wirtschaftliche Zusammenarbeit, kulturellen Austausch etc. zunächst ideologische und später politische Einflußmöglichkeiten im sozialistischen Weltsystem zu erwerben. Daß dieser Einfluß nicht zur Beförderung der sozialistischen Entwicklung genutzt werden sollte, versteht sich. Ein Jahr später, im Juli 1966, unterbreiten die sozialistischen Staaten auf ihrer Bukarester Tagung den Vorschlag, eine gesamteuropäische Konferenz zu Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einzuberufen.
Das heißt nun nicht, daß Brzezinski in jener Zeit zum Kreml-Berater avancierte. Die sowjetische KSZE-Konzeption unterschied sich schon von der seinen. Insbesondere durch die ausgesprochene Betonung des Moments der Sicherheit gegenüber dem der Zusammenarbeit. (Dadurch wird im übrigen bewiesen, daß es nicht ökonomische Gründe waren, die die sozialistischen Länder zu einem Eingehen auf die Entspannungsstrategie bewogen haben.) Andererseits aber war es kein Zufall, daß die Konferenz, die später tatsächlich in Helsinki zusammenkam, aufs Haar dem von Brzezinski entworfenen Szenario glich und die entsprechenden Folgen hatte. Diese Entwicklung war nicht unvorhersehbar. Ulbricht, der sie vorhersah, versagte dem sich anbahnenden europäischen Entspannungsprozeß fo lgerichtig jede Zustimmung und Unterstützung. Hier liegt die Quelle des latenten Konflikts, der seit Mitte der sechziger Jahre zwischen SED-Spitze und KPdSU schwelte. Die Auseinandersetzungen zwischen Walter Ulbricht und Breshnew beziehungsweise zwischen Ulbricht und der im Politbüro auf Moskauer Linie sich formierenden Fraktion waren also keine Meinungsverschiedenheiten zu Einzelfragen und auch keine internen Machtkämpfe zwischen Personen. Diesen Auseinandersetzungen lag der Gegensatz zweier grundsätzlich unterschiedener, in der Beantwortung aller wesentlichen Fragen differierender Konzepte zugrunde. Der Neue Kurs, gegen dessen Einführung Ulbricht sich fünf Jahre lang unter Aufwendung all seines politischen Geschicks zur Wehr setzte, ist nur vermittels des Opportunismusbegriffs als einheitliches Konzept zu begreifen.
Auf Grund der gegenwärtigen Verlotterung der sozialistischen Begrifflichkeit scheint eine Begriffserläuterung an dieser Stelle nicht unangebracht. Folgen wir Lenin, ist Opportunismus: die Aufgabe des Klassenkampfes und die Ersetzung durch die Idee einer Zusammenarbeit der Klasse, und zwar einer Zusammenarbeit derart, daß die grundlegenden sozialistischen Interessen geopfert werden um der Erlangung zeitweiliger partieller Vorteile und Augenblickserfolge willen. Dieses grundlegende sozialistische Interesse ist in der vorrevolutionären Epoche: das Endziel einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der Verzicht hierauf tritt am deutlichsten zutage im so genannten Reformismus, das heißt im Setzen einer falschen Alternative zwischen Reform und Revolution, wobei letztere verworfen wird. Allerdings ist dies nur die offenste, keineswegs die einzige Form des vorrevolutionären Opportunismus; dieser kommt nicht minder zum Ausdruck in jedem theoretischen Grundsatz, in jedem politischen Prinzip und in jeder praktischen Maßnahme, die in ihrer Konsequenz die betreffende Partei der Fähigkeit berauben, einen revolutionären Bruch mit dem Imperialismus vorzubereiten, zu propagieren und schließlich zu erkämpfen, die also objektiv Anpassung an diese Gesellschaft bedeuten.
Ist die Revolution bereit erledigt, kann das Absehen von ihr nicht mehr als Kriterium opportunistischer Politik fungieren. Unter den Bedingungen des Bestehens beider Gesellschaftssysteme bedeutet Opportunismus zwangsläufig: Verzicht auf das Endziel Weltsozialismus, Anerkennung des internationalen Status quo und Intensivierung der Zusammenarbeit mit den imperialistischen Staaten - mit der Folge einer zunehmenden Abhängigkeit der sozialistischen Länder vom Weltfinanzkapital. Die innenpolitische Entsprechung dafür ist: Abkehr von dem anstrengenden Kurs, den Kapitalismus zu "überholen". Auch im Inneren beschränkt sich opportunistische Politik- auf den Erhalt des Status Quo, das heißt auf die Verwaltung und Sicherung des bestehenden Zustandes. Und eine solche Umorientierung muß weitreichende Konsequenzen für die gesamte unmittelbar praktische Politik haben.
IV. Politik der Abgrenzung und "nationale Mission der DDR"
Allgemein bekannt ist Honeckers ideologische Wende in der nationalen Frage. Sie kam deutlich zum Ausdruck in der 74er Verfassungsänderung, zeigte sich indes bereits in den Papieren des VIII. Parteitages.
Für Ulbricht blieb das sozialistische Deutschland (wie perspektivisch der Weltsozialismus) Endziel und Maßstab seiner Tätigkeit. Der Zweck seiner Innenpolitik, bestand nicht zuletzt darin, die nötigen Voraussetzungen für diese Ziele zu schaffen.
Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR, ihrer demzufolge wachsenden Ausstrahlungskraft und der sozialistischen Perspektive Gesamtdeutschlands wurde tausendmal formuliert und ist in allen maßgeblichen Dokumenten jener Epoche enthalten. Die These der "nationalen Mission der Deutschen Demokratischen Republik" ist die offizielle Ideologie des Ulbricht-Zeitalters. Diese nationale Zielbestimmung war jedoch mit einer Politik der realen Abgrenzung der DDR gegenüber der westdeutschen Bundesrepublik nicht nur vereinbar; sie setzte sie voraus. Die angestrebte Entwicklung in der DDR konnte überhaupt nur gewährleistet werden bei weitestmöglicher Verringerung der imperialistischen Einflüsse; sowohl in wirtschaftlicher und politischer als auch in ideologischer Hinsicht (letzteres war auf Grund der direkten Einwirkung durch die Funk- und Fernseh-Medien nur bedingt möglich). Jede Annäherung zwischen der DDR und der westdeutschen-Bundesrepublik unter den Kräfteverhältnissen der sechziger Jahre mußte sich zuungunsten des Sozialismus auswirken. Daher Ulbrichts Politik der "Störfreimachung". (Daß Ulbricht in regelmäßigen Abständen den Konföderationsgedanken aus dem Portefeuille zog, ist nur scheinbar ein Widerspruch zu dieser Politik. Denn das Ulbrichtsche Konföderations-Konzept beinhaltete stets Maßnahmen wie die Neutralisierung beider deutscher Staaten, setzte im allgemeinen sogar bestimmte Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen Westdeutschlands voraus. Es war also Verlaß darauf, daß der Westen dieses Angebot niemals annehmen würde. Die Konföderations-Vorschläge brachten Ulbricht so gleich zwei Vorteile: er behielt einmal die deutschlandpolitische Initiative in der Hand und konnte verhindern, durch westliches Einheitsgerede in die Defensive gedrängt zu werden; und er konnte zweitens unangenehme westdeutsche oder eben auch Moskauer Wünsche nach einer Öffnung zwischen den deutschen Staaten durch das Anerbieten einer weitergehenden Lösung, die für beide Seiten nicht annehmbar war, erledigen, - ohne zur direkten Absage gezwungen zu sein. Mehr steckte hinter der Konföderationspolitik von Beginn an nicht.)
Honecker trat mit der Losung der Abgrenzung und der Zwei-Nationen-Theorie an. Der Verzicht auf die Perspektive eines einheitlichen Deutschland bedeutete den Verzicht auf eine sozialistische Perspektive für Westdeutschland. Man wird fortan von der SED-Spitze - sehen wir von einer einzelnen Äußerung aus dem Jahr 1981 ab - nichts dahingehendes mehr zu hören bekommen. Mit der "nationalen Mission" fiel die Zielstellung des "Überholens"; auch sie wurde nicht mehr propagiert und noch weniger in der Praxis angestrebt. Verwirrenderweise vollzog sich dieser politische Richtungswechsel unter der Losung der "Abgrenzung". Von Abgrenzung kann jedoch bestenfalls in einer Hinsicht und in einer Richtung gesprochen werden: in Hinsicht auf den ideologischen Klassenkampf, und in, Richtung von Ost nach West. Der ideologische Klassenkampf wurde tatsächlich nahezu vollständig eingestellt; eine offensive sozialistische Propaganda in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie und zur Offenlegung übler Machenschaften des westdeutschen Imperialismus konnte sich die DDR ganz einfach nicht mehr leisten, da sie mit den westdeutschen Staats- und Wirtschaftsspitzen immer enger liiert war. (An die Fernsehleute soll der Hinweis ausgegangen sein: "Achtet mehr auf Westnachrichten und Westkommentare!... Dann wißt ihr, worüber ihr berichten und worüber ihr schweigen müßt.") Auf allen anderen Gebieten vollzog sich eine der Abgrenzung genau entgegengesetzte Entwicklung. Sowohl Berlin-Abkommen als auch Grundlagenvertrag (und erst recht der spätere KSZE-Prozeß) hatten die Mauer nicht dichter, sondern sehr viel durchlässiger gemacht. Durchlässiger für bürgerliche Ideen, durchlässiger für westdeutsches Kapital, nicht zuletzt durchlässiger für westliche Agenten ("Journalisten"). Die üppigen Sozialleistungen auf der einen, Mielke auf der anderen Seite hatten nun die Aufgabe, bei derart verunsicherter Lage den Erhalt der inneren Stabilität zu gewährleisten. (Auf einem größeren Führungsseminar des MfS im März 1971 wurde die neue Linie in der Staatssicherheitspolitik eingeleitet. Ihr Wesen bildete eine massive Intensivierung der Arbeit der Staatssicherheitsorgane in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ausdrücklich begründete Mielke diese Veränderungen mit der "Friedensoffensive der sozialistischen Länder" und der nunmehrigen "Weltoffenheit" der DDR.) Durch die Zersetzung und Verbürgerlichung der offiziellen Ideologie schwand natürlich in der Bevölkerung zunehmend das Bewußtsein des gesellschaftlichen Ziels, dem die Arbeit hier und heute dienen sollte. Weil zudem vermittels Sozialpolitik das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt war, mußte der Arbeitswille sinken; Gammelei, Schlamperei und Klüngelwirtschaft waren die Folge. Und je weniger die DDR auf Grund dieser Bedingungen die Bedürfnisse der Menschen befriedigen konnte, je mehr wuchs die Entfremdung zwischen dem Volk und seinem Staat.
Es hat allerdings wenig Sinn, diese Politik ausschließlich der SED-Führung unter Erich Honecker anzulasten. Denn die außenpolitische Öffnung der DDR hatte sie - auch nach Ulbrichts Sturz - nur widerwillig und auf sowjetischen Druck hin vollzogen. Sie war das Ergebnis und der Preis der sowjetischen Entspannungspolitik. Bei den Verhandlungen zum Berlin-Abkommen saß die DDR nicht am Tisch; und auch in den Absprachen zum Grundlagenvertrag hatte Moskau mehrfach zugunsten größerer Kompromißbereitschaft auf SED-Seite eingegriffen. Den Helsinki-Prozeß mit seinen verheerenden Folgen zu verhindern, stand nicht in der Macht der DDR. Die innenpolitischen Veränderungen jedoch, die Honecker durchsetzte und die die Krise und den Niedergang des DDR-Sozialismus einleiteten und bewirkten, ergaben sich großenteils direkt aus den genannten neuen außenpolitischen Konditionen. Ulbrichts Wirtschaftspolitik wäre unter solchen Bedingungen tatsächlich nicht fortführbar gewesen. Daß die SED-Führung dann Anfang der achtziger Jahre begann, aus der Not eine Tugend zu machen und durch allzu heftige Kungelei mit dem westdeutschen Imperialismus ihrerseits Moskau verstimmte, kann ihr auf Grund dessen kaum allzusehr verübelt werden.
V. Folgen und Ursachen des sowjetischen Eingehens auf die westliche Entspannungsstrategie
Richteten sich die Absichten Breshnews in der deutschen Frage auf das Aufgeben gesamtdeutscher Zielsetzungen und den Verzicht auf ideologische Auseinandersetzung, so ist die internationale Entsprechung hierzu: das Streben nach Bewahrung des Status quo und die Abkehr von allen weitergehenden sozialistischen Aufgaben; folglich also die Akzeptanz der Endgültigkeit des Kapitalismus innerhalb der ihm verbliebenen Besitzungen. Eben diese Umorientierung in den Zielen (nicht allgemein das Streben nach Zusammenarbeit und Friedenserhalt) ist der wesentliche Inhalt der östlichen "Entspannungspolitik".
Ferner ist klar, daß es sich bei dem Streit um die Ziele - Weltsozialismus oder Status quo, bzw. sozialistisches Einheitsdeutschland oder Verewigung der deutschen Zweistaatlichkeit - keineswegs um bloße Deklarationen für eine ferne Zukunftswelt handelte, sondern um sehr reale und konkrete Aufgaben, die es in der Gegenwart zu erfüllen galt. Eben in diesem Punkt schlug der außenpolitische Gegensatz zwischen Ulbricht und den Entspannungspolitikern in den innenpolitischen um. Denn der Verzicht auf die Propagierung des sozialistischen Endziels war keinesfalls das einzige und als solches auch nicht das wichtigste Zugeständnis, das die UdSSR im Rahmen der Entspannungspolitik einzugehen bereit war. Sehr viel wesentlicher waren jene die innere Politik der sozialistischen Länder unmittelbar beeinflussenden (und überdies einseitigen) Kompromisse, mit denen das Helsinki-Abkommen erkauft wurde, - und deren konsequente Folge es war, daß dem Sozialismus fortan ein Sieg im Systemwettbewerb unmöglich werden mußte. Diese Kompromisse, betrafen in erster Linie die sozialistische Ideologie, in zweiter Linie die Wirtschaftspolitik. Damit genau jene beiden Gebiete, auf die sich die internationale Klassenauseinandersetzung seit Herstellung des militärstrategischen Gleichgewichts konzentrierte. Sie erwiesen sich auf Dauer als tödlich.
Es ergibt sich die Frage, was den Sozialismus jener Tage veranlaßt hat, eine derartige Abkehr von seinen ursprünglichen Zielen und Aufgaben vorzunehmen. Zugrunde lag offenbar die Absicht, der neuen imperialistischen Entspannungsstrategie entgegenzukommen und durch Verzicht auf höher gesteckte Ziele sowie Anerkennung des kapitalistischen Lagers letzteres gleichfalls zur Akzeptanz des Status quo zu veranlassen. Es ging, könnte man sagen, darum, durch einen international verabredeten Burgfrieden (mit allen ideologischen etc. Konsequenzen) der Gefahr eines Dritten Weltkriegs entgegenzuwirken.
Nun läßt sich ja nicht leugnen, daß angesichts moderner, insbesondere atomarer, Waffentechnik die sozialistischen Staaten jener Zeit verpflichtet waren, sich um die Bewahrung des Weltfriedens mit höchster Kraftanstrengung zu bemühen. Die Frage ist nur, ob die opportunistische Entspannungspolitik tatsächlich ein dienliches, ja, auch nur ein mögliches Mittel zur Erreichung dieses Zwecks gewesen ist.
Die Entspannung hat, wie wir heute wissen, die Welt um keinen Deut sicherer, im Gegenteil, um sehr vieles gefährdeter gemacht. Ihre erste Phase endete mit dem Wiederaufleben des Kalten Krieges und der forcierten Hochrüstung zu Beginn der achtziger Jahre; in diesen neuerlichen Wettlauf trat der Sozialismus bereits geschwächt ein. Ihre zweite Phase (denn das Neue Denken war in Wirklichkeit nicht neu, sondern die konsequente Fortsetzung der Prinzipien des KSZE-Prozesses) führte zum Untergang des sozialistischen Weltsystems, damit zur Zerstörung des internationalen Kräftegleichgewichtes; sie zeitigte bereits in einem größeren Krieg und vielen drohenden oder schon im Gange befindlichen Bürgerkriegen erste Resultate.
Genau genommen lief das entspannungspolitische Konzept darauf hinaus, statt durch eine selbstbewußte, offensive Politik dem Weltimperialismus Zugeständnisse abzuringen, dessen Einlenken durch Zahmheit, durch Vorzeigen eigener Schwäche, durch eine Politik des Zurückweichens und der Annäherung an die Interessen des internationalen Finanzkapitals zu erreichen. Wie die Resultate zeigen, ist es auf der ganzen Linie gescheitert. Und dies nicht zufällig. Denn die Taktik war nicht neu, und, Burgfriedens-Angebote haben die sozialistische Bewegung bisher noch nie besonders weit gebracht. Wird die Bernsteinsche Prämisse akzeptiert: "Um etwas zu erreichen, bedürfen wir des Bündnisses mit der Bourgeoisie", muß auch sein Schluß nachvollzogen werden: Dieses Bündnis ist nur zu haben, wenn wir uns von der "revolutionären Phraseologie", lies: den sozialistischen Zielen verabschieden. Ist diese Bahn der Zugeständnisse erst betreten, bleiben zwangsläufig immer mehr Positionen auf der Strecke; am Ende steht die Kapitulation. Die Breshnew-Linie führte mit derselben Konsequenz zu Gorbatschow und zur Unterstützung des Golfkriegs, mit der einst die Bernstein-Linie zur Politik des 4. August und zu Noske geführt hatte.
Wenn eine theoretische These von der Geschichte nach Helsinki mit Nachdruck widerlegt wurde, dann die These vom Primat des Globalen gegenüber dem Klassenmäßigen. Denn die östlichen Entspannungspolitiker der siebziger Jahre folgten implizit bereits der Gorbatschowschen Annahme, friedliche Koexistenz ließe sich von den Fragen des Klassenkampfes trennen, ja müsse von ihnen getrennt werden. In der Tat ist der Friedenskampf keine spezifisch proletarische Aufgabe. Weil jedoch die Gesetze der Kapitalverwertung und der Kapitalakkumulation - unmittelbar oder vermittelter - sowohl die außenpolitische Aggressivität des Imperialismus als beispielsweise auch die Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt oder die Zerstörung der natürlichen Umwelt bewirken, ist die Lösung der sogenannten "globalen Probleme" - so auch der Frage des Weltfriedens - nur im politischen Klassenkampf möglich. Es ist nicht einmal eine besonders neue Erkenntnis, daß bestimmte Aufgaben, die ihrem abstrakten Inhalt nach keine sozialistischen sind, sich dennoch nur im Kampf der sozialistischen Kräfte verwirklichen lassen. Auf eine solche Beziehung hat bekanntlich bereits Lenin verwiesen anhand der bürgerlichen Revolution im zaristischen Rußland; später dann anhand der Losungen Frieden, Land und Brot. Sowohl Frieden als auch Land waren keine spezifisch proletarischen Forderungen, aber sie konnten nur im Kampf gegen, nicht durch Zugeständnisse an die kapitalistische Klasse erreicht werden; denn der kapitalistische Funktionsmechanismus, an den der Bourgeoisie bei Strafe ihres Untergangs gebunden ist, mußte ihre Realisierung verhindern. Wirklich dauerhafter Frieden ist nur unter der Voraussetzung des Weltsozialismus zu sichern; jeder Friedenskampf unter imperialistischen Bedingungen, der diese Perspektive aus dem Auge verliert, wird zwangsläufig inkonsequent.
Ulbrichts Gegenkonzept zu dem der Entspannung bestand einmal darin, durch ein glänzende wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der DDR, zudem durch geschickte Propaganda, auch im Westen bestimmte Teile der Bevölkerung anzusprechen; zweitens durch umsichtiges internationales Agieren vor allem bei Staaten Afrikas und Asiens, aber auch bei europäischen blockfreien Ländern einen gewissen Rückhalt zu gewinnen. Bei zudem striktem Erhalt der militärischen Gleichgewichts seitens der sozialistischen Staaten konnte so eine Position eigener Stärke aufgebaut werden, die den Westen zur Einhaltung gewisser Regeln der friedlichen Koexistenz zwingen mußte. Ulbrichts Außenpolitik hatte diesbezüglich beachtliche Erfolge errungen. (Es war ja nicht die Entspannungspolitik, die die Bonner Regierung zur Aufgabe der Hallstein-Doktrin veranlaßte, sondern der Umstand, daß die internationale Anerkennung der DDR insbesondere 1969/70 rasante Fortschritte machte.) Daß Ulbricht mit seinen anstrengenden und ehrgeizigen Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik nicht zuletzt politische Ziele verfolgte, wußte er oft genug zu erwähnen. Hier liegt auch der Grund weshalb Moskau auf seinen immer selbstbewußter vorgetragenen Anspruch, die DDR-Gesellschaft den anderen osteuropäischen Parteien und den Werktätigen Westeuropas als Vorbild und Modell zu empfehlen, mit wachsender Gereiztheit reagierte. So seltsam es klingen mag, aber ein blühender und über seine Grenzen hinaus anziehender Sozialismus - und die DDR war auf dem besten Wege, sich zu einem solchen zu entwickeln - mußte als Gefährdung der internationalen Burgfriedens-Politik erscheinen.
Denn es ist klar, daß ein solcher Sozialismus zwar geeignet sein konnte, das Weltfinanzkapital zur Mäßigung und zeitweiligen Akzeptanz des Status quo zu zwingen; über kurz oder lang mußte er jedoch einen Rückschlag der westlichen Politik in den Kalten Krieg mit allen seinen Auswirkungen hervorrufen. (Die imperialistische Entspannungspolitik verfolgte eben ganz andere als friedenspolitische Ziele.)
Breshnew hatte die wissenschaftlich-technische Revolution also keineswegs mißkannt oder in ihrer Bedeutsamkeit unterschätzt - er sah keinen Grund, sie höher zu schätzen. Zur Konservierung der bestehenden Weltlage, so ging die Rechnung ist nicht eine ökonomische oder wie immer geartete Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus vonnöten; was nötig und unabdingbar ist, ist die militärische Gleichstellung zwischen beiden Systemen. Um diese trug er denn auch geflissentlich Sorge. Der Sozialismus hat in all den folgenden Jahren unterbrechungslos vermocht, mit dem Imperialismus auf militärischem Gebiet gleichzuziehen; wenn aber eine Gesellschaft in einem Bereich zu technischen Höchstleistungen fähig ist und dennoch den Rest ihrer Wirtschaft verkommen läßt, dann nicht, weil sie es nicht besser kann, sondern weil sie es nicht besser können will.
Die Ursachen für die Annahme der Entspannungslüge durch die sozialistischen Staaten sind vielfältig. An erster Stelle ist ohne Frage der Sicherheitsaspekt zu nennen. Die Außenpolitik des sozialistischen Weltsystems in der Nachkriegszeit stand zunächst lange Zeit unter der Erwartung, über kurz oder lang müsse das Aufbrechen innerimperialistischer Widersprüche den antisozialistischen Block sprengen und dem Sozialismus damit eine günstige Ausgangslage zum Verfolg seiner außenpolitischen Ziele schaffen. Denn eine derart Konstellation, die man entsprechend zu fördern suchte, hätte die Position des Weltimperialismus erheblich geschwächt und den sozialistischen Staaten insbesondere erlaubt, zwischen den imperialistischen Fronten zu agieren. Diese Hoffnungen erhielten Nahrung durch die europäisch-amerikanischen Spannungen Mitte der sechziger Jahre. Nicht zufällig rückte das Frankreich de Gaulles eine Zeitlang in den zentralen Blickpunkt sowjetischer Außenpolitik. Auch die verschiedenen Ansätze der sowjetischen Führung, das Westberlin-Problem progressiv zu entschärfen, stützten sich auf die Annahme, den westdeutschen Imperialismus isolieren und an dieser Stelle ständiger Konfliktgefahren die Westmächte zum Einlenken bewegen zu können.
Alle diese Versuche waren letztlich fehlgeschlagen, ja schlimmer noch, während das imperialistische Weltsystem sich befähigt zeigte, eine stabile antisozialistische Koalition zu bilden, hatte die sozialistische Staatengemeinschaft ein wesentliches und maßgebliches Glied verloren: China. Die Auswirkungen des chinesisch-sowjetischen Konflikts auf die Außenpolitik der Sowjetunion können kaum überschätzt werden. Besonders unangenehm wurde die Situation für das Sowjetland, als China begann, seine äußere Isolierung zu überwinden und auf der internationalen Bühne offensiv zu agieren. Dadurch gewannen die Nordamerikaner genau jene Möglichkeit, um die sich die sowjetische Führung so angestrengt bemüht hatte: die Möglichkeit, die verfeindeten Blöcke im gegnerischen Lager gegeneinander auszuspielen. Und die nutzten sie weidlich. Termingerecht zu den Verhandlungen übers Berlin-Abkommen knüpfte Kissinger nähere Verbindungen zu Peking an.
Neben dem sicherheitspolitischen Aspekt, und diesem untergeordnet, mögen wirtschaftliche Fragen eine Rolle gespielt haben. Das sozialistische Weltsystem hatte das Rennen um die wissenschaftlich-technische Revolution in außerordentlich benachteiligter Stellung beginnen müssen. Selbstverständlich wäre der Rückstand bei entsprechender Kraftanstrengung und enger Kooperation im gesamten sozialistischen Wirtschaftsgebiet (sowie einer dem NÖS ähnlichen ökonomischen Struktur auch in den anderen sozialistischen Ländern) aufzuholen gewesen. Aber eine solche Kraftanstrengung auf sich zu nehmen, war gerade die sowjetische Führung immer weniger gewillt. (Das hatte bereits der XX. Parteitag der KPdSU deutlich gemacht.), Auch mag die unerwartete Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des Imperialismus Zweifel hinsichtlich der Möglichkeiten seiner Überwindung überhaupt geschürt haben. Überdies wurde die Entwicklung einer effizienten Arbeitsteilung innerhalb des RGW immer wieder durch das Ausscheren einzelner sozialistischer Staaten, die dem Werben des westlichen Kapitals mit Kredit und Wirtschaftshilfe aufsaßen, behindert. Nicht zuletzt barg ein hochgespannter Wirtschaftskurs, wie der Ulbrichtsche, gewisse innenpolitische Risiken. Die westliche Entspannungspolitik dagegen ließ die Hoffnung auf Kapital- und vor allem Technologietransfer größeren Ausmaßes keimen. Ein solcher Weg der Wirtschaftsmodernisierung, lockte und wäre auch unstrittig der bequemere gewesen. Nur lag es eben in der Logik der imperialistischen Ziele, daß er sich nicht als gangbar erweisen konnte.
Drittens schließlich haben stark bürokratisierte Staaten ohnehin eine gewisse Neigung, sich mehr und mehr auf die Konservierung des Bestehenden zu konzentrieren und die Zukunft dabei aus dem Auge zu verlieren. Eine solche Umorientierung erfolgt nicht zwangsläufig, wird jedoch durch die Existenz eines machtvollen und ausgedehnten Apparates - und einen solchen hatte sich die Sowjetunion auf Grund ihrer Geschichte in ungleich größerem Maße zulegen müssen als etwa die DDR - begünstigt.
VI. Resümee zur Geschichte des ersten sozialistischen Weltsystems
Mit der Entspannungspolitik wurde die Krise des Sozialismus eingeleitet, sein Untergang vorbereitet. Aber auch während der Niedergangsperiode - und obwohl sich die Krise insbesondere in den achtziger Jahren mehr und mehr verschärfte - blieben nicht unwesentliche Grundmomente einer sozialistischen Gesellschaft erhalten. Dies betraf insbesondere den Bereich der sozialen Sicherheit, aber nicht nur diesen. So war zum Beispiel das Bildungssystem der DDR auch in den letzten Jahren immer noch erheblich besser als etwa das westdeutsche. Andere gesellschaftliche Bereiche, in denen sich der Sozialismus sogar noch in seinem Niedergang dem Imperialismus überlegen zeigte, ließen sich nennen. Gerade in der DDR konnte trotz allem ein relativ hoher Lebensstandard gehalten werden. Der erzeugte gesellschaftliche Reichtum war zwar nicht üppig - und sehr viel geringer, als er bei einer anderen Politik hätte sein können -, aber er wurde in solcher Weise verteilt, daß in der DDR niemand so leben mußte wie das untere Bevölkerungsdrittel in den imperialistischen Metropolen. Die entscheidende Grundlage sozialistischer Politik, das Volkseigentum, bestand fort. Trotz vorherigem Niedergang war die Konterrevolution des Herbstes 1989 also ein gravierender, ein qualitativer gesellschaftlicher Rückschlag.
Zwei Grundthesen ergeben sich aus der Analyse der Entwicklung des vergangenen Sozialismus:
Erstens: Die Geschichte des ersten sozialistischen Weltsystems war in sich diskontinuierlich, das heißt am Ende brach nicht das zusammen, was im Beginn angelegt war; ähnlich der Geschichte der II. Internationale gab es einen inneren Wandlungsprozeß, der die Ursachen des letztlichen Niedergangs erst hervorgebracht hat.
Zweitens: Ebenfalls ähnlich der II. Internationale ist der vergangene Sozialismus nicht an einer Links-, sondern an einer Rechtsabweichung zugrunde gegangen. Der Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems geht zurück auf den wachsenden Einfluß und das letztliche Überhandnehmen opportunistischer Grundsätze in seiner Politik; eine Kontinuität verbindet nicht Stalin und Breshnew, sondern Breshnew und Gorbatschow.
Nicht der "Stalinismus" - der Opportunismus erweist sich als tödlich für die gewesene sozialistische Gesellschaftsordnung; nicht die marxistisch-leninistische Traditionslinie scheiterte, sondern wiederum und zum unzähligen Male die des alten Trade-Unionismus, die Bernsteins und Kautskys, die der reformistischen Sozialdemokratie.
VII. Der Gegenstalinismus und das Ringen der PDS um ihre programmatische Selbstfindung
Seit ihrem Entstehen auf dem Sonderparteitag im Dezember 1989 ist sich die PDS bestenfalls darüber einig, was sie nicht will. Nicht will sie sein wie ihre Vorgängerin, die SED, und nicht erstrebt sie einen Sozialismus, der mit dem in der DDR realisierten Gesellschaftssystem nähere Ähnlichkeiten aufweisen würde. Die Absage an die DDR-Tradition begann als Kampf gegen den "Stalinismus" und endete - nicht ohne Konsequenz - mit der Absage an den Sozialismus und der Hinwendung zur sozialdemokratisch-reformerischen Ideologie. Letztere trat zutage im berüchtigten Ja zur "deutschen Einheit", später dann in verschiedenen programmatischen Dokumenten: im Thesenentwurf der Grundsatzkommission vom Frühsommer 91 etwa, und nicht minder im derzeit diskutierten sogenannten Mehrheitsentwurf . Sollte letzterer (mit partiellen Änderungen) auf dem Programmparteitag im Januar 93 angenommen werden, hätte die PDS ihr Godesberg hinter sich.
Daß der Zusammenbruch des ersten realisierten Sozialismus auch die sozialistische Ideologie erschüttern mußte, ist an sich nicht verwunderlich. Insbesondere, da der Niedergang des wissenschaftlichen Sozialismus eben nicht erst mit dem Szenario der direkten Konterrevolution im Herbst 1989 begonnen hatte. Gorbatschows Kampf gegen das "alte Denken", der ja ein Kampf gegen die sozialistische Ideologie war, hat nicht wenig zur Zersetzung der letzteren beigetragen. Und der Boden für den offenen Revisionismus Gorbatschowscher Prägung war bereitet worden durch jenen verdeckten der die offizielle Theorieauslegung der Breshnew- und Honecker-Zeit beherrscht hatte. Will man streng verfahren, ist der Beginn einer Revision marxistischer Grundsätze bereits in der Ideologie des XX. Parteitages der KPdSU nachzuweisen. Zunehmender Revisionismus mußte jedoch zur Folge haben, daß auf die tatsächliche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus, entsprechend sich verändernden Weltgegebenheiten, fortan verzichtet wurde. Aus diesem Grund besteht gegenwärtig in der Tat ein deutlicher Erklärungsnotstand der sozialistischen Theorie in Bezug auf die neuen Erscheinungen im Imperialismus der zweiten Jahrhunderthälfte; erst recht im Bezug auf die Analyse des vergangenen Sozialismus, seiner Geschichte, der Gründe seines Untergangs. Das bedeutet nicht, daß die sozialistische Theorie diese Phänomene nicht auf den Begriff bringen könnte, es bedeutet lediglich, daß sie diese Inbegriffnahme bisher aus den genannten Gründen nicht geleistet hat. Solche Defizite aber bewirken naturgemäß, daß die Überzeugungskraft einer Ideologie schwindet. Andere, bürgerliche Erklärungsmuster erhalten die Möglichkeit, sich in die Lücken zu drängen - und nutzen sie. Befördert wurde die Aufnahme solcher Denkmuster durch die noch gegenwärtige Erinnerung an das erstarrte, von Verfallstendenzen gezeichnete Endstadium des vergangenen Sozialismus, ebenso durch das frische Bewußtsein seines hilflosen, geschwinden, scheinbar unaufhaltsamen Untergangs. Denn offiziell hatte sich diese Gesellschaft fast bis zu ihrem Ende auf die marxistisch-leninistische Weltanschauung als ihre geistige Basis berufen. Die Annahme, daß mit jener auch diese gescheitert sei, drängte sich auf.
Der Gegenstalinismus war in diesem Kontext lediglich eine Übergangsideologie, notwendig, um die vollständige Abkehr von den Grundlagen und der Begrifflichkeit des Marxismus vorzubereiten und einzuleiten. In den geschaffenen Freiraum trat - jetzt voll durchgesetzt und offen - dieselbe reformistische Ideologie, deren praktische Umsetzung die sozialistische Gesellschaft eben erst unter die Erde gebracht hatte. Und sie gab sich nun dreist als neuer, den veränderten Weltbedingungen angepaßter Lösungsansatz aus. Den Tiefpunkt dieser Entwicklung hatte die PDS vermutlich im Herbst 90/ Frühjahr 91 erreicht. Seither hat die schlichte alltägliche Erfahrung des innen- und außenpolitischen Gebarens des deutschen Imperialismus manchen Zweifel an marxistischen Positionen bereits wieder ausgeräumt. Auch die Gebrechen des vergangenen Sozialismus in seinem Niedergangsstadium werden durch das Erlebnis der kapitalistischen Restauration und ihrer sozialen Folgen mindestens relativiert. Unverhüllter Reformismus kommt heute kaum mehr an; ebensowenig eine hämisch pauschale Verwünschung des untergegangenen Sozialismus. Zweifellos kein anderer Grund als dieser hat bewirkt, daß das jetzt vorliegende "Mehrheitsprogramm" sich gegenüber dem vorherigen Thesenentwurf der Grundsatzkommission durch eine deutliche Zunahme antikapitalistischer Rhetorik auszeichnet. Aber es ist eben nur Rhetorik; an den sozialreformistischen Grundthesen hat sich nichts geändert.
Und diese Thesen werden sich mutmaßlich solange einer gewissen - begrenzten - Akzeptanz erfreuen, solange die erwähnten Erklärungsdefizite der sozialistischen Theorie nicht behoben sind, solange der Marxismus-Leninismus nicht durch wissenschaftliche Weiterentwicklung in die Lage versetzt ist, überzeugende Analysen der Entwicklungsvorgänge im Imperialismus und im Sozialismus seit den fünfziger Jahren vorzulegen. (Es gibt heute bereits Ansätze dafür; eine geschlossene Theorie existiert aber bisher nicht, und ihre Erarbeitung wird einen Zeitraum von wenigstens drei bis fünf Jahren erfordern.)
Gegenwärtig wäre es - trotz gemeinsamer antikapitalistischer Grundüberzeugung - für die Mehrheit der PDS-Mitgliedschaft kaum möglich, sich auf eine gemeinsame ideologische Grundlage zu einigen. Das bestätigt der bisherige Verlauf der Programmdebatte.2 Gerade die oft formulierte Forderung, das anzunehmende Programm auf einen engen Zeitraum zu beschränken, sich dabei auf ein konsensfähiges Minimum an politischen Inhalten für den Kampf hier und heute zu konzentrieren, - das heißt aber, statt eines Partei- vorerst ein Aktionsprogramm zu beschließen - spricht dafür. Ebenso die gleichzeitige Annahme dreier, in vielen Punkten einander ausschließender Thesenentwürfe auf der 2. Tagung des II. Parteitags. Solange dieser Zustand fortdauert - in so gravierenden Formen wie gegenwärtig fortdauert - sollte kein programmatischer Richtungsentscheid in der PDS durchgesetzt werden. Das Durchpeitschen der Programmdiskussion in einem dreiviertel Jahr - ein Zeitraum, in dem ein wirklicher theoretischer Klärungsprozeß unmöglich ist - birgt die Gefahr, daß der entscheidende Vorteil, über den die PDS augenblicklich im Gegensatz zu allen anderen linken Kräften in Deutschland verfügt - ihre mitgliedermäßige Stärke -, aufs Spiel gesetzt wird. Denn wer sich mit dem Programm seiner Partei nicht mehr identifizieren kann, wird sehr wahrscheinlich über kurz oder lang die entsprechende Konsequenz ziehen. Vernünftiger wäre es daher, der programmatischen Diskussion längere Zeit einzuräumen und sich vorerst auf einige Grundsätze für den politischen Kampf hier und heute zu einigen. Die Verfechter sozialdemokratischer Positionen haben freilich ihrerseits Ursache, auf einen baldigen Abschluß der Programmdebatte zu drängen. Denn die Chance reformistischer Ideen, sich in der Diskussion durchzusetzen, entwickelt sich umgekehrt proportional zur Gründlichkeit des theoretisch-programmatischen Verständigungsprozesses. Daher die Eile.
Andererseits ist klar, daß, wenn gegenwärtig ein Richtungsentscheid im allgemeinen als verfrüht anzusehen ist, ein Richtungsentscheid zugunsten einer endgültigen Sozialdemokratisierung der PDS im besonderen verheerende Folgen nach sich zöge. Denn dadurch würde der Bestand dieser Partei selbst nicht nur ihre mitgliedermäßige Stärke in Frage gestellt. Eine zweite Sozialdemokratie in Deutschland - auch eine mit etwas oppositionellerem Anstrich - ist überflüssig und wird sich nicht als maßgebliche politische Kraft profilieren können. Die sich anbahnenden sozialen und politischen Kämpfe vor allem im Osten Deutschlands, der aggressive Großangriff des Monopolkapitals seit dem Wegfall des sozialistischen Gegengewichts, nicht zuletzt die außenpolitischen Ambitionen des deutschen Imperialismus fordern dringend eine politische Kraft, die fähig und willens wäre, gegen diese Entwicklung wirklichen gesellschaftlichen Widerstand zu organisieren. (Daß weder Sozialdemokratie noch Gewerkschaften sich dieser Aufgabe annehmen werden, dürfte spätestens im letzten halben Jahr jedermann begriffen haben.) Auch perspektivisch bedarf es einer revolutionären Partei, weil nur sie in der Lage ist, die sozialistische Überwindung des Imperialismus zu propagieren, vorzubereiten und schließlich zu erkämpfen. Diesen im gesellschaftlichen System Ostdeutschlands nach wie vor unbesetzten Platz könnte - und müßte ihrem Anspruch nach die PDS einnehmen. Sie kann ihn aber auch verspielen.
VIII. Der Reformismus und das pluralistische Parteikonzept
Der Verzicht auf programmatische Festlegung kann allerdings für eine sozialistische Partei nur eine Übergangs- und keine Endlösung sein. Das muß betont werden, denn neben jenen reformistischen Theoretikern, die beabsichtigen, ihre Ideologie möglichst geschwind zur Parteiprogrammatik zu erheben, gibt es solche, die einen Verzicht auf Ideologie überhaupt, eine Entideologisierung der Politik, einfordern. Letztere Auffassung ist vom Standpunkt des pluralistischen Parteikonzepts eigentlich die einzig konsequente. Der Mehrheitsentwurf, was immer er sei, pluralistisch ist er nicht. Angetreten war die PDS mit dem Anspruch, ein Sammelbecken für, die verschiedenen linken Richtungen von der kommunistischen bis zur sozialdemokratischen - zu werden und damit einen Ausweg aus der unerfreulichen Zersplitterung der linken Kräfte in Deutschland anzubieten. Dieses pluralistische Parteiverständnis gehört gegenwärtig wahrscheinlich zu den wenigen in der PDS von breiter Mehrheit akzeptierten Grundsätzen. Man könnte es sich leicht machen und gegen die Annahme des vorliegenden Mehrheitsentwurfes im Namen des Pluralismus fechten.
Der Streit für eine richtige Sache mit falschen Argumenten (weil die richtigen unpopulär sind) pflegt sich allerdings zu rächen. Irgendwann gerät der Streiter in Argumentationsnot. Deshalb sei gleich vorweg betont: das pluralistische Parteikonzept ist selbstverständlich mit einer konsequent sozialistischen Politik ebenso unvereinbar wie das sozialdemokratische, es ist ja genau besehen nur eine Spielart desselben.
Denn eine Politik, die darauf gerichtet ist, nicht allein innerhalb der bestehenden, als gegeben vorausgesetzten Verhältnisse zu wirken, sondern sie, das heißt die kapitalistische Ordnung, überwinden soll, bedarf zwangsläufig der theoretischen Einsicht in die realen Bewegungsgesetze dieser Gesellschaft. Weil die gesellschaftliche Realität aber als in sich zusammenhängende Totalität funktioniert, ist sie auch nur durch ein in sich geschlossenes, ganzheitliches Weltbild adäquat erfaßbar, nicht durch das abstrakte Nebeneinander verschiedener Weltbilder. Die Wahrheit ist in sich konkret, das heißt eine Einheit unterschiedener, ja einander entgegengesetzter Bestimmungen - aber es ist eine Wahrheit, das heißt die gegensätzlichen Bestimmungen stehen im Zusammenhang, sie sind auseinander ableitbar; (hier liegt der entscheidende Unterschied zum Eklektizismus und dessen willkürlicher Einheit des abstrakten "Sowohl-als-Auch"). Der Marxismus kommt nicht umsonst aus der Hegelschule. Dialektik und der Anspruch ganzheitlicher Weltsicht, das heißt aber: einer wissenschaftlichen Weltanschauung, gehöre untrennbar zusammen. Außerdem bedarf es bereits zur Propagierung, erst recht zur Durchsetzung eines revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus einer relativ klaren Vorstellung von der Beschaffenheit der sozialistischen Alternative. Ohne sie wird sozialistische Politik nicht überzeugend sein.
Hingegen ist eine lediglich auf partielle Verbesserungen im Rahmen vorausgesetzter gesellschaftlicher Mechanismen gerichtete Politik durchaus auf der Basis nur sehr beschränkter Einsicht in die Funktionsweise dieser Mechanismen, also mit falschem Bewußtsein, möglich. Der Verzicht auf Theorie bei der Festlegung der aktuellen Politik, die Entideologisierung der Politik, bedeuten daher: Verzicht auf die Erarbeitung einer langfristigen, realistischen Strategie, Verlust jeder Verbindung zwischen den Tageskämpfen hier und heute und der Zielstellung einer sozialistischen Gesellschaft - folglich implizite Umorientierung der Partei auf Kapitalismus immanenten Reformismus.
Nun wird die Absage an Reformismus gern als Absage an Reformen verstanden. Insofern scheint ein Exkurs über das Verhältnis von Reform und Revolution nicht unnötig. Unstrittig ist oder sollte sein: ohne vorherigen systemimmanenten Kampf, der die kämpfende Klasse schult und die Herausbildung von Klassenbewußtsein erst ermöglicht, kann auch eine revolutionäre Lage, so sie denn eintritt, nicht erfolgversprechend genutzt werden. Was den Revolutionär vom Reformisten unterscheidet ist, daß ersterer den Reformkampf nicht als Selbstzweck begreift, sondern eben als Vorbedingung und Vorbereitung des schließlichen Systemwechsels. Diese Vorbereitungs-Funktion bezieht sich vor allem auf den subjektiven Faktor. Nur der politische Kampf auf dem Boden des Kapitalismus vermag die nötigen organisatorischen und ideellen Bindungen zwischen der Arbeiterklasse und ihrer politischen Organisation herauszubilden.
Eine Beziehung zwischen Reform und Revolution existiert aber auch noch im umgekehrten, im rückwirkenden Sinne. Nicht nur ist die Revolution undurchführbar ohne vorherigen systemimmanenten Kampf; ein konsequenter, kompromißloser Kampf innerhalb des Kapitalismus ist ebensowenig möglich, wenn das letztliche Ziel, die Überwindung dieser Gesellschaftsordnung, aus den Augen verloren wird. Denn eine Partei, die ihren Handlungsspielraum auf die kapitalistische Ordnung beschränkt, neigt dazu, sich über kurz oder lang - und in der Tat meist schon über kurz - den Spielregeln und Bewegungsgesetzen dieser Gesellschaft, damit aber auch dem Wünschen und Wollen der in ihr herrschenden Klasse, anzupassen. Auf diesen Zusammenhang hat bekanntlich schon Rosa Luxemburg verwiesen. Er wird durch die Geschichte der sozialdemokratischen Parteien nachdrücklich bestätigt. Es gibt eben eine immanente Entwicklungslogik, der jeder Reformismus unterliegt.
Der wissenschaftliche Sozialismus (in entsprechender zeitgemäßer Weiterentwicklung) ist eine der größten Stärken, über die die sozialistische Bewegung im Kampf gegen die sonst in vieler Hinsicht überlegenen bürgerlichen Kräfte verfügt. Die Rückkehr von der Wissenschaft zur Utopie, die die Verfechter des Pluralismus empfehlen, ist daher der Weg in die selbsterwählte Ohnmacht und freiwillige Handlungsunfähigkeit. Dem real existierenden Kapitalismus muß schon ein realer, das heißt wissenschaftlich ableitbarer Sozialismus entgegengestellt werden. Die Reduktion des sozialistischen Ziels auf bloße Ideale und Visionen bedeutet nichts anderes als die verschämte Anerkennung der Unerschütterlichkeit kapitalistischer Verhältnisse in der Realität. Daher war und ist programmatischen Pluralismus immer die Basis einer reformistischen, nie einer revolutionären Politik. Auch die Position der Entideologisierung erweist sich so als eine Ideologie, und nicht als eine fortschrittliche. (Insofern ist es nicht inkonsequent, daß ausgerechnet das Godesberg-nahe Mehrheitsprogramm den Pluralismus auf seine Fahnen schreibt.)
IX. Ausblick
Da eine reformistische und opportunistische Politik nachweislich die Ursache für den Verfall und letztlichen Untergang des ersten realen Sozialismus darstellt, scheint es grotesk, wenn maßgebliche Kreise der PDS-Führung ausgerechnet in der Wiederbelebung sozialdemokratischer Ideen einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der sozialistischen Bewegung sehen. Der Ausweg aus einer Sackgasse läßt sich gemeinhin nicht dadurch finden, daß man den Lauf in die ausweglose Richtung mit beschleunigtem Tempo fortsetzt. Nichts anderes tut indes, wer heute reformistische Theorie und Politik verficht. Wer sich unterscheiden will von der SED des VIII. Parteitags, von der SED der siebziger und achtziger Jahre, erst recht von jener SED, die im Herbst 89 die Gegenrevolution durch eigene Handlungen einleitete und tatkräftig unterstützte (bis ihre Stützung nicht mehr vonnöten war), der sollte dies durch Marxismus, nicht durch Opportunismus tun. Denn mit letzterem steht mancher gerade in der Tradition, die er so gern verleugnet.
Anmerkungen:
1 Wie in den WBl oft wird der Begriff "Ideologie" auch im folgenden wertneutral im Sinne von Begriffssystem und nicht pejorativ lediglich für "falsches Bewußtsein" verwendet. - Red. WBI.
2 Ich gehe hier von den vorliegenden Zuschriften an den PV und von meinen eigenen Erlebnissen auf Diskussionsveranstaltungen von Basis- und Kreisorganisationen aus; - der Einwand, daß diese nicht repräsentativ für die Gesamtpartei sein müssen, kann freilich er hoben werden.
Quelle: Weißenseer Blätter, 4/1992, S. 12-26